Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.11.2010, Az.: 11 LB 481/09
Zulässigkeit einer Regelausweisung gegenüber einem als Minderjähriger ins Bundesgebiet eingereisten Ausländer mit Besitz einer Niederlassungserlaubnis; Auslegung der Regelungssystematik und Verhältnis von § 56 Abs. 1 und Abs. 2 Aufenthaltsgesetz (AufenthG); Annahme eines Ausnahmefalls von der Regel des § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG für sogenannte Ausländer der zweiten Generation mit der Folge einer Ermessensausweisung; Zulässigkeit einer erstmaligen Ermessensausweisung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren bei einer Änderung der Sach- oder Rechtslage oder der Rechtsprechung während des Verfahrens
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 25.11.2010
- Aktenzeichen
- 11 LB 481/09
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 28314
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1125.11LB481.09.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Stade - 04.05.2009 - AZ: 6 A 10/08
Rechtsgrundlagen
- § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG
- § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG
- § 56 Abs. 1 S. 4 AufenthG
- § 56 Abs. 2 S. 3 AufenthG
- § 59 Abs. 5 AufenthG
- § 114 S. 2 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Zur Unzulässigkeit einer Regelausweisung gegenüber einem volljährigen Ausländer, der im Alter von zwei Jahren ins Bundesgebiet eingereist ist und - bis zu seiner Ausweisung - im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, und zur Unzulässigkeit der erstmaligen (hilfsweisen) Ausübung von Ermessen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen seine Ausweisung.
Er verfügt über keine gültigen Personalpapiere und gibt an, 1983 in Beirut (Libanon) geboren zu sein; seine Staatsangehörigkeit ist ungeklärt. Entgegen des Vortrages des Klägers haben Angehörige, d.h. Eltern und Geschwister, vor ihrer jeweiligen Einbürgerung zum Teil libanesische Pässe vorgelegt, was dafür spricht, dass auch der Kläger libanesischer Staatsangehöriger ist.
Er reiste im November 1985 zusammen mit seinen Eltern und zwei Geschwistern ins Bundesgebiet ein und stellte mehrere erfolglos gebliebene Asylanträge. Aufgrund einer niedersächsischen Bleiberechtsregelung wurde ihm erstmals im Oktober 1991 eine befristete Aufenthaltsbefugnis erteilt und nachfolgend mehrfach verlängert. Am 24. Januar 2000 erhielt der Kläger schließlich eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, die nach dem Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes als Niederlassungserlaubnis fort galt.
Ab dem Jahr 1999 fiel der Kläger durch eine Vielzahl von Straftaten negativ auf. Auch die Verhängung von jugendrechtlichen Freizeit- und Dauerarresten hielt ihn nicht von der Begehung weiterer Straftaten ab, so dass er durch Urteil des Amtsgerichts B. vom 27. März 2003 wegen Diebstahls im besonders schweren Fall in sechs Fällen, davon in fünf Fällen gemeinschaftlich und in einem Fall tateinheitlich mit Bedrohung, sowie wegen Hausfriedensbruchs in Tateinheit mit Beleidigung in zwei Fällen zu einer Jugendstrafe von 21 Monaten verurteilt wurde; die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Unter Einbeziehung dieses Urteils wurde der Kläger durch Urteil des Amtsgerichts C. vom 4. Februar 2004 wegen teilweise gemeinschaftlich begangenen schweren (gewerbsmäßigen) Diebstahls in drei Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Jugendstrafe wurde zunächst nochmals zur Bewährung ausgesetzt; diese Strafaussetzung zur Bewährung wurde jedoch mit Beschluss des Amtsgerichts B. vom 21. August 2007 widerrufen. Ausschlaggebend hierfür war, dass der Kläger im April 2005 erneut straffällig geworden und deshalb durch Urteil des Landgerichts B. vom 8. November 2006 wegen gemeinschaftlichen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden war.
Der Kläger stellte sich der Strafhaft zunächst nicht, sondern wurde erst aufgrund eines Haftbefehls im August 2007 festgenommen und der Justizvollzugsanstalt zur Strafvollstreckung überstellt. Dabei wurde er für eine Unterbringung im offenen Vollzug als ungeeignet eingestuft, da er sich nicht zum Strafantritt gestellt hatte, eine Fluchtgefahr nicht auszuschließen war und eine erhebliche Suchtgefahr bestand. In dem Urteil des Landgerichts B. vom November 2006 war insoweit ausgeführt worden, dass der Kläger seit seinem 20. Lebensjahr Haschisch und seit seinem 21. Lebensjahr Kokain zu sich nehme. Auch in der Justizvollzugsanstalt ergaben sich jedenfalls noch im September 2007 nach einer Urinkontrolle Hinweise auf einen fortgesetzten Drogenmissbrauch. Der Kläger verbüßte zunächst einen Teil der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom November 2006 und im Anschluss daran Teile der Jugendstrafe aus dem Urteil vom Februar 2004. Seinen Antrag, die weitere Vollstreckung der Jugendstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts C. nach Verbüßung der Hälfte der Strafe auszusetzen, lehnte das Amtsgericht D. mit Beschluss vom 7. November 2008 ab. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Kläger nach dem bisherigen Vollzugsverlauf auch nicht ansatzweise bereit sei, sich an geltende Regeln zu halten und an der Erreichung des Vollzugsziels mitzuarbeiten. Die dagegen eingelegte Beschwerde wurde durch Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 3. Dezember 2008 verworfen. Mit Beschluss vom 13. März 2009 wurde allerdings der noch verbleibende (ein Drittel) Rest der noch nicht vollstreckten Jugendstrafe mit Wirkung ab dem 14. April 2009 zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Zur Begründung wurde angeführt, dass der Kläger sich nach der Ablehnung seines "Halbstrafenantrages" im Wesentlichen beanstandungsfrei geführt und an der Erreichung des Vollzugsziels mitgearbeitet habe. Er scheine glaubhaft entschlossen zu sein, seine Drogenprobleme mit Hilfe einer stationären Therapie in den Griff zu bekommen. Die Kammer halte deshalb das Risiko, das in der Strafaussetzung liege, für innerhalb des gesetzlichen Rahmens des § 57 StGB liegend. Dem Kläger wurde die Weisung erteilt, sich unmittelbar nach der Entlassung in eine stationäre Drogentherapie in einer Klinik in E. zu begeben. Zum gleichen Zeitpunkt, d.h. mit Wirkung ab dem 14. April 2009, wurde gemäß § 35 BtMG auch die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts B. vom November 2006 für längstens zwei Jahre zurückgestellt, um dem Kläger eine stationäre Behandlung seiner Drogenabhängigkeit zu ermöglichen. Er wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass im Falle des Abbruchs der Behandlung oder des Erlasses einer weiteren Freiheitsstrafe die Zurückstellung gemäß § 35 Abs. 5 BtMG widerrufen werde. In der Zeit vom 14. April bis zum 19. August 2009 hielt sich der Kläger in einer Entziehungsklinik in E. auf. Von der Klinik wurde der Therapieverlauf positiv bewertet; wegen der Einzelheiten wird auf den Bericht vom 25. August 2009 Bezug genommen. Mit Beschluss des Landgerichts B. vom 28. September 2009 wurde dann auch die Vollstreckung des Strafrestes aus dem Urteil des Landgerichts B. vom 8. November 2006 zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Auch insoweit wurde der Kläger darauf hingewiesen, dass er den Widerruf der Strafaussetzung zu erwarten hat, wenn er innerhalb der Bewährungszeit eine Straftat begeht, einen Wohnsitzwechsel nicht anzeigt oder den weiteren Auflagen und Weisungen nicht nachkomme, insbesondere sich des Konsums illegaler Drogen zu enthalten und regelmäßig Gespräche beim VSM B. - einer Beratungsstelle für Suchtkranke - zu führen.
Dass der Kläger seinen im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erfolgten Wohnungswechsel dem Strafgericht angezeigt hätte, ist den beigezogenen Strafakten allerdings nicht zu entnehmen. Im Übrigen ist gegen ihn zwischenzeitlich in zwei weiteren Verfahren Anklage erhoben worden, und zwar jeweils wegen gemeinschaftlich begangener (gefährlicher) Körperverletzung am 12. Dezember 2009 und 14. März 2010 in B., wobei die betroffenen Opfer jeweils u.a. Nasenbeinbrüche erlitten. Ein Hauptverhandlungstermin in beiden Verfahren steht noch aus und ist nunmehr für den Dezember 2010 und den Februar 2011 vorgesehen. Nach dem letzten hier vorliegenden Bericht der Bewährungshelferin vom 6. September 2010 gestalte sich die Zusammenarbeit mit dem Kläger unproblematisch; wegen der Einzelheiten wird auf den Bericht nebst Anlagen verwiesen. Einem Drogenscreening habe sich der Kläger "wegen seiner Montagetätigkeit aus Zeitgründen" jedoch bislang nicht unterzogen. Für den Termin zur mündlichen Verhandlung des Senats hatte er das Ergebnis eines solchen Screenings angekündigt, tatsächlich aber nicht vorgelegt.
Zu den persönlichen Verhältnissen des Klägers ist weiterhin anzuführen, dass er im Jahr 1999 die Sonderschule mit einem Abgangszeugnis ohne Abschluss verlassen hat. Bis zur Vollendung seiner Schulpflicht besuchte er nur periodisch berufsbildende Schulen. Danach ist er bis zu seiner Inhaftierung keiner geregelten Beschäftigung nachgegangen. Er verfügt über keinen Ausbildungsabschluss und hat auch in seiner Haftzeit an keiner schulischen oder beruflichen Bildungsmaßnahme teilgenommen. Vom September bis Dezember 2009 war der Kläger für eine Zeitarbeitsfirma tätig, bei der er seit Ende April 2010 erneut unbefristet - als Produktionshelfer - beschäftigt ist. Der Kläger wohnt allein. Im Raum B. leben offenbar auch seine Eltern und weitere Geschwister. Inwieweit eine früher vom Kläger geltend gemachte Beziehung zu einer im Raum F. lebenden Freundin (mit deutscher Staatsangehörigkeit) noch besteht, ist unklar. Jedenfalls hat der Kläger hierzu aktuell nichts vorgetragen.
Nach vorhergehender Ermahnung und Anhörung des Klägers wies der Beklagte den Kläger mit dem hier umstrittenen Bescheid vom 29. November 2007 aus und drohte ihm gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG die Abschiebung aus der Haft in den Libanon oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Drittstaat an. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass der Kläger den Ist-Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt habe. Denn er sei durch die vorgenannten Urteile des Amtsgerichts C. vom 4. Februar 2004 und des Landgerichts B. vom 8. November 2006 innerhalb von fünf Jahren rechtskräftig zu zwei Freiheits- bzw. Jugendstrafen von zusammen mehr als drei Jahren verurteilt worden. Dem Kläger stehe jedoch gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonderer Ausweisungsschutz zur Seite, da er bereits als Minderjähriger in das Bundesgebiet eingereist und seit Januar 2000 im Besitz eines unbefristeten Aufenthaltstitels sei. Aus diesem Ausweisungsschutz ergäben sich zwei Privilegien: Zum einen sei die Ist- zu einer Regelausweisung abgestuft. Zum anderen käme eine Ausweisung nur beim Vorliegen von schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Betracht. Letzteres sei in den Fällen des§ 53 AufenthG - wie hier - in der Regel der Fall. Eine Ausweisung sei danach auch unter Berücksichtigung der vorgenannten Privilegierungen "grundsätzlich zwingend zu verfügen und stehe nicht im Ermessen der Ausländerbehörde". Ein Ermessensspielraum stehe der Ausländerbehörde nur dann zu, wenn ein Ausnahmefall vorliege. Vorliegend seien jedoch keine besonderen Umstände gegeben, die ein Abweichen vom Regelausweisungstatbestand rechtfertigen könnten. "Auch mit Blick darauf, dass bei der Entscheidung über die Ausweisung gemäß § 55 Abs. 3 AufenthG die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts, die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers ... zu berücksichtigen seien", ergäbe sich keine andere Entscheidung, wie im Einzelnen ausgeführt wurde. Dass der Kläger - zum damaligen Zeitpunkt - eine der Rehabilitation dienende Drogentherapie anstrebe, sei bei einer Ist-Ausweisung gemäߧ 53 AufenthG im Gegensatz zu einer Ermessensausweisung nach § 55 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG nicht maßgeblich zu berücksichtigen. Auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit komme nach Abwägung aller Gesichtspunkte nur die Ausweisung des Klägers in Betracht.
Nach Zustellung dieses Bescheides am 4. Dezember 2007 hat der Kläger am 3. Januar 2008 den Verwaltungsrechtsweg beschritten und - nach noch rechtzeitiger Reaktion auf eine Betreibensaufforderung -
beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 29. November 2007 aufzuheben.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 4. Mai 2009 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger den Ausweisungsgrund des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt habe, indem er innerhalb von fünf Jahren zu den beiden o. a. letzten Jugend- bzw. Freiheitsstrafen verurteilt worden sei. Denn der danach maßgebliche Zeitraum von fünf Jahren beziehe sich jeweils auf die Tage, an denen die maßgeblichen strafgerichtlichen Verurteilungen rechtskräftig geworden seien. Unerheblich sei hingegen, wie lange die Verurteilungen und die den Verurteilungen zu Grunde liegenden Taten zurücklägen und ob ein Urteil aus dem maßgeblichen Zeitraum zunächst zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genieße der Kläger zwar besonderen Ausweisungsschutz. Dies führe aber nicht zu einem für ihn günstigeren Ergebnis. So lägen die nach § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG für seine Ausweisung erforderlichen schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Dies ergebe sich schon aus der Erfüllung des Ausweisungstatbestandes des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AuslG. Im Hinblick auf die Biografie des Klägers ergebe sich weder spezial- noch generalpräventiv insoweit ein Ausnahmefall, was eingehend begründet worden ist. Die indiziell zu berücksichtigende Aussetzung der jeweiligen Strafreste zur Bewährung führe insoweit zu keiner für den Kläger günstigeren ausländerrechtlichern Prognose. Auch eine Ausnahme im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG sei nicht gegeben. Weder der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG noch der sich aus Art. 8 EMRK ergebende Schutz des klägerischen Privatlebens stünden der Ausweisungsverfügung entgegen. Insbesondere sei dem Kläger eine Integration in die hiesigen Verhältnisse nicht gelungen, wie schon die Vielzahl der von ihm begangenen Straftaten zeige. Ein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG liege auch nicht im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Abstufung einer Regel- zu einer Ermessensausweisung für die Gruppe der im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländer vor. Das ergebe sich auch aus § 56 Abs. 2 AufenthG. Selbst wenn man dem nicht folge, so habe sich der Beklagte in seinem Bescheid mit den Anforderungen des § 55 Abs. 3 AufenthG ausdrücklich näher auseinandergesetzt, insoweit sein Ermessen ausgeübt und in der mündlichen Verhandlung zulässigerweise ergänzt. Dem Kläger sei schließlich nach Maßgabe des § 59 AufenthG zu Recht auch die Abschiebung angedroht worden.
Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 29. September 2009 die Berufung zugelassen und zur Begründung ausgeführt, dass ernstlich zweifelhaft sei, ob vorliegend eine Regelausweisung habe erfolgen dürfen und ob das anderenfalls notwendige Ermessen vom Beklagten zutreffend erkannt und vollständig ausgeübt worden sei.
Nach Zustellung dieses Beschlusses an den Kläger am 6. Oktober 2009 hat er am 5. November 2009 die Berufung begründet und sich im Kern darauf berufen, dass eine Ausweisung des Klägers nur nach Ausübung von Ermessen möglich gewesen sei, eine solche Ermessensentscheidung hier aber auch hilfsweise nicht erfolgt sei. Im Übrigen sei heute auch eine Ermessensausweisung des Klägers nicht mehr zulässig. Es fehle an der erforderlichen Wiederholungsgefahr. Soweit gegen den Kläger gegenwärtig weitere Anklagen zur Hauptverhandlung zugelassen worden seien, dürften diese Anklagen ausländerrechtlich frühestens nach einer strafgerichtlichen Verurteilung berücksichtigt werden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 6. Kammer (Einzelrichterin) - vom 4. Mai 2009 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 29. November 2007 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist der Anregung des Senats, eine Aufhebung des Regelausweisungsbescheides und den Neuerlass einer Ermessensausweisung zu prüfen, nicht gefolgt. Er meint stattdessen, bereits in seinem Ausgangsbescheid vom 29. November 2007 zumindest hilfsweise Ermessen ausgeübt zu haben, indem er die persönlichen Interessen des Klägers mit den gegenläufigen öffentlichen Interessen abgewogen und ausdrücklich auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet habe. Selbst wenn man dem nicht folge, so sei er aber doch jedenfalls ausnahmsweise aufgrund der Sondersituation nach der Änderung der materiellen Vorgaben durch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2007 berechtigt, nunmehr erstmals im gerichtlichen Verfahren Ermessen auszuüben. Hiervon mache er (mit Schriftsatz vom 9. März 2010) Gebrauch, indem er seine Ausführungen aus dem Bescheid zur Verhältnismäßigkeit der getroffenen Ausweisung ausdrücklich als Ermessensausübung aufrechterhalte und im Hinblick auf die nachfolgende zeitliche Entwicklung ergänze. So könne beim Kläger mangels objektiver Überprüfung bislang nicht von einer erfolgreich abgeschlossenen Drogentherapie ausgegangen werden. Im Übrigen sei selbst im Falle eines solchen Erfolges die Rückfallgefahr bei ehemals drogenabhängigen Straftätern - wie dem Kläger - erheblich. Unverändert habe deshalb insbesondere auch aus generalpräventiven Gründen das Interesse des Klägers, in Deutschland bleiben zu können, hinter dem staatlichen Interesse an seiner Ausweisung zurückzustehen. Die weiterhin mangelnde Bereitschaft des Klägers, sich an für ihn nachteilige Regeln der Rechtsordnung zu halten, komme auch darin zum Ausdruck, dass er sich bis heute nicht um den Erhalt gültiger libanesischer Ausweispapiere bemüht habe, und werde schließlich auch durch die zwischenzeitlich erneuten Anklageerhebungen wegen gefährlicher Körperverletzungen unterstrichen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts ist auch in der Sache begründet. Die Ausweisung des Klägers hätte vorliegend nur als sog. Ermessensausweisung erfolgen dürfen. Dies ist jedoch zu Unrecht nicht geschehen, so dass der Bescheid des Beklagten vom 29. November 2007 rechtswidrig ist, den Kläger in seinen Rechten verletzt und deshalb aufzuheben ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Im Einzelnen ergibt sich dies aus folgenden Erwägungen:
Die Beteiligten gehen (im Berufungsverfahren) zutreffend davon aus, dass der Kläger den Ist-Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG verwirklicht hat, jedoch bis zu seiner Ausweisung im Besitz einer Niederlassungserlaubnis war, sich zuvor mehr als fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hatte und somit besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG genießt. Nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG wird ein Ausländer mit einem entsprechenden Ausweisungsschutz, wenn er - wie hier - einen Ist-Ausweisungstatbestand des§ 53 AufenthG verwirklicht hat, in der Regel ausgewiesen.
Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10/07 -, BVerwGE 129, 367 ff.), der der Senat folgt (vgl. etwa Urt. v. 11.8.2010 - 11 LB 425/09 -, [...]), ist wegen der insoweit nach Maßgabe höherrangigen Rechts gebotenen individuellen Prüfung ein solcher Ausnahmefall im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG grundsätzlich für sog. Ausländer der zweiten Generation anzunehmen, d.h. für solche, die entweder bereits im Bundesgebiet geboren sind oder - wie der Kläger - als Kleinkind in das Bundesgebiet eingereist sind und hier seitdem rechtmäßig gelebt haben. Es besteht im vorliegenden Fall auch kein Anlass der Frage abschließend nachzugehen, inwieweit ein solcher Ausnahmefall bei hier geborenen oder zumindest seit dem Kleinkinderalter lebenden Ausländern der zweiten oder gar einer folgenden Generation unabhängig vom erreichten Stand der Integration stets anzunehmen ist, obwohl der Personenkreis der in dieser Weise begünstigten Ausländer vom Bundesverwaltungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung lediglich typologisch umschrieben, nicht aber abschließend normativ bestimmt worden ist. Eine "Rückausnahme" käme jedenfalls nach dem Sinn und der Zweck der neueren Rechtsprechung, die gebotene Würdigung des Einzelfalles zu ermöglichen, allenfalls dann in Betracht, wenn auf den ersten Blick erkennbar gleichsam alle wesentlich zu berücksichtigenden Umstände gegen den betroffenen Ausländer sprechen. Hiervon kann vorliegend jedoch schon deshalb nicht ausgegangen werden, weil der Kläger gegenwärtig seinen Lebensunterhalt eigenständig sichert und seine noch offenen Jugend- und Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt sind.
Ist somit ein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gegeben und deshalb vorliegend nur eine Ermessensausweisung des Klägers möglich, so ergibt sich eine abweichende Beurteilung auch nicht aus der Sonderregelung des § 56 Abs. 2 AufenthG.
Dem Wortlaut nach ist diese Bestimmung auf die vorliegende Konstellation schon deshalb nicht anzuwenden, weil sie sich auf die besondere Situation der Ausweisung von minderjährigen oder heranwachsenden Ausländern bezieht, insoweit auf ihr Lebensalter im Zeitpunkt des Erlasses des Ausweisungsbescheides abzustellen ist (vgl. nur Hailbronner, AuslR, § 56 AufenthG, Rn. 67, m.w.N.), der Kläger aber im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Ausweisungsbescheides im November 2007 mindestens bereits 23 Jahre und damit nicht einmal mehr "heranwachsend" gewesen ist. Denn "heranwachsend" ist ein junger Erwachsener nach der insoweit maßgeblichen Einstufung des § 1 Abs. 2 JGG, der zwar das 18., aber noch nicht das 21. Lebensjahr vollendet hat.
Schon nach der Systematik sowie dem Sinn und Zweck des § 56 Abs. 2 AufenthG kann aus ihm auch nicht im Wege des "Erstrechtschlusses" eine Einschränkung des Ausweisungsschutzes nach Maßgabe des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG entnommen werden. Dies geht schon deshalb nicht, weil sich weder dem Wortlaut noch der - nicht widerspruchsfreien - Systematik des § 56 Abs. 2 AufenthG für den darin unmittelbar betroffenen Personenkreis ein solcher Schluss entnehmen lässt. Ursprünglich enthielt § 56 Abs. 2 AufenthG nämlich ausschließlich eine Privilegierung für Heranwachsende und Minderjährige gegenüber Erwachsenen, wie sich aus dem Regelungsinhalt der Sätze 1 und 2 ergibt. Sie sollten nämlich unabhängig von der Schwere der von ihnen begangenen Straftaten anders als Erwachsene stets nur nach Ermessen, d.h. unter Berücksichtigung des Einzelfalls, ausgewiesen werden können (Satz 1). Für Minderjährige sollte eine Ausweisung nach Maßgabe des Satz 2 überhaupt nur in den Fällen des § 53 (nach Ermessen) zulässig sein. Die Privilegierung nach Satz 1 ist dann durch den nachträglich, nämlich durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19. August 2007 (BGBl. I S. 1970, 1982) eingefügten Satz 3 wiederum eingeschränkt worden, wonach sie u.a. für einen heranwachsenden Serientäter nicht mehr gelten soll. Rechtsfolge ist dann nach der gesetzlichen Systematik aber nur, dass auch ein heranwachsender Serientäter wie ein Erwachsener, nicht aber schlechter als ein solcher behandelt wird. Wenn jedoch - wie dargelegt - auch für einen erwachsenen Ausländer "der zweiten Generation" über das vorgenannte neue Verständnis des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gilt, dass er - wenn er besonderen Ausweisungsschutz genießt - nur im Wege des Ermessens ausgewiesen werden kann, so gilt dies eben auch für den unmittelbar von § 56 Abs. 2 einschließlich dessen Satz 3 AufenthG betroffenen Personenkreis der minderjährigen oder heranwachsenden Ausländer (im Ergebnis jedenfalls für die hier betroffene, durch die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geschützte Personengruppe ebenso Hailbronner, a.a.O., Rn. 63). Wenn der Gesetzgeber bei Erlass des § 56 Abs. 2 Satz 3 AufenthG etwas anderes, nämlich eine Regel- oder Ist-Ausweisung von Ausländern, die (spätestens) als Heranwachsende u.a. durch serienmäßige Begehung von Straftaten negativ aufgefallen sind, zwingend hätte vorschreiben wollen (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 184), so ist ihm dies misslungen. § 56 Abs. 2 Satz 3 AufenthG gleichwohl einen solchen Regelungsgehalt zuzuschreiben, verbietet sich schon deshalb, weil es andernfalls zu einer kaum mit höherrangigem Recht vereinbaren Schlechterstellung von heranwachsenden straffälligen Ausländern gegenüber Erwachsenen käme, für die über § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG selbst bei Begehung schwerster Straftaten nur eine Ermessensausweisung zulässig wäre. Gilt somit schon für Minderjährige bzw. Heranwachsende nach § 56 Abs. 2 AufenthG kein anderer (für sie ungünstigerer) Maßstab, so entfällt schon deshalb die Grundlage für eine im Wege des Erstrechtschlusses entsprechende, zu einer Begrenzung des Ausweisungsschutzes nach § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG führende Anwendung des § 56 Abs. 2 Satz 3 AufenthG auf erwachsene Ausländer - wie den Kläger.
Konnte der Kläger somit im Jahr 2007 und kann er auch heute nach seinen gegenwärtigen Lebensverhältnissen nur nach Ermessen ausgewiesen werden, so ist eine solche Ermessensentscheidung grundsätzlich bereits im Ausgangsbescheid zu treffen, die dann nach Maßgabe des§ 114 Satz 2 VwGO im laufenden Gerichtsverfahren ggf. den sich ändernden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen angepasst werden kann. Danach ist es jedoch grundsätzlich ausgeschlossen, eine gebundene Entscheidung nachträglich als Ermessensentscheidung aufrecht zu erhalten (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 5.9.2006 - 1 C 20/05 -, NVwZ 2007, 470 f., [BVerwG 05.09.2006 - 1 C-(3) 20/05] [...], Rn. 22; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 113, Rn. 71, m. w. N).
Das Bundesverwaltungsgericht hat für die hier maßgebliche Fallgestaltung der Ausweisung in seinem Urteil vom 3. August 2004 (- 1 C 30/02 -, BVerwGE 121, 297, 310) einen Ausnahmefall anerkannt. Da auf Grund einer Rechtsänderung freizügigkeitsberechtigte EU-Bürger nur noch aufgrund einer ausländerbehördlichen Ermessensentscheidung ausgewiesen werden konnten, wurde den Ausländerbehörden wegen der insoweit bedingten Änderung der ständigen Rechtsprechung während eines Übergangszeitraums im gerichtlichen Verfahren Gelegenheit zur vollständigen Nachholung einer Ermessensentscheidung selbst dann gegeben, wenn die Ausweisung zuvor ohne Ermessensentscheidung auf einen Ist- oder Regelausweisungstatbestand gestützt worden war.
Eine vergleichbare Übergangsregelung hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 23. Oktober 2007 den Ausländerbehörden für die hier gegebene Fallkonstellation jedenfalls ausdrücklich nicht eingeräumt, um den abgesenkten Anforderungen der Rechtsprechung an die Anerkennung eines Ausnahmefalles von der Regelausweisung Rechnung zu tragen und auch insoweit noch im laufenden Verfahren übergangsweise eine Regelausweisung erstmals mit Ermessenserwägungen "anzureichern" zu können (vgl. auch Fricke, jurisPR-BVerwG 4/2008 Anm. 3, D, zu den Auswirkungen des Urteils auf die Praxis). Auch ungeschrieben ist eine solche übergangsweise Möglichkeit nicht anzuerkennen. Denn es handelt sich um eine Fortentwicklung der Rechtsprechung, die nicht durch eine Änderung höherrangigen Gemeinschafts- oder Verfassungsrechts vorgegeben, sondern eher durch die sich kontinuierlich fortgeschriebene Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ausgelöst worden ist und damit eine erstmalige Ausübung von Ermessen im Laufe des gerichtlichen Verfahrens nicht zulässt (vgl. ebenso OVG Koblenz, Urt. v. 22.4.2009 - 7 A 11361/08 -, NVwZ-RR 2009, 737 f). Im vorliegenden Fall tritt noch hinzu, dass eine etwaige Übergangsfrist mutmaßlich auch bereits abgelaufen wäre. Denn das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, in dem die entsprechende Rechtsprechungsänderung enthalten ist, stammt vom 23. Oktober 2007. Unter demselben Datum hat das Bundesverwaltungsgericht auch eine Pressemitteilung (lfd. Nr. 65/2007) veröffentlicht, in der auf diese Rechtsprechungsänderung ausdrücklich hingewiesen wird. Danach hat "der Senat seine Rechtsprechung anlässlich neuerer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts dahingehend weiterentwickelt, dass bei einer Regelausweisung ein zur Ausübung von Ermessen führender Ausnahmefall dann anzunehmen ist, wenn höherrangiges Recht unter Beachtung der Gesamtumstände des Falles eine Einzelfallwürdigung gebietet". Auch wenn das Urteil in vollständiger Form erst am 17. Januar 2008 der Öffentlichkeit bekanntgegeben worden ist, bestand damit für die Ausländerbehörde im Zeitpunkt des Erlasses ihres Bescheides am 29. November 2007 doch hinreichender Anlass zu überprüfen, ob an dem zuvor geltenden Verständnis des § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG noch festgehalten werden konnte; ggf. hätte die Entscheidung über die Ausweisung auch bis zur Veröffentlichung des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts zurückgestellt werden können, da der Kläger damals noch inhaftiert war, eine Freilassung nicht aktuell anstand und damit für den Erlass der - bis heute - nicht für sofort vollziehbar erklärten Ausweisung kein besonderer Zeitdruck bestand.
Sollte das Vorbringen des Beklagten so zu verstehen sein, dass eine erstmalige Ermessensausweisung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch zulässig sei, wenn sich dazu durch eine Änderung der Sach- oder Rechtslage während des Verfahrens erstmals Anlass ergebe - das Bundesverwaltungsgericht hat ausdrücklich offen gelassen, ob hiervon auszugehen ist (vgl. Urt. v. 15.11.2007 - 1 C 45/06 -, BVerwGE 130, 120 ff., [...], Rn. 20 f.), so ist ein solcher Fall hier nicht gegeben. Denn nicht die Sach- oder Rechtslage hat sich geändert, sondern "nur" die Rechtsprechung und dies, wie dargelegt, auch bereits vor Erlass des angefochtenen Bescheides.
Die demnach allein mögliche Ermessensentscheidung über die Ausweisung des Klägers enthält die Verfügung des Beklagten vom 29. November 2007 nicht. Dazu muss die Behörde überhaupt erkennen, dass ihr ein entsprechendes Ermessen offensteht, und dieses in einem zweiten Schritt sachgerecht ausüben (vgl. nur Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl., § 40, Rn. 59 - 61, m.w.N.). Hier mangelt es ersichtlich schon an der ersten Stufe, d.h. an dem Bewusstsein, dass eine Ermessenentscheidung zu treffen ist. Der Beklagte hat vielmehr ausdrücklich festgehalten, dass ihm als Ausländerbehörde grundsätzlich kein Ausweisungsermessen zustehe, sondern dies nur dann der Fall sei, wenn ein Ausnahmefall vorliege. Auf der Grundlage des überholten Verständnisses von § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG mangele es aber an den erforderlichen Voraussetzungen. Aus den Ausführungen auf Seite 6 Absatz 3 des Ausweisungsbescheides wird der fehlende Wille, eine Ermessensentscheidung zu treffen, unterstrichen. Danach sei bei der vorliegenden Ausweisungsform "im Gegensatz zu einer Ermessensausweisung" eine beabsichtigte, der Rehabilitation dienende Drogentherapie gerade nicht maßgeblich zu berücksichtigen. Dieses Ermessensdefizit wird auch nicht dadurch kompensiert, dass der Beklagte die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung geprüft und jedenfalls nach den damaligen Verhältnissen im Ergebnis zu Recht bejaht hat. Denn insoweit handelt es sich um eine gebundene Prüfung, die von der Ausübung von Ermessen zu unterscheiden ist. Ebenso wenig kann das zuvor aufgezeigte Ermessensdefizit dadurch ausgeglichen werden, dass der Beklagte in seinem Ausweisungsbescheid ausdrücklich gemäß § 55 Abs. 3 AufenthG bei einer Ermessensausweisung zu berücksichtigende Gesichtspunkte angeführt und in seine Entscheidung einbezogen hat. Zum einen hat der Beklagte gerade nicht erkannt, dass es sich um eine Ermessensausübung handelt, er also - wenn er nicht zu einer Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Klägers gekommen wäre - ohne Rechtsverstoß auch von der Ausweisung hätte absehen können. Im Übrigen hat er seiner Entscheidung auch insoweit ein Prüfprogramm zugrunde gelegt, das nicht vollständig gewesen ist. So hat er etwa die Drogentherapie bewusst als im Rahmen einer Regelausweisung unerheblich angesehen.
Die (hilfsweise) erstmalige Ermessensausübung des Beklagten im Schriftsatz vom 9. März 2010 ist damit schon rechtlich nicht möglich, wäre im Übrigen aber auch sonst fehlerhaft. Denn angesichts der vorgenannten Mängel hätte es dazu mehr bedurft, als die ausdrücklich unter einem anderen rechtlichen Gesichtspunkt erfolgten Ausführungen aus dem Bescheid zur Verhältnismäßigkeit als solche aufrechtzuerhalten, nunmehr als Ermessensentscheidung zu bezeichnen und unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung (bis dahin) fortzuschreiben und zu ergänzen. Vielmehr wäre dann eine grundsätzliche Überarbeitung des Bescheides geboten gewesen. Damit ist der Bescheid vom 29. November 2009 ermessensfehlerhaft.
Zur Klarstellung wird allerdings ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass eine Ermessensausweisung des Klägers damit nicht abschließend als rechtswidrig angesehen worden ist. Insbesondere auch bei nur einer weiteren, nicht notwendig rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung des Klägers, etwa aufgrund einer der beiden gegenwärtig zugelassenen Anklagen, wird der Beklagte vielmehr erneut den Erlass einer solchen, ggf. dann auch sofort vollziehbaren (Ermessens-)Ausweisung erneut zu prüfen haben.
Ist somit die im November 2007 erfolgte Ausweisung des Klägers aufzuheben und er damit rückwirkend wieder im Besitz seiner Niederlassungserlaubnis (§ 84 Abs. 2 Satz 3 AufenthG), so erweist sich auch die jedenfalls vorliegend noch nicht erledigte Androhung seiner Abschiebung aus der Haft gemäß § 59 Abs. 5 AufenthG als rechtswidrig und ist ebenfalls aufzuheben.