Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.02.2000, Az.: 1 L 4549/99
Ernstliche Zweifel; Gegenvorstellung; Zwangsmittelfestsetzung; Überraschungsentscheidung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 11.02.2000
- Aktenzeichen
- 1 L 4549/99
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41847
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - AZ: 4 A 1551/98
Rechtsgrundlagen
- § 67 GefAG ND
- § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO
- § 124a Abs 2 S 3 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Beschlüsse, durch welche die Zulassung der Berufung abgelehnt worden ist und die gemäß § 124 a Abs. 2 Satz 3 VwGO die Rechtskraft der vorangegangenen Entscheidung zur Folge haben, können grundsätzlich nicht mit der Gegenvorstellung angegriffen werden (u. a. im Anschluss an BVerwG, B. v. 8.3.1995 - 11 C 25.93 -, NJW 1995, 2053). Etwas anderes gilt u. U. bei Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 oder Art. 103 Abs. 1 GG.
2. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt erst dann vor, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretener Rechtsauffassungen nicht damit zu rechnen brauchte, das Gericht werde auf einen bestimmten Gesichtspunkt entscheidungserheblich abstellen.
3. Begehrt ein Beteiligter gestützt auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der Berufung, darf er sich nicht auf den vom Verwaltungsgericht gewählten rechtlichen Gesichtspunkt beschränken, sondern muss in seinem Zulassungsantrag auch die weiteren Voraussetzungen in Blick nehmen, deren Erfüllung erst das von ihm favorisierte Entscheidungsergebnis zu tragen vermag.
4. Beschränkt sich der Kläger auf die Anfechtung der Zwangsmittelfestsetzung (hier: Zwangsgeld), ist die Rechtmäßigkeit der auf den vorangegangenen Stufen getroffenen Entscheidungen (Grundverfügung und Zwangsmittelandrohung) selbst dann nicht zu prüfen, wenn diese lediglich sofort vollziehbar, d. h. noch nicht bestandskräftig geworden sind.
Gründe
Mit dem angegriffenen Beschluss lehnte der Senat den Antrag auf Zulassung der Berufung ab, soweit sich dieser gegen die Festsetzung des Zwangsgeldes im Bescheid des Beklagten vom 5. März 1998 richtete. Wegen der Begründung wird auf den Inhalt des angegriffenen Beschlusses verwiesen.
Hiergegen richtet sich die nach Art einer Verfassungsbeschwerde-Schrift formulierte Gegenvorstellung des Klägers. Diese hat keinen Erfolg. Sie ist unstatthaft.
Gegenvorstellungen gegen Beschlüsse, die den Eintritt der Rechtskraft der vorinstanzlichen Entscheidung zur Folge haben (vgl. BVerwG, Beschl. vom 12.9.1998 - 5 B 750.88 -, Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 273; vgl. auch Beschlüsse vom 13.4.1989 - 1 B 21.89 - V.n.b. und vom 8.3.1995 - 11 C 25.93 -, NJW 1995, 2053 = Buchholz 303 § 308 ZPO Nr. 3) sind unstatthaft. Diese können im Regelfall nur mit dem ordentlichen Rechtsbehelf angegriffen werden, welche die VwGO vorsieht.
Diese Grundsätze greifen zum Nachteil des Klägers ein, weil das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 24. Juni 1999 im Umfang der Zurückweisung des Zulassungsantrages gemäß § 124 a Abs. 2 Satz 3 VwGO rechtskräftig geworden ist.
Ob ausnahmsweise etwas anderes zu gelten hat, wenn Art. 101 Abs. 1 Satz 2 (hier nicht gerügt) oder Art. 103 Abs. 1 GG offenkundig verletzt sind (vgl. BVerwG, a.a.O.), kann (auch) hier unentschieden bleiben. Denn entgegen der Annahme des Klägers stellt der angegriffene Senatsbeschluss vom 30. November 1999 nicht zu dessen Lasten eine Überraschungsentscheidung dar, die Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschlüsse vom 11.5.1999 - 9 B 1076.98 -; 12.2.1999 - 3 B 169.98 -; 1.2.1999 - 10 B 4.98 -) und des Bundesverfassungsgerichts (Beschlüsse vom 31.5.1995 - 2 BvR 736/95 - und vom 13.10.1994 - 2 BvR 126/94 -, DVBl. 1995, 34 = InfAuslR 1995, 69) muss ein Gericht nur dann auf einen rechtlichen Gesichtspunkt gesondert vorab hinweisen, wenn auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretener Rechtsauffassungen nicht damit zu rechnen brauchte, das angerufene Gericht werde auf diesen abstellen.
Auf diesen Grundsatz beruft sich der Kläger ohne Erfolg. Er hatte selbst auf S. 2 der Zulassungsantragsschrift vom 27. August 1999 die (auch auf Seite 4 der Gegenvorstellungsschrift vom 7. Januar 2000 erneut in Bezug genommene) Belegstelle bei Götz (Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl., 1995, Rdnr. 382) zitiert und durch die weiteren Ausführungen auf S. 2 der Zulassungsantragsschrift vom 27. August 1999 zu erkennen gegeben, er rechne damit, dass es schon im Zulassungsverfahren auf die Frage ankommen werde, ob die dem allein angegriffene Bescheid vom 5. März 1998 vorangegangenen Bescheide auf ihre Rechtmäßigkeit zu untersuchen seien, obwohl sie hier nicht angegriffen worden waren. Von einem überraschend eingeführten rechtlichen Gesichtspunkt kann daher keine Rede sein.
Dies gilt nicht nur hinsichtlich der materiell-, sondern auch im Hinblick auf die verfahrensrechtliche Seite. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO lässt die Zulassung der Berufung - wie im Senatsbeschluss vom 30. November 1999 ausgeführt - nur dann zu, wenn für das vom Zulassungsantragsteller favorisierte Entscheidungsergebnis - auf dieses kommt es an - die besseren Gründe sprechen, d.h. ein Obsiegen in der Hauptsache (d.h. in der Berufung) wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen (vgl. Beschluss des Senats vom 31.7.98 - 1 L 2696/98 -, NVwZ 1999, 431). Dafür reicht es nicht aus, dass einzelne Begründungselemente der erstinstanzlichen Entscheidung voraussichtlich durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnen. Vielmehr ist die Durchführung eines Berufungsverfahrens auf der Grundlage von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO erst dann gerechtfertigt, wenn gewichtige Gründe für die Annahme sprechen, dort werde das Verfahren im Ergebnis einen anderen, den Zulassungsantragsteller günstigen Ausgang nehmen. Dementsprechend hat der Zulassungsantragsteller - wie in der Antragsschrift vom 27. August 1999 ja auch geschehen - im Rahmen der Darlegung (§ 124 a Abs. 1 Satz 3 VwGO) auch die weiteren Voraussetzungen für eine ihm günstige Entscheidung in Blick zu nehmen, wenn er gestützt auf § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der Berufung begehrt.
Diese Senatsrechtsprechung ist keineswegs vereinzelt, sondern wird beispielsweise in der Kommentierung von Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll (VwGO 1999, § 124 RdNr. 25 m.w.N. der Fußnote 22) vertreten. Ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbevollmächtigter konnte sich daher hierauf einstellen.
Selbst wenn es im Rahmen der Gegenvorstellung darauf ankäme, läge in dieser Handhabung des Zulassungsrechts eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG jedenfalls hier nicht. Gerade die in der Gegenvorstellungsschrift (Seite 4 f) aufgeführten Belegstellen zeigen zweierlei:
Erstens ist es nicht in einer jede weitere Ausführung entbehrlich machenden Weise selbstverständlich, dass sich ein Ordnungspflichtiger auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens gegen die letzte Verfügung beschränken und schon dadurch eine Nachprüfung aller vorangegangenen, zwar mit dem Widerspruch angegriffenen, aber sofort vollziehbaren Verwaltungsakte erreichen kann.
Zweitens ist es auch in materieller Hinsicht nicht so selbstverständlich, dies zum Vorteil des Klägers anzunehmen, dass es insoweit eines Hinweises des Senats bedurft hätte, bevor dieser zu dieser Frage im Zulassungsverfahren hätte Stellung nehmen dürfen. Die vom Kläger auf Seite 4 f. der Gegenvorstellungsschrift angeführten Entscheidungen tragen seine Auffassung größtenteils nicht. Der Hinweis auf den Gerichtsbescheid des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997 - 1 A 10.95 -, NVwZ 1998, 393, 394) geht fehl. Dort waren sowohl die Grundverfügung als auch der Bescheid über die Zwangsmittelandrohung angefochten worden, welche der dann ebenfalls angegriffenen Zwangsgeldfestsetzung vorangegangen waren. Diese Entscheidung kann die These des Klägers vom "Rechtswidrigkeitszusammenhang" also gerade nicht stützen. Dasselbe gilt für das Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom 29. Mai 1997 - 2 A 83/96 -, NVwZ-RR 1998, 468). Entgegen dem zumindest missverständlich formulierten Leitsatz 1 war die hier interessierende Frage, ob die Rechtmäßigkeit sofort vollziehbarer, aber noch nicht unanfechtbarer/bestandskräftiger Grundverfügungen und Zwangsmittelandrohungen bei der Überprüfung nachfolgender Vollstreckungsmaßnahmen zu überprüfen ist, unter 2.2.1 der Entscheidungsgründe (a.a.O. rechte Spalte) gerade unentschieden geblieben. Lediglich im Urteil des Baden-Württembergischen VGH vom 17. August 1995 (- 5 S 71/95 -, NVwZ-RR 1996, 612, 613/614) ist zum baden-württembergischen Landesrecht ohne nähere und tragfähige Begründung anderes entschieden worden. Die Darlegungen des Baden-Württembergischen VGH erschöpfen sich in einer These. Es ist nach Auffassung des Senats nach wie vor nicht in einer die Berufungszulassung nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zulassenden Weise ernstlich zweifelhaft, dass diese Frage zum Nachteil des Klägers zu beantworten ist. Grundverfügung sowie Androhung und Festsetzung eines Zwangsgeldes sind jeweils selbständig anfechtbare Verwaltungsakte. Den §§ 64 Abs. 1, 67 und 70 NGefAG lassen sich keine Hinweise darauf entnehmen, bei isolierter Anfechtung nur eines der Vollstreckungsakte müsse jedenfalls dann die Rechtmäßigkeit vorangegangener Verwaltungsakte überprüft werden, wenn diese noch nicht bestandskräftig geworden sind. Es ist ja gerade Ziel ihrer jeweiligen Anfechtbarkeit, dem Betroffenen die Möglichkeit zu ihrer Überprüfung zu geben. Macht er davon keinen Gebrauch, so gehen die daraus ersichtlichen Folgen zu seinen Lasten. Darin liegt auch kein Versstoß gegen Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Das darin enthaltene Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, und das Verbot, dieser Rechtsfindung unzumutbar zu erschweren, sagt nicht, dass die für den Betroffenen jeweils bequemste Rechtschutzform gewählt werden müsste. Sind die vorangegangenen Verwaltungsakte - wie hier - gerichtlich noch zu überprüfen, kann es dem Kläger angesonnen werden, dies in dem jeweils prozessual zulässigen Umfang dann auch zu tun. Das gilt ungeachtet des Umstandes, ob sich in diesen anderen - vom Kläger eben noch nicht eingeleiteten - Gerichtsverfahren im wesentlichen dieselben Rechtsfragen stellen würden. Das ist kein Gesichtspunkt, der für die Anwendung des Prozessrechts bei Beachtung des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zwingend Beachtung finden müsste. Sind die Verwaltungsakte wie hier sofort vollstreckbar, stellt § 80 Abs. 5 VwGO ein ausreichendes Instrumentarium zur Erlangung effektiven Rechtsschutzes zur Verfügung. Das gilt namentlich wegen seines Satzes 3, der bei entsprechender, vom Kläger allerdings durch Eilantragstellung zu initiierende Eilentscheidung die Aufhebung nachfolgender Vollziehungsmaßnahmen ermöglicht haben würde. Ob das jetzt noch in Frage kommt, nachdem der Senat in dem angegriffenen Beschluss vom 30. November 1999 - 1 L 3475/99 - die dem Kläger nachteilige Entscheidung hat zum Teil rechtskräftig werden lassen, braucht hier nicht geprüft zu werden. Denn für Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG reicht es aus, dass für den Kläger diese Möglichkeit bestanden hat. Das Zulassungsrecht muss auch rücksichts dieser verfahrensrechtlichen Gewährleistung des Grundgesetzes nicht in einer Weise gehandhabt werden, welches vorangegangene Verfahrensversäumnisses des Klägers kompensiert.
Zu § 124 Abs. 2 Nr. VwGO hatte der Kläger in der Zulassungsantragsschrift keine Grundsatzfrage aufgeworfen, welche die hier interessierende Frage des "Rechtswidrigkeitszusammenhangs" ergriffen haben würde.