Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.11.2010, Az.: 2 LB 177/10

Rechtmäßigkeit der Ausweisung eines Ausländers im Falle des Verstoßes gegen Rechtsvorschriften unter Vermeidung eines Ermessensfehlgebrauches oder Ermessensnichtgebrauches; Präjudizielle Wirkung einer strafgerichtlichen Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe für die Frage der Wiederholungsgefahr nach ausländerrechtlichen Grundsätzen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.11.2010
Aktenzeichen
2 LB 177/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 28300
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:1111.2LB177.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 17.07.2008 - AZ: 2 A 3886/07

Fundstelle

  • InfAuslR 2011, 65-67

Amtlicher Leitsatz

Zur Frage, ob ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs und des Ermessensfehlgebrauchs vorliegt
(hier: verneint).

Tatbestand

1

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung dagegen, dass das Verwaltungsgericht Hannover der Klage des Klägers gegen seine Ausweisung stattgegeben hat.

2

Der 19 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volks- und yezidischer Religionszugehörigkeit. Er ist ledig und hat keine Kinder. Sein nach seiner im Januar 2002 zusammen mit seinen Familienangehörigen erfolgten Einreise in das Bundesgebiet gestellter Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und auf Gewährung von Abschiebungsschutz sowie seine hierauf bezogene Klage - 2 A 1648/03 - blieben erfolglos. Seit dem 9. März 2004 ist er vollziehbar ausreisepflichtig; aufgrund fehlender Identitätsnachweise duldete der Beklagte ihn - wie auch seine Familienangehörigen - in der Folgezeit aber. Der Kläger war wegen einer paranoid-halluzinatorischen Psychose und einer post-schizophrenen depressiven Reaktion in der Zeit vom 11. April bis 24. Mai und vom 4. bis 29. Juni 20 stationär im Landeskrankenhaus untergebracht; aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts {E.} - Vormundschaftsgericht - stand er in der Zeit vom 21. Juni 20 bis zum 4. April 20 unter Betreuung. Mit Schriftsatz vom 4. Januar 2007 beantragte er wie seine übrigen Familienangehörigen unter Hinweis auf die Bleiberechtsregelung vom 17. November 2006 die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.

3

Nachdem der Kläger mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts {E.} vom 29. Januar 20 - - wegen einer am 3. Juni 20 begangenen gefährlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt worden war, wies der Beklagte den Kläger nach vorheriger Anhörung mit Verfügung vom 3. Juli 2007 aus dem Bundesgebiet aus. Zur Begründung führte der Beklagte an, die Ausweisung erfolge nach § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG und liege in seinem pflichtgemäßen Ermessen. Aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung habe der Kläger den Tatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Im Rahmen der Ermessenausübung seien das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung gegen ein schutzwürdiges Interesse des Ausländers am weiteren Verbleib im Bundesgebiet abzuwägen. Hierbei seien insbesondere die in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Umstände zu berücksichtigen. Diese Abwägung falle zu Ungunsten des Klägers aus. Er halte sich weder rechtmäßig im Bundesgebiet auf, noch habe er schutzwürdige persönliche, wirtschaftliche oder sonstige Bindungen im Bundesgebiet. Unerheblich sei, dass er gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG zurzeit geduldet werde, da seine Abschiebung lediglich aus von ihm zu vertretenden Gründen nicht möglich sei. Ein öffentliches Interesse an seiner Ausweisung sei insbesondere deshalb gegeben, weil er schwerwiegend gegen die Rechtsordnung verstoßen habe. Die Ausweisung sei schon deshalb geboten, um künftige Beeinträchtigungen bzw. Störungen durch ihn auszuschließen. Darüber hinaus bestehe ein generalpräventives Interesse an seiner Ausweisung. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei gewahrt.

4

Gegen diese Ausweisungsverfügung des Beklagten hat der Kläger am 2. August 2007 Klage erhoben. Zur Begründung hat er angeführt, seine Ausweisung sei wegen seiner Betreuung und der Einmaligkeit des strafrechtlichen Vorfalls nicht angezeigt und unverhältnismäßig. Zudem seien die Ermessenserwägungen des Beklagten wegen einer fehlenden Gefahrenprognose unzureichend.

5

Der Kläger hat beantragt,

die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 3. Juli 2007 aufzuheben.

6

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Zur Begründung hat er auf die angefochtene Verfügung verwiesen und ergänzend ausgeführt, es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund eine Wiederholungsgefahr bei dem Kläger ausscheide. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 17. Juli 2008 hat der Beklagte erklärt, er ergänze die Ermessenserwägungen in der angefochtenen Verfügung, nachdem er das Urteil des Amtsgerichts {E.} vom 29. Januar 20 zur Kenntnis genommen habe. Aus diesem Urteil ergebe sich, dass die Tatausführung des Klägers relativ brutal gewesen und er bereits zuvor straffällig geworden sei. Es lasse sich nicht ausschließen, dass der Kläger erneut straffällig werde. Etwas anderes folge auch nicht aus dem Umstand, dass die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden sei. Schutzwürdige Bindungen des volljährigen Klägers seien nicht zu erkennen. Insbesondere sei eine Betreuung durch seine Eltern nicht erkennbar. Darüber hinaus sei der Aufenthaltszweck des lediglich geduldeten Klägers nicht schutzwürdig.

8

Das Verwaltungsgericht Hannover hat mit Urteil vom 17. Juli 2008 die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 3. Juli 2007 aufgehoben. Zur Begründung hat es angeführt, die Voraussetzungen der auf der Grundlage des § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG verfügten Ausweisung lägen zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht vor. Denn die Verfügung enthalte nur scheinbar Ermessenserwägungen, die sich in Wahrheit in floskelhaften Ausführungen erschöpften, und leide daher an einem Ermessensausfall. Der Beklagte habe von den Einzelheiten der Tatbegehung, die Grundlage für die sachgerechte Gefahrenprognose sei, bisher keine Kenntnis gehabt. Insbesondere habe der Beklagte es unterlassen, die Art und Schwere der von dem Kläger begangenen Tat, sein Verhalten nach der Tat und seine Gesamtpersönlichkeit sowie seine persönlichen Lebensverhältnisse zu würdigen. Da der Beklagte tatsächlich gar kein Ermessen ausgeübt habe, rechtfertigten auch die von ihm in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgetragenen Ermessenserwägungen keine andere Beurteilung.

9

Gegen dieses Urteil richtet sich die durch Beschluss des erkennenden Senats vom 14. April 2010 - 2 LA 561/08 - zugelassene Berufung des Beklagten.

10

Während des Berufungsverfahrens ist der Kläger durch rechtskräftigen Strafbefehl des Amtsgerichts {E.} - - vom 16. September 20 wegen einer am 1. und 2. Dezember 20 begangenen versuchten Nötigung und einer Bedrohung in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 2.400 EUR (80 Tagessätze zu je 30 EUR) verurteilt worden.

11

Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte vor, seine Ausweisungsverfügung vom 3. Juli 2007 sei sowohl formell als auch materiell rechtmäßig, sodass die Klage des Klägers unter Abänderung des angefochtenen Urteils abzuweisen sei. Ein Verfahrensfehler wegen der zwischenzeitlichen Betreuung des Klägers sei nicht gegeben, da der seinerzeitige Betreuer des Klägers eine Durchschrift des Anhörungsschreibens erhalten habe und die Bevollmächtigung des Prozessbevollmächtigten des Klägers durch diesen mangels eines Einwilligungsvorbehalts durch das Vormundschaftsgericht gemäß § 1903 Abs. 1 BGB von Anfang an wirksam gewesen sei. Der Kläger habe den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG erfüllt. Entgegen der Ansichten des Klägers und des Verwaltungsgerichts genügten seine Ausführungen in der Ausweisungsverfügung auch den Anforderungen an ordnungsgemäße Ermessenserwägungen. In dieser Verfügung habe er ausdrücklich ausgeführt, welche Interessen gegeneinander abzuwägen und welche Gesichtspunkte bei der Abwägung im Einzelfall des Klägers zu berücksichtigen seien. Eines weiteren Eingehens auf die persönlichen Lebensverhältnisse des Klägers habe es nicht bedurft, zumal dieser auf sein Anhörungsschreiben vom 10. Mai 2007 nicht reagiert habe. Von einem gänzlichen Fehlen von Ermessenserwägungen könne daher nicht die Rede sein. In dem mündlichen Verhandlungstermin vor dem Verwaltungsgericht habe er daher seine Ermessenserwägungen ergänzen und vertiefen dürfen. Zudem könne, wie sich aufgrund der letzten Verurteilung des Klägers durch das Amtsgerichts {E.} wegen versuchter Nötigung und Drohung zeige, nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger in Zukunft keine weiteren Straftaten begehen werde.

12

Der Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

13

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Er verteidigt das Urteil des Verwaltungsgerichts und meint, die Ausweisungsverfügung des Beklagten leide weiterhin an durchgreifenden Ermessensfehlern. Weder berücksichtige der Beklagte die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen ausreichend, noch finde eine Auseinandersetzung mit seiner Gesamtpersönlichkeit statt. Insbesondere die Strafzumessungserwägungen und die günstige Sozialprognose durch das Amtsgericht seien nicht hinreichend berücksichtigt worden, zumal der Beklagte keine Einsicht in die Strafakten genommen habe. Daher sei nicht von einer Wiederholungsgefahr auszugehen. Zudem könne er, der Kläger, sich ohne seine Familie und Verwandten in Syrien nicht zurechtfinden.

15

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakten, der Verwaltungsvorgänge des Beklagten sowie der Strafakten der Staatsanwaltschaft {E.} - und -, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, verwiesen.

Entscheidungsgründe

16

Die Berufung des Beklagten hat Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die angefochtene Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 3. Juli 2007 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), sodass die Klage abzuweisen ist.

17

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Ausweisungsverfügung des Beklagten vom 3. Juli 2007. Obwohl es sich insoweit um eine Anfechtungsklage handelt, bei der generell auf die Sach- und Rechtslage im maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen ist, ist seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11. 2007 - BVerwG 1 C 45.06 -, BVerwGE 130, 20 = [...] Langtext Rdnr. 12 ff.).

18

1.

Die Ausweisungsverfügung des Beklagten genügt den formellen Anforderungen.

19

Insbesondere ist ein Verfahrensfehler, der zu Aufhebung der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung des Beklagten führen müsste, nicht gegeben. Der Senat verweist zur näheren Begründung auf die Ausführungen in seinem Beschluss vom 14. April 2010 im Verfahren auf Zulassung der Berufung - 2 LA 561/08 - (dort S. 4 f. BU unter Ziffer 2a), an denen er nach erneuter Prüfung festhält, zumal der Kläger im Berufungsverfahren hiergegen keine Einwände erhoben hat.

20

2.

Auch in materiell-rechtlicher Hinsicht erweist sich die Ausweisungsverfügung als rechtmäßig.

21

Nach § 55 Abs. 1 AufenthG kann ein Ausländer ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt. Eine Ausweisung kann nach § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG insbesondere dann erfolgen, wenn ein Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor, ohne dass durchgreifende Ermessensfehler ersichtlich sind.

22

a)

Der Kläger, der nicht über besonderen Ausweisungsschutz im Sinne von § 56 AufenthG verfügt, hat den Ausweisungstatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Er hat einen nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen. Dies stellen weder der Kläger noch das Verwaltungsgericht in Abrede.

23

Dieser Ausweisungstatbestand ist unter anderem dann erfüllt, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Die Vorschrift des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist (BVerwG, Urt. v. 24.9.1996 - BVerwG 1 C 9.94 -, BVerwGE 102, 63, 66 f.; Nds. OVG, Beschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, [...] Langtext Rdnr. 7; Beschl. v. 21.6.2007 - 13 ME 55/07 -, InfAuslR 2007, 379 = [...] Langtext Rdnr. 5 ff.). Maßgeblich sind die zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung noch im Bundeszentralregister erfassten Straftaten (Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl. 2005, § 55 AufenthG Rdnr. 21). Diese Voraussetzungen liegen hier mit Blick auf die beiden oben genannten strafgerichtlich abgeurteilten Taten des Klägers vor. Eine - wie hier - vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift (BVerwG, Urt. v. 24.9.2007 - BVerwG 1 C 9.94 -, a.a.O.; Senat, Beschl. v. 6.5.2008 - 2 PA 595/07 -). Zudem erscheint es gerechtfertigt, lediglich eine Straftat, die zu einer Verurteilung zu einer Geldstrafe bis zu 30 Tagessätzen geführt hat, grundsätzlich als geringfügig anzusehen (Discher, in: GK-AufenthG, Stand: September 2010, § 55 Rdnr. 528 m.w.N.). Letzteres ist hier bei den beiden strafgerichtlich geahndeten Straftaten des Klägers nicht der Fall.

24

Soweit in der Rechtsprechung auch bei vorsätzlichen Straftaten aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls Ausnahmen gemacht werden, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig anzusehen ist, liegen die Voraussetzungen hier nicht vor. Die genannte Fallgruppe erfasst Sachverhalte, in denen ein strafrechtliches Verfahren etwa wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist, oder wenn im Fall einer Verurteilung besondere Umstände des Einzelfalls zu der Bewertung führen, dass es sich um einen geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften handelt (BVerwG, Urt. v. 18.11.2004 - BVerwG 1 C 23.03 -, BVerwGE 122, 193 = NVwZ 2005, 601 = [...] Langtext Rdnr. 22 f.). Die Strafverfahren gegen den Kläger wurden weder wegen Geringfügigkeit eingestellt, noch handelt es sich um eine einmalige Verfehlung. Die verhängten Sanktionen liegen auch weit außerhalb der Fallgestaltungen, in denen eine Geringfügigkeit angenommen werden kann. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass der Kläger ausweislich der Begründung des Strafurteils des Amtsgerichts {E.} vom 29. Januar 20 bei der Tatausführung massiv zu Werke schritt und dem Opfer erhebliche Verletzungen zufügte. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde. Denn ohne diese Aussetzung hätte der Kläger sogar den Tatbestand der Ausweisung im Regelfall nach § 54 Nr. 1 AufenthG verwirklicht (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, a.a.O.).

25

Diese Straftaten sind im Bundeszentralregister nicht getilgt und auch nicht tilgungsreif, unterliegen damit nicht gemäߧ 51 Abs. 1 BZRG einem - auch im Ausländerrecht zu beachtenden (vgl. dazu Discher, in: GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 53 ff. Rdnr. 1136 m.w.N.) - Verwertungsverbot und sind im vorliegenden Verfahren verwertbar. Da die erste Verurteilung in dem Strafurteil ein Strafmaß von über einem Jahr Freiheitsstrafe umfasst, beträgt die Tilgungsfrist gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 4 BZRG 15 Jahre. Für die zweite Verurteilung zu einer Geldstrafe aus dem Strafbefehl vom 16. September 20 beträgt die Tilgungsfrist aufgrund der Voreintragung gemäß § 46 Abs. 1 Nr. 2a BZRG zehn Jahre.

26

Das Verhalten des Klägers rechtfertigt grundsätzlich eine Ausweisung unter general- und spezialpräventiven Gesichtspunkten, insbesondere indiziert der Tatbestand des § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG die von § 55 Abs. 1 AufenthG geforderte Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet (vgl. hierzu Nds. OVG, Beschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, [...] Langtext Rdnr. 8; Hessischer VGH, Urt. v. 8.5.1995 - 12 UE 289/93 -, [...] Langtext Rdnr. 26; Discher, in: GK-AufenthG, a.a.O., § 55 Rdnr. 55 f. und 456 m.w.N.). Das folgt auch daraus, dass der Gesetzgeber den Grundtatbestand des § 55 Abs. 1 AufenthG - wie bereits in §§ 45, 46 AuslG - um die in Abs. 2 dieser Vorschrift genannten "Regelbeispiele" ergänzt hat (vgl. hierzu OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.3.1992 - 18 B 299/92 -, [...] Langtext Rdnr. 11 ff.).

27

Überdies hat der Kläger durch seine erneute einschlägige Straffälligkeit, die durch den Strafbefehl des Amtsgerichts {E.} vom 16. September 20 strafrechtlich geahndet worden ist, gezeigt, dass er sich nicht an die geltenden Rechtsvorschriften hält. Daher ist eine Wiederholungsgefahr gegeben. Dem Umstand, dass die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wegen der ersten Straftat von dem Amtsgericht {E.} zur Bewährung ausgesetzt worden war, kommt abgesehen davon, dass die strafgerichtliche Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe für die nach ausländerrechtlichen Grundsätzen zu beurteilende Frage der Wiederholungsgefahr nicht ohne Weiteres präjudizielle Wirkung hat (vgl. hierzu Discher, in: GK-AufenthG, a.a.O., Vor §§ 55 ff. Rdnr. 1223 ff. m.w.N.), deshalb kein entscheidendes Gewicht zu.

28

b)

Auch im Hinblick auf die Rechtsfolgenseite der Ermessensausübung begegnet die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung des Beklagten entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts keinen Bedenken. Die von dem Beklagten getroffene Ermessensentscheidung ist nur im Rahmen des § 114 VwGO überprüfbar. Der Beklagte hat die gesetzlichen Grenzen des Ermessens nicht überschritten und von seinem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigungen entsprechenden Weise Gebrauch gemacht. Dies ergibt sich aus Folgendem:

29

Der Beklagte hat auf der Grundlage des - wie ausgeführt - erfüllten Ausweisungstatbestandes seine Entscheidung ermessensfehlerfrei getroffen, insbesondere die erforderliche Abwägung der öffentlichen Interessen an einer Ausreise des Klägers mit dessen Interesse an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet rechtsfehlerfrei vorgenommen und die wesentlichen Umstände des Einzelfalls einschließlich der - insbesondere in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten - Interessen des Klägers an einem weiteren Verbleib hinreichend berücksichtigt.

30

aa)

Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Beklagte hinsichtlich der Ausweisung sein Ermessen (überhaupt) nicht ausgeübt und deshalb im Verhandlungstermin eine in Gänze fehlende Ermessensentscheidung nachgeschoben hat.

31

Der Beklagte hat die Ausweisung auf § 55 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 AufenthG gestützt und weiter ausgeführt, dass und warum bei der erforderlichen Ermessensentscheidung die Ausweisung sowohl aus generalpräventiven als auch spezialpräventiven Gründen gerechtfertigt sei. Insbesondere hat er in hinreichenden Umfang dargelegt, dass der Ausweisung die in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Gründe nicht entgegenstünden. Indem sich der Beklagte mit den Anforderungen des § 55 Abs. 3 AufenthG näher auseinandergesetzt und insbesondere dargelegt hat, dass das Vorliegen eines Duldungsgrundes gemäߧ§ 55 Abs. 3 Nr. 3, 60a Abs. 2 AufenthG der Ausweisung nicht entgegensteht, hat er sein Ermessen ausgeübt. Bei diesen Gründen handelt es sich um Gesichtspunkte, die bei der Ermessensentscheidung über die Ausweisung zu berücksichtigen sind, nicht jedoch um tatbestandliche Voraussetzungen für eine Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG. Es findet sich auch kein Anhalt, dass der Beklagte in Bezug auf die Ausweisung nach § 55 Abs. 1 AufenthG von einer gebundenen Entscheidung ausgegangen ist.

32

Deshalb ist es fehlerhaft, dass das Verwaltungsgericht die während des gerichtlichen Verfahrens vom Beklagten ergänzten Ermessenserwägungen nach § 114 Satz 2 VwGO nicht berücksichtigt hat.

33

bb)

Entgegen dem Vorbringen des Klägers liegt hier ein Ermessensfehlgebrauch auch nicht in der Weise vor, dass der Beklagte nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen und Gesichtspunkte in die Abwägung der widerstreitenden Interessen einbezogen oder diese falsch zu Ungunsten des Klägers gewichtet hat. Der Beklagte hat die zugunsten des Klägers sprechenden Belange, soweit ihm diese mitgeteilt worden oder aus dem Verfahren bekannt gewesen sind, in seine Ermessensentscheidung eingestellt und entsprechend ihrer Bedeutung mit den für eine Ausweisung streitenden öffentlichen Belangen rechtsfehlerfrei abgewogen. Der Einwand des Klägers in diesem Zusammenhang, der Beklagte hätte Einsicht in die ihn betreffenden Strafakten nehmen müssen, greift nicht durch. Es ist nicht erkennbar, dass die Kenntnis der Strafakten eine unabdingbare Voraussetzung für eine ermessensfehlerfreie Abwägung der widerstreitenden Interessen war.

34

Dies trifft insbesondere in Bezug auf die Einwände des Klägers im Hinblick auf seine Erkrankung, seine sozialen Bindungen zu seinen bisher im Bundesgebiet aufhältigen Familienangehörigen und eine von ihm etwaig in Anspruch genommene gefestigte Integration in der Bundesrepublik Deutschland zu. Insoweit steht die Ausweisung des Klägers auch im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK. Nach Art. 6 Abs. 1 GG schutzwürdige Belange können einer zwangsweisen Beendigung des Aufenthalts des Ausländers im Bundesgebiet etwa dann entgegen stehen, wenn ein erwachsenes Familienmitglied zwingend auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und diese Hilfe sich nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt. Unter diesen Voraussetzungen erfüllt die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 14.12.1989 - 2 BvR 377/88 -, NJW 1990, 895, 896). Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens; Art. 8 Abs. 2 EMRK regelt die Zulässigkeit von Eingriffen von staatlichen Stellen in die Ausübung dieses Rechts. Wesentliches Ziel der Vorschrift ist der Schutz des Einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in das Privat- und Familienleben. Allerdings begründen die Europäische Menschenrechtskonvention und damit auch die Garantien des Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten und nicht ausgewiesen zu werden (vgl. EGMR, Urt. v. 16.9.2004 - 11103/03 [Ghiban ./. Deutschland] -, NVwZ 2005, 1046, 1047; Urt. v. 16.6.2005 - 60654/00 [Sisojeva ./. Lettland] -, InfAuslR 2005, 349). Über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden, ist nach allgemein anerkannten völkerrechtlichen Grundsätzen vielmehr das Recht der Vertragsstaaten (vgl. EGMR, Urt. v. 16.9.2004, a.a.O.; Urt. v. 7.10.2004 - 33743/03 - [Dragan u.a. ./. Deutschland] -, NVwZ 2005, 1043, 1044). Ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens lässt sich angesichts dieser Regelungskompetenz der Vertragsstaaten nicht schon allein mit dem Argument bejahen, ein Ausländer halte sich bereits seit geraumer Zeit im Vertragsstaat auf und wolle dort sein Leben führen (vgl. EGMR, Urt. v. 7.10.2004, a.a.O.).

35

Durch die Ausweisung werden etwaige nach Art. 6 Abs. 1 und Art. 8 EMRK geschützte Bindungen des Klägers nicht nachteilig berührt. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass er krankheitsbedingt auf den Beistand seiner zurzeit in Deutschland aufhältigen Familienangehörigen, insbesondere seiner Eltern, angewiesen oder dass er als sogenannter faktischer Inländer anzusehen ist mit der Folge, dass seine Ausweisung unverhältnismäßig wäre.

36

Soweit der Kläger vorträgt, er sei aufgrund seiner Erkrankung auf familiären Beistand angewiesen, ist ihm entgegen zu halten, dass seine Familienangehörigen mit ihm zusammen oder in zeitlicher Nähe ebenfalls nach Syrien zurückkehren können und müssen, sodass die - im Übrigen aber lediglich pauschal behauptete und nicht näher belegte - gegebenenfalls erforderliche Beistandshilfe in dem Heimatland Syrien geleistet werden kann. Seine zurzeit in Deutschland lebenden Familienangehörigen, insbesondere seine Eltern verfügen nicht über ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet, sondern sind ebenfalls vollziehbar ausreisepflichtig und werden lediglich mangels bisher ausreichender Identitätspapiere geduldet; seine Geschwister sind zudem ebenfalls bestandskräftig aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Zudem steht diesem Vortrag entgegen, dass das Amtsgericht {E.} die Betreuung des Klägers mit Beschluss vom 4. April 20 gerade mit der Begründung aufgehoben hat, der Kläger sei nach dem eingeholten Gutachten nunmehr selbst in der Lage, seine Angelegenheiten allein wahrzunehmen. Daher bedurfte es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht einer näheren Aufklärung des Krankheitsbildes des Klägers.

37

Ebenso wenig kann von einer ausreichenden gelungenen Integration des Klägers in die hiesigen Lebensverhältnisse ausgegangen werden, sodass er als sogenannter faktischer Inländer anzusehen wäre mit der möglichen Konsequenz, dass seine Ausweisung unverhältnismäßig wäre. Dies nimmt er auch für sich nicht in Anspruch, sodass sich nähere Ausführungen hierzu erübrigen. Auf die Frage, ob eine Integration einen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt (vgl. hierzu Senat, Beschl. v. 31.8.2010 - 2 ME 267/10 - m.w.N.) war daher nicht weiter einzugehen.

38

Der Einwand des Klägers, der Beklagte habe die Tatsache, dass er lediglich über einen Duldungsstatus verfüge und sich daher im Bundesgebiet nicht rechtmäßig aufhalte, zu Unrecht durchschlagend zu seinen Ungunsten in die Abwägung eingestellt, weil dieser Umstand jedenfalls auch im Verantwortungsbereich der syrischen Behörden liege, greift nicht durch. Es ist weder vom Kläger vorgetragen noch erkennbar, dass er sich in der Vergangenheit oder aktuell hinreichend um die Erlangung von Heimreisepapieren bemüht hat; hierzu ist er aufgrund seiner Mitwirkungspflicht aber angehalten.