Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.02.2000, Az.: 2 M 3526/99

Anlassbeurteilung; Auswahlentscheidung; Beurteilung; Bewerbungsverfahrensanspruch; Laufbahnwechsel; Regelbeurteilung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.02.2000
Aktenzeichen
2 M 3526/99
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2000, 41842
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - AZ: 2 B 2396/99

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Unter welchen Voraussetzungen zurückliegende Regelbeurteilungen noch eine hinreichend verlässliche Grundlage für eine Auswahlentscheidung darstellen, lässt sich nicht generalisierend, sondern nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles beantworten.


2. Je länger der Beurteilungszeitraum zurückliegt und je kürzer er ist, um so eher besteht die Gefahr, dass die betreffende Beurteilung keine hinreichende Aussagekraft mehr für den Vergleich der miteinander konkurrierenden Bewerber hat.


3. Der Umstand, dass der Stichtag der letzten Regelbeurteilungen der Bewerber im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung nahezu zwei Jahre zurücklag, die Beurteilungen lediglich einen Zeitraum von sechs bzw. vier Monaten erfassen und es sich um die ersten Beurteilungen nach einem Laufbahnwechsel handelte, rechtfertigt das Erfordernis einer erneuten Beurteilung vor der Auswahl der Bewerber.

Tenor:

Beschluss

Gründe

1

Durch Beschluss vom 27. Juli 1999 hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers abgelehnt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung anzuweisen, eine der für Polizeioberkommissare zur Verfügung stehenden Planstellen vorläufig nicht zu besetzen. Auf den Antrag des Antragstellers hat der Senat durch Beschluss vom 10. September 1999 (2 M 3226/99) die Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts zugelassen.

2

Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet.

3

Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Denn er hat einen Anordnungsgrund und einen Anordnungsanspruch gemäß § 123 Abs. 1 und Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO glaubhaft gemacht.

4

Die von der Antragsgegnerin getroffene und dem Antragsteller im Mai 1999 durch eine Beförderungsliste bekannt gemachte Auswahlentscheidung ist rechtsfehlerhaft.

5

Die Auswahlentscheidung der Antragsgegnerin unterliegt als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einen unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet hat, sachfremde Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder Richtlinien verstoßen hat (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 9.2.2000 - 2 M 4517/99 -; Beschl. v. 11.8.1995 - 5 M 2742/95 - m. w. Nachw.).

6

Die Ermessensausübung des Dienstherrn bei der Entscheidung über die Übertragung eines Dienstpostens und bei der Beförderungsauswahl hat sich an dem sich aus Art. 33 Abs. 2 GG, § 7 BRRG und § 8 Abs. 1 NBG ergebenden Leistungsgrundsatz als dem entscheidenden Auswahlkriterium zu orientieren. Grundlage des Leistungsvergleichs bei der Auswahlentscheidung sind in erster Linie die letztlichen Beurteilungen der Bewerber. Zusätzlich sind jedoch auch alle nachprüfbaren Angaben zu berücksichtigen, die sich auf Eignung, Befähigung und fachliche Leistung beziehen und aus denen sich das aktuelle Leistungsbild der Bewerber ergibt. Denn der Dienstherr muss seiner Auswahlentscheidung einen vollständigen Sachverhalt zu Grunde legen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 9.2.2000, a.a.O.). Insoweit können auch andere Gesichtspunkte Bedeutung erlangen, und zwar insbesondere dann, wenn die Ergebnisse der dienstlichen Beurteilungen verschiedener Bewerber nicht wesentlich voneinander abweichen. Es bleibt dann der Entscheidung des Dienstherrn überlassen, zwischen mehreren möglichen und den Leistungsgrundsatz wahrenden Auswahlkriterien zu wählen, sofern nur das Prinzip selbst nicht in Frage gestellt wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.11.1993 - BVerwG 2 ER 301.93 -, DVBl. 1994, 118; Nds. OVG, Beschl. v. 9.2.2000, a.a.O.; Beschl. v. 18.11.1999 - 5 M 2989/99 -; Beschl. v. 10.5.1999 - 2 M 1679/99 -).

7

Der Leistungsgrundsatz und der Grundsatz der Chancengleichheit gebieten es, der Auswahlentscheidung zeitnahe Beurteilungen der Bewerber zu Grunde zu legen und seit der letzten Beurteilung dokumentierte Leistungssteigerungen zu berücksichtigen. Unter welchen Voraussetzungen zurückliegende Regelbeurteilungen nach diesem Maßstab noch eine hinreichend verlässliche Grundlage für eine Auswahlentscheidung darstellen, lässt sich nicht generalisierend, sondern nur unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Einzelfalles beantworten. Dabei können diese Umstände eine erneute aus Anlass der Bewerbung zu erstellende Beurteilung auch dann gebieten, wenn Beurteilungsrichtlinien, wie die hier maßgeblichen Beurteilungsrichtlinien für den Polizeivollzugsdienst des Landes Niedersachsen vom 4. Januar 1996 (- BRLPol -, Nds. MBl. S. 169) eine Anlassbeurteilung grundsätzlich nicht vorsehen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.; Beschl. v. 5.8.1999 - 2 M 2045/99 -). Eine starre Grenze, bei der die erforderliche Aktualität einer Beurteilung verloren geht, lässt sich nicht generell festlegen. Je länger der Beurteilungszeitraum allerdings zurückliegt und je kürzer er ist, um so eher besteht die Gefahr, dass die betreffende Beurteilung keine hinreichende Aussagekraft mehr für den Vergleich der miteinander konkurrierenden Bewerber hat (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 5.8.1999, a.a.O.).

8

Ausgehend von diesen Grundsätzen stellen bei Berücksichtigung der hier maßgeblichen Einzelfallumstände die Regelbeurteilungen des Antragstellers vom 30. September 1997 und des Beigeladenen vom 22. Juli 1997, die die Antragsgegnerin ihrer Auswahlentscheidung zu Grunde gelegt hat, keine verlässliche Grundlage für einen Vergleich der miteinander konkurrierenden Beamten dar.

9

Es kann offenbleiben, ob der Umstand, dass der Stichtag der genannten Regelbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen (1.6.1997) im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung (Mai 1999) nahezu zwei Jahre zurücklag, allein schon ausreicht, die Verlässlichkeit der Beurteilungen als Grundlage der Auswahlentscheidung in Frage zu stellen (vgl. zu dieser Problematik auch Nds. OVG, Beschl. v. 19.1.2000 - 5  M 3424/99 -; Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.; Beschl. v. 11.11.1999 - 5 M 3912/99 -; Beschl. v. 5.8.1999, a.a.O.; Beschl. v. 18.3.1999 - 5 M 4824/98 -). Denn die zu diesem Zeitablauf noch hinzutretenden weiteren besonderen Umstände dieses Einzelfalles gebieten es, neue Beurteilungen zu erstellen, weil die der Auswahlentscheidung zu Grunde gelegten Beurteilungen eine vergleichbare Bewertung der Qualifikation der Bewerber nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung nicht mehr ermöglichen.

10

Der Antragsteller hat im September 1995 die Prüfung für den Aufstieg vom mittleren in den gehobenen Dienst (§ 17 a Abs. 1 PolNLVO) mit der Note befriedigend bestanden und ist im Dezember 1996 zum Polizeikommissar befördert worden. Der Beigeladene ist im Dezember 1994 gemäß § 17 a Abs. 4 PolNLVO ohne Einführungszeit und ohne Prüfung für die Laufbahn des gehobenen Dienstes zugelassen worden und im Januar 1997 zum Polizeikommissar befördert worden. Trotz der im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung im Mai 1999 etwa 2 1/2 jährigen Zugehörigkeit der beiden Beamten zum gehobenen Dienst hat die Antragsgegnerin ihre Auswahlentscheidung auf Grund der Regelbeurteilungen des Antragstellers vom 30.  September 1997 und des Beigeladenen vom 22. Juli 1997 getroffen, die nur die ersten sechs Monate (Antragsteller: 1.12.1996 bis 31.5.1997) bzw. vier Monate (Beigeladener: 29.1.1997 bis 31.5.1997) ihrer Zugehörigkeit zum gehobenen Dienst erfassen. Dienstliche Beurteilungen der Bewerber beruhen jedoch sowohl als Anlass- als auch als Regelbeurteilungen in der Praxis regelmäßig auf einem längeren, oft mehrjährigen Zeitraum (vgl. § 40 Abs. 1 NLVO; Nr. 3.1 BRLPol) und ermöglichen deshalb eine verlässliche Bewertung von Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung. Bei einer - wie hier - nur sechs bzw. nur viermonatigen Beobachtungszeit unmittelbar nach der erstmaligen Wahrnehmung der mit der neuen Laufbahn verbundenen Aufgaben ist dies nur sehr begrenzt möglich, und es wird auch durch die Beurteilerkonferenzen mit dem sogenannten Rankingverfahren nicht gewährleistet, dass die Bewertung auch etwa zwei Jahre danach noch zutrifft. Denn je länger ein Beamter nach seinem Aufstieg in eine höhere Laufbahn mit den damit verbundenen Aufgaben vertraut wird, desto aussagekräftiger können seine Eignung, Befähigung und fachliche Leistung bewertet werden (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.).

11

Zwar kann beurteilungsrechtlich ein Beurteilungszeitraum von sechs Monaten als ausreichend angesehen werden; eine einen solch kurzen Zeitraum erfassende Beurteilung ist als Auswahlgrundlage jedoch weniger geeignet als eine Beurteilung, die auf einem mehrjährigen Beobachtungszeitraum beruht (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O., m. w. Nachw.).

12

Nach alledem rechtfertigen im vorliegenden Fall der Umstand, dass der Stichtag der letzten Regelbeurteilungen des Antragstellers und des Beigeladenen im Zeitpunkt der Auswahlentscheidung nahezu zwei Jahre zurücklag, diese Beurteilungen lediglich einen Zeitraum von sechs bzw. vier Monaten erfassen und es sich um die ersten Beurteilungen nach einem Laufbahnwechsel handelte, das Erfordernis einer erneuten Beurteilung vor der Auswahl der Bewerber (ebenso in einem vergleichbaren Fall Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.).

13

Es besteht auch die realistische, nicht nur entfernte Möglichkeit, dass der Antragsteller bei Vermeidung des vorstehend dargestellten Rechtsfehlers (Fehlen zeitnaher dienstlicher Beurteilungen der Bewerber) ausgewählt wird (vgl. zu diesem Erfordernis im Einzelnen Nds. OVG, Beschl. v. 18.3.1999, a.a.O.; ebenso Beschl. v. 9.2.2000, a.a.O.; Beschl. v. 3.12.1999 - 2 M 3363/99 -; Beschl. v. 5.8.1999, a.a.O.). Ob eine solche Situation gegeben ist, ist auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalls zu entscheiden (vgl. Nds OVG, Beschl. .v. 9.2.2000, a.a.O.; Beschl. v. 5.8.1999, a.a.O.).

14

Der Antragsteller hätte zum Einen dann eine realistische Möglichkeit, ausgewählt zu werden, wenn er in der neu zu erstellenden Beurteilung - anders als in der letzten Regelbeurteilung - nicht die gleiche, sondern eine höhere Wertungsstufe als der Beigeladene erhalten würde. Ob der Antragsteller dem Beigeladenen gegenüber einen derartigen Leistungsvorsprung erzielen kann, kann nach dem zur Zeit überschaubaren Sachverhalt nicht verlässlich beurteilt werden.

15

Es besteht jedoch die realistische Möglichkeit, dass der Antragsteller - wie auch im Jahre 1997 - im Vergleich zu dem Beigeladenen erneut eine zumindest im Wesentlichen gleiche Beurteilung erhalten kann. Der Beigeladene ist zwar neun Monate früher als der Antragsteller für die Laufbahn des gehobenen Dienstes zugelassen worden. Der Antragsteller ist jedoch einen Monat früher als der Beigeladene zum Polizeikommissar befördert worden. Außerdem ist seine Leistungsentwicklung im mittleren Dienst wesentlich günstiger zu bewerten als die des Beigeladenen. Denn der Antragsteller ist bereits 1992 mit der Note "sehr gut (14 Punkte)" und sodann nochmals 1996 mit dieser Note beurteilt worden, während der Beigeladene 1992 lediglich die Note "gut (11 Punkte)" und 1996 die Note "gut (13 Punkte)" erreicht hat. Angesichts dieser Sachlage ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass der Antragsteller - wie auch bereits in der letzten Regelbeurteilung - zumindest die gleiche Wertungsstufe wie der Beigeladene erhält.

16

In Fällen, in denen die gleiche Wertungsstufe zuerkannt wird, sieht die "Kriterienliste zur Vorbereitung von Beförderungsauswahlentscheidungen für Polizeivollzugsbeamtinnen und -beamte bei der Polizeidirektion Hannover" vom 29. Dezember 1997 unter Nr. 5.1 vor, dass die unter Nr. 1.3 a) und b) genannten Kriterien in der dortigen Reihenfolge als Hilfskriterien herangezogen werden. Danach würde der Umstand, dass der Beigeladene bereits im Dezember 1994 gemäß § 17 a Abs. 4 PolNLVO für die Laufbahn des gehobenen Dienstes zugelassen worden ist, während der Antragsteller erst im September 1995 die Laufbahnprüfung für den gehobenen Dienst bestanden hat, zu Gunsten des Beigeladenen ausschlaggebend sein. Nach Nr. 5.1 der Kriterienliste vom 29. Dezember 1997 können allerdings in besonders gelagerten Einzelfällen davon abweichende Beförderungsentscheidungen getroffen werden. Eine solche abweichende Beförderungsentscheidung kann angesichts der bereits dargestellten wesentlich besseren Leistungsentwicklung des Antragstellers im mittleren Dienst in Betracht kommen (vgl. in diesem Sinne auch Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.). Auch ist zu berücksichtigen, dass der Beigeladene zwar früher als der Antragsteller für die Laufbahn des gehobenen Dienstes zugelassen worden ist. Der Beigeladene ist jedoch trotz der früheren Zulassung später als der Antragsteller zum Polizeikommissar befördert worden. Bei Würdigung dieser Umstände besteht die realistische Möglichkeit, dass eine Beurteilung des Antragstellers, die auch die Zeit bis zur Auswahlentscheidung einbezieht (1.6.1997 bis Mai 1999), zu einer Auswahl des Antragstellers führen kann. Denn in welcher Weise die Antragsgegnerin ihr Auswahlermessen unter Berücksichtigung der nach den vorstehenden Ausführungen erforderlichen erneuten dienstlichen Beurteilung ausüben wird, ist gegenwärtig nicht feststellbar (vgl. ebenso Nds. OVG, Beschl. v. 18.11.1999, a.a.O.).

17

Nach alledem ist es zur Sicherung des Bewerbungsverfahrensanspruchs des Antragstellers erforderlich, ihm den beantragten einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren (vgl. zur zeitlichen Begrenzung des einstweiligen Rechtsschutzes in Fällen dieser Art, Nds. OVG, Beschl. v. 9.2.2000, a.a.O.; Beschl. v. 25.11.1996 - 2 M 4952/96 -, NdsRpfl. 1997, 59, 60; Beschl. v. 5.4.1995 - 2 M 924/95 -, NdsRpfl. 1995, 136, 138; Beschl. v. 7.10.1993 - 2 M 2841/93 -; Beschl. v. 18.6.1993 - 5 M 1488/93 -, DVBl. 1993, 959).