Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.11.2010, Az.: 8 PA 265/10
Aufenthaltserlaubnis; Integration; Kleinkind; Vorbehaltserklärung; faktische Verwurzelung; familienbezogene Gesamtbetrachtung; humanitäre Gründe
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 09.11.2010
- Aktenzeichen
- 8 PA 265/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 41812
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:1109.8PA265.10.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Oldenburg/Oldenburg - 07.09.2010 - AZ: 11 A 823/10
Rechtsgrundlagen
- AufenthG 25 V
- EMRK 8
- UN-KRK 2
- UN-KRK 3 I
- UN-KRK 8 I
Gründe
Die gegen die Ablehnung ihres Antrages auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhobene Beschwerde der Klägerin hat keinen Erfolg. Denn das Verwaltungsgericht hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Satz 1 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hier fehlt der Rechtsverfolgung der Klägerin die erforderliche Erfolgsaussicht. Nach der im Prozesskostenhilfeverfahren nur vorzunehmenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschl. v. 26.2.2007 - 1 BvR 474/05 -, NVwZ-RR 2007, 361, 362) ist ihre Klage auf Verlängerung der bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis über den 31. Januar 2010 hinaus zwar voraussichtlich zulässig, aber unbegründet. Der Senat nimmt insoweit auf seine Ausführungen in den vorausgegangenen Beschlüssen vom 28. Mai 2010 in den Verfahren 8 ME 93/10 und 8 ME 97/10 Bezug und verweist auf diese. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.
Der von der Klägerin erhobene Einwand, ihr stehe ein Anspruch auf Einbürgerung und ein davon abgeleiteter Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu, greift nicht durch. Denn die Klägerin hat nach den überzeugenden Ausführungen im Beschluss des 13. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 5. November 2010 - 13 PA 193/10 -, denen sich der erkennende Senat anschließt, voraussichtlich schon keinen Anspruch auf Einbürgerung.
Auch mit dem darüber hinausgehenden Einwand, im Rahmen der Beurteilung der Voraussetzungen für die Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG oder § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK sei eine (unabdingbare) Verknüpfung des aufenthaltsrechtlichen Schicksals minderjähriger Kinder mit dem ihrer Eltern unzulässig, dringt die Klägerin nicht durch.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsbeschl. v. 18.5.2010 - 8 PA 86/10 -, juris Rn. 10 m.w.N.) und anderer Oberverwaltungsgerichte (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 22.7.2009 - 11 S 1622/07 -, juris Rn. 81; Bayerischer VGH, Beschl. v. 13.7.2010 - 19 ZB 10.1129 -, juris Rn. 7 jeweils m.w.N.) teilen minderjährige Kinder aufenthaltsrechtlich grundsätzlich das Schicksal ihrer Eltern (sog. familienbezogene Gesamtbetrachtung). Steht den Eltern etwa wegen deren mangelnder Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland über Art. 8 EMRK i.V.m. § 25 Abs. 5 AufenthG kein Aufenthaltsrecht zu, so ist davon auszugehen, dass auch ein Minderjähriger, der im Bundesgebiet geboren wurde oder dort lange Zeit gelebt hat, grundsätzlich auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden kann.
Diese Rechtsprechung steht entgegen der Auffassung der Klägerin nicht im Widerspruch zu den Vorgaben des Art. 24 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Europäische Grundrechtecharta - GR-Charta - (ABl. EU 2007 Nr. C 303, S. 1) und der Art. 2 und 3 Abs. 1 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 - UN-Kinderrechtskonvention - (BGBl. II 1992, S. 121).
Nach Art. 24 Abs. 2 GR-Charta muss bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein. Die Bestimmungen der GR-Charta sind durch Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EUV (in der Fassung des Lissabonner Vertrages, ABl. EU 2008 Nr. C 115, S. 13) zwar verbindlicher Teil der Europäischen Verträge und damit des Primärrechts geworden (vgl. Lenz/Borchardt, EUV, 5. Aufl., Anhang zu Art. 6 Rn. 19; Pache/Rösch, Europäischer Grundrechtsschutz nach Lissabon - die Rolle der EMRK und der Grundrechtecharta in der EU, in: EuZW 2008, 519). Sie binden nach Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta - neben den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union - auch die Mitgliedstaaten, diese indes nur bei der Durchführung des Rechts der Union (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.3.2010 - 1 C 8/09 -, juris Rn. 35; Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl., GR-Charta, Art. 51 Rn. 13). Das Unionsrecht in diesem Sinne umfasst neben dem europäischen Primärrecht auch das Sekundärrecht, mithin das von den Organen der EU aufgrund von Kompetenzzuweisungen in den Verträgen erlassene Recht, insbesondere Rechtsakte nach Art. 288 AEUV bzw. früher Art. 249 EGV (vgl. Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Stand: Oktober 2006, EGV Art. 249 Rn. 12). Die hier maßgebliche Bestimmung des § 25 Abs. 5 AufenthG ist danach aber kein Unionsrecht im Sinne des Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GR-Charta; sie ist auch nicht auf solches zurückzuführen. Es handelt sich vielmehr um eine nationale aufenthaltsrechtliche Bestimmung (vgl. Senatsbeschl. v. 21.9.2010 - 8 PA 198/10 -). Bei der Anwendung und Auslegung dieser nationalen Bestimmung sind die deutschen Behörden daher nicht an die Bestimmungen der GR-Charta gebunden (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2010 - 8 LA 154/10 -, juris Rn. 15). Art. 24 Abs. 2 GR-Charta kann der Klägerin daher von vorneherein keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK vermitteln.
Im Übrigen statuiert Art. 24 Abs. 2 GR-Charta keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls. Die Bestimmung fordert vielmehr nur, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Das Wohlergehen des Kindes muss danach zwar bei jeder Maßnahme berücksichtigt werden, es bindet die staatlichen Stellen aber nicht derart, dass diesem stets der Vorrang eingeräumt werden müsste und nicht andere Gründe überwiegen könnten (vgl. Schwarze, a.a.O., Art. 24 Rn. 8 m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die dargestellte Rechtsprechung des Senats in jeder Hinsicht gerecht. Sie ist zum einen gerade auf die Wahrung der Familieneinheit von Eltern und Kindern gerichtet und soll Unterbrechungen in der Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls vermeiden. Zum anderen formuliert sie lediglich einen Grundsatz, der einzelfallbezogen vom Kindeswohl geforderte Ausnahmen gestattet. So wird beispielsweise bei einem fast volljährigen, ohne Unterstützung der Eltern lebenstüchtigen Kind, das eigene Integrationsleistungen erbracht hat, ein Schutz nach Art. 8 EMRK wahrscheinlicher sein als bei einem Kleinkind, das aufenthaltsrechtlich regelmäßig das Schicksal der Eltern teilt (vgl. Senatsbeschl. v. 12.7.2010, a.a.O., Rn. 16).
Nach Art. 2, 8 Abs. 1 und 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht des Kindes stets zu beachten und bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Die Bestimmungen statuieren damit ebenso wie Art. 24 Abs. 2 GR-Charta keinen absoluten Vorrang des Kindeswohls; das Wohlergehen des Kindes muss lediglich vorrangig berücksichtigt werden. Dem genügt, wie dargestellt, die Rechtsprechung des Senats. Im Prozesskostenhilfeverfahren bedarf es daher keiner Entscheidung, ob die Ausländerbehörden - nach der Rücknahme der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung vom 6. März 1992 (vgl. BGBl. II 1992, S. 990) am 15. Juli 2010 (vgl. Bundesministerium der Justiz, UN-Kinderrechtskonvention: Rücknahme des Vorbehalts rechtswirksam, Pressemitteilung v. 15.7.2010, zitiert nach: www.bmj.bund.de, Stand: 8.11.2010) - an die Bestimmungen der UN-Kinderrechts-konvention überhaupt unmittelbar gebunden sind (vgl. hierzu Lorz, Nach der Rücknahme der deutschen Vorbehaltserklärung: Was bedeutet die uneingeschränkte Verwirklichung des Kindeswohlvorrangs nach der UN-Kinderrechtskonvention im deutschen Recht ?, zitiert nach: www.nds-fluerat.org, Stand: 8.11.2010).
Obwohl nicht mehr entscheidungserheblich weist der Senat darauf hin, dass der Klägerin auch bei einer offenbar von ihr erstrebten Aufgabe der familienbezogenen Gesamtbetrachtung kein Anspruch auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG oder § 25 Abs. 5 AufenthG wegen eines nicht gerechtfertigten Eingriffs in ihr durch Art. 8 EMRK geschütztes Privatleben zustünde.
Einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung kommt grundsätzlich nur dann Eingriffsqualität in Bezug auf den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK zu, wenn der Ausländer ein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiert ist, faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat als Vertragsstaat der EMRK führen kann (vgl. Senatsbeschl. v. 27.1.2010 - 8 ME 2/10 -, juris Rn. 11; Hessischer VGH, Beschl. v. 15.2.2006 - 7 TG 106/06 -, juris Rn. 25; Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl., Art. 8 Rn. 25a m.w.N.). Fehlt es hieran, liegt schon kein Eingriff in die Rechte des Art. 8 Abs. 1 EMRK vor; einer Rechtfertigung nach den Maßgaben des Art. 8 Abs. 2 EMRK bedarf es nicht (vgl. Senatsbeschl. v. 13.10.2010 - 8 PA 232/10 -, juris Rn. 18). Ob der Ausländer ein Privatleben faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat führen kann, hängt zum einen von seiner Integration in Deutschland und zum anderen von der Möglichkeit zur (Re-)Integration in seinem Heimatland ab (vgl. Senatsbeschl. v. 1.4.2010 - 8 PA 27/10 -, juris Rn. 16 ff. m.w.N.).
Die Integration des Ausländers in die hiesigen Lebensverhältnisse wird dabei maßgeblich durch die Intensität seiner hier bestehenden persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen sozialen Beziehungen bestimmt. Ist, wie hier, ein zweijähriges Kleinkind betroffen, liegt es fern, eigene schutzwürdige Beziehungen zum Bundesgebiet und hier außerhalb der Kernfamilie lebenden Dritten anzunehmen; schutzwürdige Beziehungen bestehen allenfalls zu den hier lebenden Eltern oder anderen die Sorge für das Kleinkind wahrnehmenden Personen. Sind auch diese, wie hier, vollziehbar ausreisepflichtig und können daher zusammen mit dem Kind das Bundesgebiet verlassen, bestehen keine, eine faktische Verwurzelung begründenden schutzwürdigen Bindungen zur Bundesrepublik oder zu hier lebenden Personen.
In gleicher Weise kommt es für die Möglichkeit der (Re-)Integration im Heimatland bei einem Kleinkind maßgeblich darauf an, ob für die Eltern oder andere die Sorge für das Kleinkind wahrnehmenden Personen diese Möglichkeit besteht. Ist dies, wie hier, zu bejahen (vgl. Senatsbeschl. v. 28.5.2010 - 8 ME 93/10 -), kann das Kleinkind auf die von den Eltern nach der Rückkehr im Familienverband zu leistenden Integrationshilfen im Heimatland verwiesen werden.