Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.08.2010, Az.: 11 LB 425/09

Ausweisung eines in Deutschland aufgewachsenen Ausländers mit minderjährigen deutschen Kindern wegen Begehung mehrerer, teilweise lebensgefährdender Körperverletzungen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
11.08.2010
Aktenzeichen
11 LB 425/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 22620
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0811.11LB425.09.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Göttingen - 30.03.2009 - AZ: 2 A 206/08

Fundstelle

  • DVBl 2010, 1322

Amtlicher Leitsatz

Zur Ausweisung eines im Bundesgebiet aufgewachsenen Ausländers mit minderjährigen deutschen Kindern wegen mehrerer, teilweise lebensgefährdender Körperverletzungen

Tatbestand

1

Der Kläger wendet sich im vorliegenden Verfahren vorrangig gegen seine Ausweisung und begehrt ergänzend die Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis (aus familiären Gründen), hilfsweise die Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer.

2

Er wurde am 28. Mai 1980 in Beirut (Libanon) geboren, ist libanesischer Staatsangehöriger und verfügte in der Vergangenheit auch über einen Nationalpass, dessen Gültigkeitsdauer inzwischen aber abgelaufen ist. Er reiste 1985 mit seinen Eltern und mehreren Brüdern in das Bundesgebiet ein. Ein Asylverfahren blieb erfolglos. Im Dezember 1990 wurde ihm aufgrund einer Bleiberechtsregelung des Niedersächsischen Innenministeriums vom 18. Oktober 1990 eine Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe des Ausländergesetzes erteilt, die - nach mehrfachen Verwarnungen des Klägers wegen der Begehung von Straftaten - zuletzt bis zum 31. Juli 1999 verlängert wurde.

3

Am 12. August 1998 ehelichte der Kläger die deutschen Staatsangehörige Frau B., geboren am 17. Mai 1978, frühere Patientin des damaligen Landeskrankenhauses C. (bei D.). Deshalb wurde ihm antragsgemäß im Januar 1999, d.h. noch vor dem Ablauf seines vorherigen Aufenthaltstitels, eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen erteilt, die zuletzt im November 2002 um ein Jahr bis zum 4. November 2003 verlängert wurde. Aus der im Juli 2004 geschiedenen Ehe mit Frau B. sind die beiden Kinder des Klägers E., geboren am 20. Februar 1999, und F., geboren am 12. April 2002, hervorgegangen. Die frühere Ehefrau des Klägers zog allerdings bereits im März 2000 mit ihrer Tochter E. nach G., während der Kläger - mit einer kurzen Unterbrechung im Sommer 2002 - in D. verblieb. Seit wann der Kläger von seiner Ehefrau tatsächlich getrennt lebte, lässt sich den Akten nicht genau entnehmen, spätestens aber seit Mitte 2004. Von diesem Zeitpunkt an lebte er nämlich nach der Scheidung von seiner Ehefrau mit der deutschen Staatsangehörigen H. in D. zusammen.

4

Aus der Beziehung mit I. ist die am 29. November 2004 geborene Tochter J. des Klägers hervorgegangen; nach seinen Angaben ist der Kläger für J. - aber nicht für die beiden älteren Kinder - mitsorgeberechtigt. Nach seinen weiteren Angaben lebt er auch gegenwärtig mit Frau H. und der gemeinsamen Tochter J. in D. zusammen.

5

Ob der Kläger auch der Vater des am 30. Mai diesen Jahres geborenen Sohnes K. von Frau L., mit der er zwischenzeitlich eine Beziehung hatte, ist, ist bislang ungeklärt und Gegenstand eines Verfahrens vor dem Amtsgericht D.; wegen der Einzelheiten wird auf die Anlagen 2 bis 4 zum Schriftsatz des Klägers vom 15. Juli 2010 verwiesen.

6

Im Bundesgebiet leben die Eltern sowie mehrere volljährige, teilweise eingebürgerte Brüder des Klägers. Ein weiterer, im Bundesgebiet straffällig gewordener Bruder wurde in den Libanon abgeschoben, lebt dort und bemüht sich nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung bislang vergeblich um eine Rückkehr nach Deutschland.

7

Der Kläger besuchte nach Aktenlage bis zur 8. Klasse eine Förderschule, erzielte aber keinen Schulabschluss. Nach seinem "Lebenslauf" hat der Kläger in den Jahren 2006/2007 an einem Vorbereitungskurs für den Hauptschulabschluss teilgenommen, einen solchen Abschluss aber nicht erreicht. Erneute Bestrebungen, nachträglich den Hauptschulabschluss zu erwerben oder aktuell zumindest einen entsprechenden Vorbereitungskurs zu besuchen, sind bislang nicht verwirklicht worden. Nach dem psychologischen Gutachten der Agentur für Arbeit Göttingen vom 9. Oktober 2009 verfügt der Kläger nur über ein "weit unterdurchschnittliches allgemeines intellektuelles Leistungsvermögen"; es sei von einer Lernbehinderung auszugehen, so dass ihm das Erreichen des Hauptschulabschlusses nicht zuzutrauen sei. Über eine Berufsausbildung verfügt der Kläger ebenfalls nicht. Er nahm aber an beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen teil und übte in der Vergangenheit mehrere Anlerntätigkeiten aus; insoweit wird wegen der Einzelheiten auf seinen "Lebenslauf" in der Anlage 1 zu seinem Schriftsatz vom 15. Juli 2010 verwiesen.

8

Der Kläger fiel bereits im strafunmündigen Alter wegen Diebstahls einer Jeans auf. Nach dem Eintritt der Strafmündigkeit schloss sich eine Vielzahl von - teilweise nach § 154 StPO eingestellten - Ermittlungsverfahren an; wegen der Einzelheiten nach dem Stand vom Oktober 2000 wird auf die Übersicht der Polizeiinspektion D. vom 16. Oktober 2000 (Bl. 139 f. Beiakte A) Bezug genommen. Verurteilt wurde der Kläger als Jugendlicher bzw. nach Maßgabe des Jugendstrafrechts wie folgt:

  • - am 21. Juli 1994 wegen Diebstahls geringwertiger Sachen in drei Fällen zu 40 Stunden gemeinnütziger Arbeit, - am 5. Januar 1995 wegen versuchten Diebstahls in einem schweren Fall zu einer sechsmonatigen Teilnahme an einem sozialpädagogischen Gruppenkurs der Stadt D., - am 11. Januar 1996 wegen Hausfriedensbruchs, Beleidigung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Beleidigung und Bedrohung zu einer (weiteren) drei Monate dauernden Teilnahme am sozialen Trainingskurs der Stadt D. und - am 5. November 1998 wegen Bedrohung, Beleidigung und Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung erstmals zu einer Jugendstrafe von sechs Monaten.

  • - Unter Einbeziehung des vorhergehenden Urteils vom 5. November 1998 wurde der Kläger wegen einer weiteren Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung in zwei Fällen und übler Nachrede mit Urteil des Amtsgerichts D. vom 6. Juli 1999 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

  • Aus den beiden vorhergehenden Urteilen wurde zusammen mit der Strafe für die Begehung einer weiteren Straftat mit Urteil vom 16. Mai 2000 eine neue Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten gebildet, die nochmals zur Bewährung ausgesetzt wurde; der letztgenannten Verurteilung lag eine am 13. Juli 1999 begangene gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung zugrunde. Der Kläger hatte mit einem 30 cm langen Küchenmesser auf das Opfer eingestochen und ihm stark blutende Schnitt- und Schürfwunden im Gesichtsbereich zugefügt. Im Rahmen der Strafzumessung wurde ausgeführt, dass die letztgenannte Tat ca. einen Monat nach der letzten Verurteilung und noch während des Laufs der Bewährung begangen worden sei. Auch habe es sich bei der Tat um ein ähnlich aggressives und gefährliches Verhalten wie in den Vorverurteilungen gehandelt. Andererseits habe sich der Kläger regelmäßig und zuverlässig in die Therapie der Kinder- und Jugendpsychiatrie begeben und erhalte derzeit Medikamente, um seinen Aggressionstrieb zu dämpfen. Dem Kläger werde durch die Aussetzung einer Jugendstrafe zur Bewährung zum dritten Mal die Gelegenheit gegeben, mit Hilfe der Therapie und eines Bewährungshelfers sein Verhalten zu ändern.

9

Sein damaliger Bewährungshelfer berichtete im Februar 2002 (vgl. Bl. 165 ff. Beiakte A), dass der Kläger "zurückliegend verschiedene Arbeitsstellen, aber auch Bildungsmaßnahmen entweder abgebrochen oder durchlaufen habe, darüber hinaus von Leistungen der Sozialhilfe abhängig gewesen sei. Als Hauptgrund für die zurückliegenden Straffälligkeiten des Klägers stelle sich sein erhebliches Aggressionspotenzial in Verbindung mit Gewaltbereitschaft dar. Es sei erst nach einiger Zeit und erneuter Verurteilung möglich gewesen, den Kläger an eine entsprechende Therapie heranzuführen, die er in D. bei der Kontakt- und Beratungsstelle für Jugendliche habe vornehmen lassen. Nach einer mehr als einjährigen Dauer sei die Therapie beendet worden und der Kläger seitdem nicht mehr in strafrechtlicher Hinsicht aufgefallen. Es bestünde durch die Therapie ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit der Nachreifung und Entwicklung des Klägers im Sinne eines straffreien Verhaltens".

10

Mit Beschluss des Amtsgerichts D. vom 5. Juni 2002 wurde die Jugendstrafe erlassen und der Strafmakel als beseitigt erklärt.

11

Am 17. Januar 2005 wurde der Kläger wegen einer im Januar 2004 begangenen vorsätzlichen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Der damals als sog. Türsteher in einer Diskothek tätige Kläger schlug sein Opfer mit der Hand sieben bis zehn Mal ins Gesicht, wobei er das linke Auge und Ohr des Geschädigten traf, und sowie nachfolgend noch weitere zwei bis drei Mal mit der Faust auf den Geschädigten ein, wodurch das Opfer insbesondere im Bereich des linken Auges Prellungen und Blutergüsse sowie drei Risse im Trommelfell erlitt und eine Woche arbeitsunfähig war.

12

Am 28. November 2004 schlug der Kläger unter Einfluss von Alkohol und Kokain mehrfach mit einer Bierflasche auf den Kopf seines Opfers ein, das dadurch ein Schädelhirntrauma ersten Grades mit insgesamt sechs Platzwunden auf dem Schädel davontrug. Da der Kläger diese gefährliche Körperverletzung bereits vor seiner o. a. Verurteilung vom Januar 2005 begangen hatte, wurde der Kläger mit Urteil des Landgerichts D. vom 18. Juli 2006 unter Einbeziehung des vorherigen Urteils vom 17. Januar 2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, die unter Einbeziehung der Vorverurteilung nochmals zur Bewährung ausgesetzt wurde.

13

Gleichzeitig, d.h. ebenfalls durch Urteil vom 18. Juli 2006 wurde der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei weiteren Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Kläger hatte am 26. Mai 2005 auf einem Tankstellengelände in D. einem seiner beiden Opfer mit Verletzungsabsicht eine ca. 8 cm lange und 1,5 cm breite Klinge eines kleinen Taschenmessers zwischen einem und drei Mal in den Oberkörper gestoßen, wobei das Opfer drei Stichverletzungen davontrug, eine Verletzung an der rechten Brustwarze, eine an der linken Brustkorbseite in Höhe des mittleren Brustkorbs und ca. 10 cm tiefer und leicht nach hinten versetzt eine dritte. Zudem erlitt das Opfer eine weitere ca. 12 cm lange Stichverletzung oberhalb der linken Augenbraue und sowie eine ca. 1, 2 cm lange Wunde am Hals. Die Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich, die Stichbewegungen des Klägers gefährdeten jedoch das Leben des ersten Opfers. Danach wandte sich der Kläger dem zweiten Opfer zu und stach diesem mit seinem Messer gewollt in die linke Brustkorbseite. Der Stich reichte aus, um das Weichteilgewebe zu durchdringen und bis in den Thorax einzudringen. Diese Stichverletzung war lebensgefährlich, da sie ohne Behandlung zum Tode hätte führen können. Zur Strafzumessung wurde im Urteil des Landgerichts ausgeführt, dass die Steuerungsfähigkeit des Klägers im Zeitpunkt der Verletzungshandlungen wegen einer anderen seelischen Abartigkeit (alkohol- und drogenverstärkte Impulskontrollstörung) in Verbindung mit einer krankhaften Hirnveränderung (leichte Hirnatrophie) mit Sicherheit eingeschränkt gewesen sei. Zur Person des Klägers enthielt das Strafurteil u.a. folgende ergänzende Ausführungen: Seit seiner Kindheit sei der Kläger, der seinen eigenen Angaben zufolge von seinem Vater oft geschlagen worden sei, leicht ausgerastet. Bei ihm bestehe seit der Vorschulzeit eine ausgeprägte Impulskontrollstörung. Seitdem sei sein Leben durch aggressive Durchbrüche geprägt. Dass er nach der Grundschul- und Orientierungsstufenzeit eine Sonderschule habe besuchen müssen, hätte nicht etwa auf einem eingeschränkten Leistungsniveau, sondern auf seinem mangelnden sozialen Verhalten beruht; andere D. Schulen seien nicht bereit gewesen, ihn aufzunehmen. 1999 habe sich der Kläger wegen seiner Aggressivität, die u.a. auch gegen den eigenen Vater und die Ehefrau gerichtet gewesen sei, an den Diplompsychologen M. von der Kontakt- und Beratungsstelle für Jugendliche und junge Erwachsene in D. gewandt. Der Kläger, der zu dieser Zeit nicht nur mit Haschisch, sondern auch mit Aufputschmitteln und Kokain Erfahrung gehabt habe, sei daraufhin zwei Wochen lang stationär in der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie untersucht und behandelt worden. Dort sei eine allgemeine leichte Hirnatrophie festgestellt worden. Ihm sei dringend nahegelegt worden, auf die weitere Einnahme von Drogen zu verzichten. Ergänzend wurde vom Landgericht ausgeführt, dass sich der Kläger von seiner geschiedenen Ehefrau ungefähr 2001 getrennt habe.

14

Der Kläger stellte am 30. Oktober 2003 einen Antrag auf Verlängerung seiner am 4. November 2003 ablaufenden Aufenthaltserlaubnis. Zur Begründung berief er sich zunächst auf ein beabsichtigtes (weiteres) Zusammenleben mit seiner Ehefrau und seinen beiden (ältesten) Kindern. Im Juli bzw. August 2004 modifizierte er diesen Antrag dahingehend, dass er nunmehr mit seiner neuen Freundin, Frau H., zusammenlebe, die im November 2004 ein Kind von ihm erwarte.

15

Die Beklagte stellte die Entscheidung über den Verlängerungsantrag im Hinblick auf die Strafverfahren und weitere Ermittlungen zunächst längere Zeit zurück und erteilte dem Kläger für die Übergangszeit Fiktionsbescheinigungen. Nach Anhörung wurde der Kläger mit Bescheid vom 11. Januar 2007 (vgl. Bl. 337 ff. Beiakte A) ausgewiesen, sein Antrag auf Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt, er zur Ausreise binnen Monatsfrist aufgefordert und ihm anderenfalls im unmittelbaren Anschluss an die zu verbüßende Strafhaft die Abschiebung in den Libanon angedroht. Der Bescheid wurde durch rechtskräftiges Urteil des Verwaltungsgerichts D. - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 9. Mai 2008 (2 A 24/07) aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beklagte bei ihrem aufgehobenen Ausweisungsbescheid vom 11. Januar 2007 noch nicht die - erst danach ergangene - neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts berücksichtigt habe. Danach sei vorliegend allenfalls eine Ermessensausweisung möglich; die Ermessensausübung müsse sich nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung richten. Eine erneute Ermessensentscheidung (hinsichtlich der Ausweisung) sei möglich, da nach dem gegenwärtigen Verfahrensstand die Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf Null insoweit nicht zu erkennen seien. Eine solche erneute ermessensfehlerfreie Entscheidung sei auch hinsichtlich des Antrags des Klägers auf Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels - der im Urteil versehentlich als Niederlassungserlaubnis bezeichnet wurde - erforderlich.

16

Nach vorheriger Anhörung wies die Beklagte den Kläger mit dem hier streitigen Bescheid vom 25. August 2008 erneut aus. Zugleich lehnte sie seinen Antrag auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels ab und drohte ihm die Abschiebung in den Libanon oder einen anderen aufnahmebereiten oder -verpflichteten Drittstaat u.a. vorsorglich für den Fall an, dass die Abschiebung nicht aus der Strafhaft erfolgen könne und er das Bundesgebiet nicht binnen eines Monats nach seiner Haftentlassung freiwillig verlasse. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger durch die strafgerichtlichen Verurteilungen grundsätzlich den Tatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG für eine sog. Ist-Ausweisung erfüllt habe. Er genieße jedoch nach § 56 Abs. 1 Nrn. 2 und 4 AufenthG besonderen Ausweisungsschutz, so dass die Ausweisung gemäß § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu einer Regelausweisung herabgestuft sei. Da sich der Kläger seit seinem fünften Lebensjahr im Bundesgebiet aufhalte, werde unter Bezugnahme auf höchstrichterliche Rechtsprechung weiterhin zu seinen Gunsten davon ausgegangen, dass ein atypischer Fall vorliege und die Ausweisung demnach lediglich noch nach Ermessen erfolgen könne. Bei dieser notwendigen Ermessenserwägung habe sich die Beklagte insbesondere an den Kriterien orientiert, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisungsverfügung gegenüber straffällig gewordenen Zuwanderern der zweiten Generation bzw. gegenüber sich seit der frühen Kindheit im Gastland befindlichen Ausländern mit dort lebenden Familienangehörigen - wie der Kläger - entwickelt habe. Maßgebend seien danach u.a. die Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftat, die Dauer seines Aufenthalts im Aufnahmestaat, die seit der Tatzeit verstrichene Zeitspanne und das Verhalten des Ausländers seit dieser Zeit, die Staatsangehörigkeit der verschiedenen Betroffenen, die familiäre Situation des Klägers einschließlich der Tatsache, ob ein etwaiger Ehegatte bei Aufnahme der Beziehung über die Straftaten informiert gewesen sei, sowie der Umstand, ob aus seiner Ehe bzw. Beziehung Kinder hervorgegangen seien, und wenn ja, in welchem Alter. Danach sei vorliegend zu berücksichtigen, dass sich der Kläger seit frühester Kindheit in Deutschland aufhalte und im Bundesgebiet seine gesamte Schulzeit verbracht habe, ohne allerdings einen Schulabschluss zu erwerben. Da die Eltern des Klägers nicht deutsch sprächen, sei ferner davon auszugehen, dass er auch die Landessprache des Libanons, also arabisch, beherrsche. Die vom Kläger begangenen Straftaten - die Beklagte hat insoweit nur auf die Straftaten des Klägers als Erwachsener abgestellt - seien Gewalttaten und wögen dementsprechend schwer. Zudem sei er teilweise auch straffällig geworden, als er noch unter Bewährung gestanden habe. Bei der Prüfung seines persönlichen Verbleibinteresses seien neben den Interessen seiner Familienangehörigen sein Alter, sein Gesundheitszustand, die Lebensverhältnisse im Heimatland, die Intensität seiner Anbindung im Gaststaat, Sprache, Innehaben von Arbeit und Wohnung, Schul- und Ausbildung, aber auch sein allgemeiner Lebenswandel zu berücksichtigen. Insoweit gab die Beklagte die bereits oben angeführten Lebensumstände des Klägers wieder. Sie wertete diese Umstände dahingehend, dass die Lebensgemeinschaft des Klägers mit seinen beiden älteren, bei der Mutter in G. lebenden Kindern E. und F. als eher lose zu bezeichnen sei. Jedenfalls könne aus der familiären Situation nicht der Schluss gezogen werden, dass das Wohl der Kinder im Falle einer Rückkehr des Klägers in den Libanon einer unvertretbaren Gefahr ausgesetzt sei. Die 2004 geborene Tochter J. habe bereits die längste Zeit ihres jungen Lebens ohne ihren Vater verbringen müssen und ihn allenfalls wenige Stunden in Haft besuchen können. Auch hier scheine eine Gefahr für das Wohl des Kindes nicht zu drohen. Zudem befänden sich die Kinder in einem anpassungsfähigen Alter. Auch wenn der Kläger zur Bekämpfung seiner Aggression an psychologischen Gesprächen und weiteren Maßnahmen in der Haft teilnehme, so bliebe seine Persönlichkeitsstörung doch unverändert bestehen. Er benötige auch nach dem Abschluss der gegenwärtigen Therapie in Haft mutmaßlich lebenslang einer psychologischen Betreuung. Die von einem Psychologen geäußerte Einschätzung, der Kläger habe aus den begangenen Straftaten die notwendigen Lehren gezogen und werde nicht wieder straffällig werden, könne somit nicht geteilt werden. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger schon im strafunmündigen Alter strafauffällig geworden sei und danach wiederholt ab einem Lebensalter von 14 1/2 Jahren. Trotz mehrerer Verwarnungen und Teilnahme an sozialpädagogischen, sozialen sowie psychologischen Therapien bzw. Trainingsmaßnahmen sei es zur Begehung neuer Straftaten gekommen. Diese Therapien hätten den Kläger also nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten. Gleiches gelte für die Geburt seiner drei Kinder. Zugunsten des Klägers spreche, dass er seit der Inhaftierung nicht mehr straffällig geworden sei und sich der Vollstreckung freiwillig gestellt habe. Andererseits sei in der Haft die Möglichkeit zur Begehung weiterer Straftaten ohnehin eingeschränkt. "Auch unter Berücksichtigung der für den Kläger sprechenden Umstände, insbesondere der familiären Situation, führe die Interessenabwägung zur Ausweisung ... . Ausschlaggebend sei die Gefahr, dass es ohne die mit der Aufenthaltsbeendigung verbundene Ausweisung nach der Haftentlassung erneut zu Rechtsverstößen kommen werde." Die Ausweisung des Klägers sei nach alledem ermessensgerecht. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (aus familiären Gründen) stehe gemäߧ 11 AufenthG bereits die Sperrwirkung der verfügten Ausweisung entgegen. Zudem lägen bei dem Kläger auch nicht die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AufenthG vor. Eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (nach § 25 Abs. 5 AufenthG) könne dem Kläger schon deshalb nicht erteilt werden, weil seine Ausreise weder tatsächlich noch rechtlich unmöglich sei, insbesondere stünden weder Art. 8 EMRK noch Art. 6 GG einer Ausreise des Klägers entgegen. Rechtsgrundlage für die Festsetzung der Ausreisefrist und die Androhung der Abschiebung sei § 59 AufenthG. Die vorsorglich, d.h. für den Fall seiner Haftentlassung ohne unmittelbar nachfolgende Abschiebung, festgesetzte Ausreisefrist sei angemessen und ausreichend, private Angelegenheiten rechtzeitig vor der Ausreise bzw. Abschiebung zu regeln.

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Gegen diesen am 29. August 2008 in der Kanzlei der Bevollmächtigten des Klägers eingegangenen, vom Bevollmächtigten des Klägers nach seinen Angaben persönlich aber erst am 2. September 2008, einem Dienstag, zur Kenntnis genommenen Bescheid hat der Kläger am 30. September 2008 den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zu seinen familiären Lebensumständen hat er vorgetragen, mit seinen beiden älteren Kindern telefonisch und per Post in Kontakt zu stehen. Das Verhältnis zu seinen älteren Kindern sei liebevoll und sorgsam, wie sich aus einem Schreiben seiner geschiedenen Ehefrau ergebe. Intensiver sei sein Kontakt zu seiner jüngsten, im April (richtig wohl: November) 2004 geborenen Tochter J., mit deren Mutter - Frau H. - er in nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft zusammenlebe und für die er (mit-)sorgeberechtigt sei. Er habe während der letzten abgeurteilten Tat unter einer alkohol- und drogenverstärkten Impulskontrollstörung in Verbindung mit einer krankhaften Hirnveränderung gelitten, aber bereits Anfang 2007 in der Haft begonnen, dieser - sich durch "Gewaltausbrüche" aktualisierenden - Erkrankung präventiv zu begegnen, u.a. durch die Teilnahme an dem Programm "Soziale Kompetenz", an psychologischen Gesprächen sowie an einer Anti-Gewalt-Gruppengesprächsrunde. Nunmehr könne er seine Gewaltausbrüche steuern und beherrschen. Deshalb sei die Gefahr gering, dass er weitere Straften, etwa Körperverletzungen, begehe. Das zeige sich auch in seiner Reaktion auf einen im Juli 2008 erfolgten Übergriff durch einen Mithäftling. Dabei sei ihm mittels einer "Kopfnuss" das Nasenbein gebrochen worden. Gleichwohl habe er nicht mit Aggressionen reagiert. Zudem habe er innerhalb der Haft erfolgreich an Qualifizierungsmaßnahmen im Bereich des Garten- und Landschaftsbaus teilgenommen. Vor diesem Hintergrund habe die Beklagte bereits zu Unrecht das Vorliegen der Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG bejaht. Dazu hätte es einer einzelfallbezogenen Prüfung seiner Gefährlichkeit bedurft. Aus den in Bezug genommenen Stellungnahmen der Psychologen und seinem Verhalten bei dem geschilderten Übergriff durch einen Mithäftling ergebe sich jedoch, dass von ihm keine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung mehr ausgehe. Im Übrigen sei jedenfalls die Schutzwirkung des Art. 8 EMRK hinsichtlich der Beziehung zu seinen Kindern nicht hinreichend berücksichtigt worden. Eine solche schutzwürdige Beziehung bestehe auch während der Haft fort, und zwar auch zu seinen in Hamburg lebenden älteren Kindern. Dass ungeachtet dessen Gewalttaten auch nach der Rechtsprechung des EGMR eine Ausweisung rechtfertigen könnten, werde nicht verkannt. Die Beklagte habe jedoch seine gute Führung in der Strafhaft nicht hinreichend berücksichtigt, wodurch sich die Dringlichkeit des staatlichen Aufenthaltsbeendigungsinteresses vermindere. Zudem habe er sich bemüht, die Verletzungen seiner Opfer durch Schmerzensgeldzahlungen wieder gutzumachen. Die familiäre Lebensgemeinschaft insbesondere mit Frau H. und der gemeinsamen Tochter J. könne nur im Bundesgebiet, nicht aber im Libanon fortgeführt werden. Einem Umzug dorthin stünden sprachliche, kulturelle und soziale Hindernisse entgegen. Frau H. spreche kein arabisch. Der Familie sei eine Existenzsicherung im Libanon nicht möglich. Ihm, dem Kläger, sei über die Erwägungen der Beklagten hinaus zugute zu halten, dass er das deutsche Schulsystem durchlaufen habe. Dass er keinen Abschluss erzielt habe, könne "im Hinblick auf die Integration durch Bildung nicht entscheidend sein". Im Ergebnis habe die Beklagte ein überwiegendes, dringliches Aufenthaltsbeendigungsinteresse zu Unrecht bejaht, da dieses bereits durch die erfolgreiche Führung in der Haft gemindert worden sei und von dem Verbleibinteresse des Klägers überwogen werde. Ihm dürfe deshalb auch nicht allein unter Bezugnahme auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die beantragte Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis versagt werden. Ebenso wenig könne ihm vorgehalten werden, dass er nicht im Besitz eines Passes sei (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Einen solchen könne er nämlich ohne die bislang fehlende Mitwirkung der Beklagten nicht erhalten; hilfsweise werde insoweit die Ausstellung eines Ausweises für Ausländers beantragt. Im weiteren Verlauf des Verfahrens hat der Kläger Bescheinigungen über in der Haft durchgeführte Qualifizierungsmaßnahmen sowie hinsichtlich der Beteiligung an einem sozialen Training (vgl. Bl. 148 ff. Gerichtsakte) sowie Auszüge aus den Vollzugsplänen vorgelegt, auf die insbesondere wegen der ergänzenden Stellungnahme von Frau N. (Dipl.-Psychologin vom Psychologischen Dienst der JVA O.) vom März 2009 (Bl. 190 Gerichtsakte) Bezug genommen wird.

18

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2008 ... aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen,

19

hilfsweise

seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern,

20

weiter hilfsweise,

ihm einen Reiseausweis für Ausländer zu erteilen.

21

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

22

Zur Begründung hat sie über die Ausführungen in ihrem angefochtenen Bescheid hinaus darauf hingewiesen, dass die eingereichten psychologischen Stellungnahmen den Lebenslauf des Klägers unzureichend würdigten. Es werde übergangen, dass der Kläger bereits vor seiner Inhaftierung mehrere psychologische Unterstützungsmaßnahmen durchlaufen habe, ohne dass er dadurch von der Begehung weiterer Gewaltdelikte abgehalten worden sei. Zudem sei die Situation innerhalb einer Justizvollzugsanstalt mit der Lage und insbesondere den Gefährdungen in Freiheit nicht vergleichbar. So sei etwa die Möglichkeit, an Drogen zu kommen, im Vollzug erheblich eingeschränkt. Besondere psychologische Kenntnisse seien zu dieser Einschätzung nicht erforderlich. Unklar sei zudem, ob der Kläger nach seiner Haftentlassung, wie ursprünglich angegeben, die nichteheliche Lebensgemeinschaft mit der Frau H., der Mutter des gemeinsamen Kindes J., wieder aufnehmen bzw. fortführen wolle, oder aber eine Lebensgemeinschaft mit Frau L..

23

Das Verwaltungsgericht hat in der mündlichen Verhandlung u.a. den Kläger angehört. Er gab an, nach seinem Haftantritt erfahren zu haben, dass Frau H. als Prostituierte gearbeitet habe und weiter arbeite. Er beabsichtige deshalb nicht, die Beziehung zu Frau H. fortzusetzen. Vielmehr wolle er zu Frau L. nach P. ziehen und seine Tochter J. nach Klärung der Personensorge dorthin mitnehmen. Er könne grundsätzlich in D. im Möbelgeschäft seines Bruders arbeiten, wolle aber auf eigenen Beinen stehen und sich in P. eine Existenz aufbauen. Wegen der Einzelheiten der Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung und wegen der ergänzenden Angaben des als Zeugen vernommenen Herrn Q. vom Sozialtherapeutischen Dienst der Beklagten, des Anstaltspfarrers Herrn R. sowie von Frau L., die jeweils informatorisch angehört worden sind, wird auf das Protokoll der Sitzung vom 30. März 2009 Bezug genommen.

24

Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 30. März 2009 die Klage abgewiesen, soweit der Kläger die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis beantragt hatte; insoweit ist das Urteil rechtskräftig. Im Übrigen hat es den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2008 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG zu erteilen; mit rechtskräftigem Beschluss vom 2. April 2009 hat das Verwaltungsgericht außerdem die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2008 angeordnet (- 2 B 225/08 -, Beiakte D). Zur Begründung des Urteils hat es ausgeführt, dass die Ausweisung des Klägers insbesondere im Hinblick auf die schutzwürdige Beziehung zu seinen deutschen Kindern unverhältnismäßig sei. Es bestünden zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich bemühe, sein Straftat auslösendes Verhalten zu reflektieren und künftig zu meiden, den angerichteten Schaden wieder gut zu machen und sich selbst so weit fortzubilden, dass er nach seiner Entlassung aus der Strafhaft in der Lage sein werde, seinen Lebensunterhalt selbständig zu sichern. Das Gericht vermöge sich daher im Ergebnis nicht der Prognose der Beklagten anzuschließen, dass vom Kläger nach seiner Entlassung aus der Haft weitere schwere Straftaten zu erwarten seien. Zur Begründung wurde ausgeführt, für die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen spreche u.a. die Trennung von Frau Kernchen, da diese der Prostitution nachgehe und Drogen konsumiere. Der Kläger habe diese Entscheidung bewusst getroffen, um nicht wieder in das Milieu zu geraten, in dem er seinerzeit straffällig geworden sei. Dem öffentlichen Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung stünden die schützenswerten familiären Bindungen des Klägers in Deutschland, namentlich die Beziehung zu seiner jüngsten Tochter, gegenüber. Da die zugunsten des Klägers sprechenden Kriterien die gegen ihn sprechenden, insbesondere die Natur und Schwere der von ihm begangenen Straftaten, überwögen, sei seine Ausweisung ausgeschlossen. Daneben stehe ihm ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bzw. Satz 4 AufenthG zu.

25

Auf den Antrag der Beklagten hat der Senat mit Beschluss vom 25. August 2009 die Berufung gegen dieses Urteil des Verwaltungsgerichts zugelassen, soweit das Verwaltungsgericht der Klage stattgegeben hat. Zur Begründung ist vom Senat ausgeführt worden, dass die Ermessensausweisung von Ausländern eine Abwägung der gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen voraussetze und eine Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung nur in Betracht komme, wenn das schutzwürdige Interesse des betroffenen Ausländers an einem Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an seiner Ausweisung ... überwiege. Davon könne hier aber aller Voraussicht nach nicht ausgegangen werden. Aufgrund der zahlreichen, sich kontinuierlich steigernden Straftaten des Klägers, seiner Persönlichkeitsstörung, die voraussichtlich langfristige Therapien erfordere, seiner mangelnden wirtschaftlichen Integration und seiner "facettenreichen" familiären Beziehungen bestünden jedenfalls im Zulassungsverfahren ernstliche Zweifel, ob die vom Verwaltungsgericht angenommenen Voraussetzungen einer Ermessensreduzierung auf Null vorlägen.

26

Die Beklagte hat sich am 31. August 2009 zur Begründung der Berufung auf ihre umfangreichen Schriftsätze im Zulassungsverfahren bezogen. Sie bemängelt insbesondere die tatsächlichen Annahmen des Verwaltungsgerichts hinsichtlich einer vom Kläger ausgehenden Gefahr einer erneuten Straffälligkeit sowie zur Festigkeit seiner Beziehung mit Frau L. und sieht sich in ihrer Annahme, dass unter den hier gegebenen Voraussetzungen eine Ausweisung nicht kraft höherrangigem Recht ausgeschlossen sei, auch durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestärkt; wegen der Einzelheiten wird auf die vorgenannten Schriftsätze Bezug genommen. Dass die Reststrafe des Klägers nach Verbüßung von zwei Dritteln aufgrund des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts D. vom 28. Juli 2009 mit Wirkung von Anfang September 2009 an ausgesetzt und der Kläger seitdem nicht wieder straffällig geworden sei, ändere an der Beurteilung nichts. Der Kläger benötige eine fachkundige Therapie, erhalte sie aber nicht. Er könne seinen Lebensunterhalt weder gegenwärtig noch mutmaßlich zukünftig sichern. Ferner habe sich die Skepsis der Beklagten gegenüber der Dauerhaftigkeit der Beziehung des Klägers zu Frau L. bestätigt, da diese Beziehung bereits am 3. Oktober 2009 beendet worden sei. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte klargestellt, dass der Kläger auch aus ihrer Sicht derzeit mit seiner Tochter J. ein Familienleben führe. Dieser für den Kläger streitende Umstand müsse jedoch hinter dem öffentlichen Interesse zurücktreten, den Kläger, für den eine sehr schlechte Prognose gestellt werden müsse, an der Begehung weiterer Straftaten im Bundesgebiet zu hindern. Wegen der weiteren Einzelheiten ihres Vorbringens in der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll der Sitzung Bezug genommen.

27

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts D. - 2. Kammer (Einzelrichter) - vom 30. März 2009 zu ändern, soweit der Klage stattgegeben worden ist , und die Klage insgesamt abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

29

Er verweist zur Begründung auf sein bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, Ursache für den Abbruch seiner Beziehung zu Frau L. sei deren Eifersucht in Bezug auf seine Tochter J. und seine damit verbundenen Kontakte zu der Kindesmutter Frau H. gewesen. Frau L. habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder die Beziehung mit ihr zu führen oder den Kontakt mit seiner Tochter J. zu erhalten. Er habe sich dafür entschieden, mit seiner Tochter J. und mit Frau H. in D. zusammen zu leben. Mit Frau L. habe er kein Kind zeugen wollen. Auf gerichtliche Nachfrage hat der Kläger weiterhin mitgeteilt, dass er zu seinen älteren Kindern E. und F. "regelmäßigen Kontakt habe", aber nicht im Besitz des Sorgerechts sei. Er pflege auch mit der Kindesmutter Frau B. und deren Familie "Kontakt". Eine Berufstätigkeit hat der Kläger bis vor kurzem nicht ausgeübt und deshalb seinen Lebensunterhalt durch Leistungen nach dem SGB II gesichert, auf den letzten Leistungsbescheid (Bl. 427 ff. der Gerichtsakte) wird Bezug genommen. Ab dem 15. Juli 2010 hat der Kläger nach seinen Angaben eine Teilzeittätigkeit als Fahrzeugaufbereiter mit einer monatlichen Vergütung von 100,-- EUR aufgenommen. Er habe sich ernsthaft darum bemüht, den Hauptschulabschluss zu erwerben. Der Kläger verweist im Übrigen auf eine aktuelle Stellungnahme von Herrn Q. vom Sozialtherapeutischen Dienst der Beklagten. Danach nehme der Kläger seit seiner Haftentlassung 14-tägig Beratungsgespräche mit ihm wahr; dabei stünden Fragen der beruflichen und schulischen Perspektiven des Klägers sowie seine soziale Situation und seine emotionale Befindlichkeit im Vordergrund. Er sei sehr motiviert. Es gelänge ihm, auftretende Konflikte anzusprechen und Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Weitere Gespräche seien geplant. Schließlich beruft sich der Kläger darauf, arabisch nicht lesen und schreiben und im Libanon nicht finanziell Fuß fassen zu können.

30

Auf Nachfrage des Senats hat die örtliche Polizeidienststelle in D. mitgeteilt, dass gegen den Kläger seit seiner Haftentlassung keine weiteren Ermittlungsverfahren anhängig seien. Dem Senat lagen des Weiteren die Bewährungshefte für den Kläger nebst einer Stellungnahme des Bewährungshelfers vom 25. Juni 2010 an den Senat vor.

31

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsvorgänge sowie der weiteren Beiakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

32

Die Berufung der Beklagten, die sich gegen den stattgebenden Teil des Urteils des Verwaltungsgerichts richtet, hat Erfolg.

33

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist die Rechtmäßigkeit der Ausweisung, der Versagung der beantragten Aufenthaltserlaubnis, der Abschiebungsandrohung mit Fristsetzung sowie der hilfsweise gestellte Antrag auf Erteilung eines Reiseausweises für Ausländer. Denn ein entsprechender Hilfsantrag - hier hinsichtlich des Reiseausweises - fällt grundsätzlich als Streitgegenstand im zweiten Rechtszug an, wenn das Verwaltungsgericht - wie hier - dem Hauptantrag stattgegeben und dementsprechend zum Hilfsantrag keine Ausführungen gemacht hat und auf den Antrag des in erster Instanz hinsichtlich der Stattgabe des Hauptantrages unterlegenen Beklagten die Berufung zugelassen wird (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, Komm., 3. Aufl., § 124a, Rn. 287, m .w .N.).

34

Die so verstandene Berufung ist zulässig, insbesondere fristgerecht eingelegt und durch die Bezugnahme auf die umfangreichen vorherigen Stellungnahmen im Zulassungsverfahren hinreichend begründet worden, und auch begründet.

35

Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig (1.), so dass ihm schon wegen der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG keine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach §§ 27 ff. AufenthG und unabhängig davon auch nicht nach § 25 AufenthG (2.) erteilt werden kann. Nach §§ 5, 6 AufenthVO darf ihm auch kein Reiseausweis für Ausländer im Inland ausgestellt werden (3). Rechtmäßig sind schließlich auch die gesetzte Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung (4).

36

1.

Der Kläger erfüllt aufgrund der von ihm am 26. Mai 2005 begangenen Straftaten die Voraussetzungen des § 53 Nr. 1 AufenthG für eine sog. Ist-Ausweisung, genießt jedoch jedenfalls aufgrund des zum maßgebenden aktuellen Zeitpunkt zu bejahenden Zusammenlebens in familiärer Lebensgemeinschaft mit seinem (auch) deutschen Kind Naomi besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AufenthG. Die Ist-Ausweisung ist demnach gemäß § 56 Abs. 1 Satz 4 Alt. 1 AufenthG zu einer sog. Regelausweisung herabgestuft. In Übereinstimmung mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 23.10.2007 - 1 C 10/07 -, BVerwGE 129, 367 ff.) ist die Beklagte weiterhin zutreffend davon ausgegangen, dass der als Fünfjähriger in das Bundesgebiet eingereiste Kläger als sog. Ausländer der zweiten Generation anzusehen und wegen der insoweit nach Maßgabe höherrangigen Rechts gebotenen individuellen Prüfung weitergehend ein Ausnahmefall i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 4 AufenthG gegeben ist, so dass im Ergebnis vorliegend nur die auch ausgesprochene Ermessensausweisung in Betracht kommt.

37

Einer solchen Ermessensentscheidung der Beklagten als zuständiger Ausländerbehörde über die Ausweisung steht weder die Regelung über den besonderen Ausweisungsschutz in § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG (a) noch - wie wohl vom Verwaltungsgericht im Ergebnis angenommen - der sich aus "höherrangigem" Recht (Art. 2, 6 GG bzw. Art. 8 EMRK) ergebende Schutz (b) für den Kläger entgegen; Ermessensfehler sind auch im Übrigen nicht gegeben (c).

38

a)

Nach § 56 Abs. 1 Satz 2 und 3 AufenthG wird ein Ausländer, der - wie der Kläger aus den vorgenannten Gründen - besonderen Ausweisungsschutz genießt, nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen (Satz 2), wobei solche Gründe u.a. in dem hier gegebenen Fall des § 53 Nr. 1 AufenthG in der Regel vorliegen (Satz 3). Ein Abweichen vom Regelfall nach § 56 Abs. 1 Satz 3 AufenthG setzt eine Ausnahmesituation bzw. individuelle Besonderheiten voraus, die den an sich schwerwiegenden Ausweisungsanlass im Einzelfall als weniger gewichtig erscheinen lassen; ob solche Besonderheiten vorliegend nur hinsichtlich spezial- oder zusätzlich auch hinsichtlich generalpräventiver Erwägungen erforderlich sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 31.8.2004 - 1 C 25/03 -, BVerwGE 121, 356 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 10.5.2004 - 8 ME 30/04 -, [...], m.w.N.), kann dahin stehen. Denn vorliegend fehlt es sowohl spezial- als auch generalpräventiv an einem atypischen Geschehensablauf bzw. an Besonderheiten, die dazu führen, dass die Straftaten des Klägers als weniger gewichtig anzusehen oder keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Gefahr neuer schwerwiegender Verfehlungen des Ausländers gegeben sind und deshalb die spezial- und generalpräventiven Erwägungen nicht in dem gesetzlich zugrunde gelegten Umfang zum Tragen kommen (vgl. Hailbronner (Hrsg.), AuslR, Komm., § 56 AufenthG, Rn. 23 ff.).

39

Der Kläger hat allein in der Zeit vom Januar 2004 bis zum 26. Mai 2005 vier vorsätzliche und in drei Fällen auch gefährliche Körperverletzungen begangen, wobei schon für die beiden am 26. Mai 2005 in Göttingen verübten Taten jeweils Einzelfreiheitsstrafen von drei Jahren und sechs Monaten ausgesprochen und dann zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten zusammengefasst worden sind. Da der Kläger bereits vor dem Januar 2004 mehrfach wegen Körperverletzungsdelikten strafrechtlich aufgefallen war und hinreichende Anhaltspunkte für eine zukünftig grundlegende Verhaltensänderung fehlen, liegen insoweit keine besonderen für ihn sprechenden Verhältnisse vor. Vielmehr ist ernsthaft zu befürchten, dass er auch in Zukunft vergleichbare Delikte begehen wird; wegen der Einzelheiten der Begründung wird insoweit auf die nachfolgenden Ausführungen unter b) verwiesen.

40

Ebenso wenig ist unter generalpräventiven Gesichtspunkten ein atypischer Sachverhalt gegeben. Es besteht ein dringendes öffentliches Interesse daran, Ausländern zur Abschreckung und Verhaltensänderung deutlich zu machen, dass schwerwiegende, insbesondere das Leben der Opfer gefährdende Gewalttaten unter Verwendung von Messern- wie vorliegend - die Ausweisung aus dem Bundesgebiet zur Folge haben können (vgl. GK-AufenthG, vor §§ 53, Rn. 470, m.w.N.).

41

b)

aa)

Der Schutz des Privatlebens des Klägers im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK steht seiner Ausweisung nicht entgegen, insbesondere ist eine Beendigung des Aufenthalts des Klägers nach Würdigung der Tatsachen im Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nicht unverhältnismäßig.

42

Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der - in der Ausweisung liegende - Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung eines Rechts nach Art. 8 Abs. 1 EMRK nur statthaft, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, das wirtschaftliche Wohl des Landes oder die Verteidigung der Ordnung, zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Der Eingriff muss ferner durch ein dringendes soziales Bedürfnis gerechtfertigt und mit Blick auf das verfolgte legitime Ziel auch im engeren Sinne verhältnismäßig ist. Die in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden Belange sind zu ermitteln und zu gewichten. Die öffentlichen Belange, namentlich der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannte Belang der öffentlichen Ordnung, zu dem das Interesse an einer wirksamen Einwanderungskontrolle gehört, sind im Rahmen der Abwägung in Bezug zu den privaten Interessen des Ausländers zu setzen. Dabei muss ein ausgewogenes Gleichgewicht der beiderseitigen Interessen gewahrt sein. Im Rahmen der Ermittlung der privaten Belange ist dabei in Rechnung zu stellen, inwieweit der Ausländer unter Berücksichtigung seines Alters in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist. Als Gesichtspunkte für das Vorhandensein von anerkennenswerten Bedingungen können von Bedeutung sein: seine Integrationsleistungen in persönlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Hinsicht, die Beachtung gesetzlicher Pflichten und Verbote, die Art und Schwere einer vom Ausländer begangenen Straftat, die familiäre Situation, der bisherige Aufenthaltsstatus, Grund und Dauer des Aufenthalts sowie Kenntnisse der deutschen Sprache. Diese Umstände sind in Beziehung zu setzen zu den (noch vorhandenen) Bindungen an den Heimatstaat. Hierzu gehört die Prüfung, inwieweit der Ausländer bei Berücksichtigung seines Alters, seiner persönlichen Befähigung, seiner Vertrautheit mit den Verhältnissen im Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. Herkunft und seiner dortigen familiären Anbindung entwurzelt ist (vgl. Senatsurt. v. 29.1.2009 - 11 LB 136/07 -, [...], DVBl. 2009, 669 (LS), m. w .N.).

43

Gemessen an diesen Kriterien scheitert eine Ausweisung des Klägers nicht an dem ihm zustehenden Schutz des Privatlebens. Zwar ist der 1980 im Heimatland (Libanon) geborene und dort zunächst aufgewachsene Kläger bereits im Alter von fünf Jahren in das Bundesgebiet eingereist, hat hier also seine überwiegende Sozialisation erfahren, die deutsche Sprache erlernt und jedenfalls bis zur 8. Klasse das deutsche Schulsystem durchlaufen sowie sich zumindest bis zum Jahr 2003 auch (ganz überwiegend) rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Ungeachtet dessen ist es ihm nicht gelungen, sich in wirtschaftlicher, sozialer und rechtlicher Hinsicht zu integrieren.

44

So verfügt er weder über einen Schulabschluss noch über eine Berufsausbildung. Eine Änderung dieser Verhältnisse ist nicht absehbar. Vielmehr spricht die psychologische Untersuchung bei der Agentur für Arbeit dagegen, dass es dem Kläger gelingen wird, einen Hauptschul- oder einen anerkannten Berufsabschluss zu erreichen. In der Vergangenheit ist der Kläger nur vorübergehend einer auskömmlichen Erwerbstätigkeit nachgegangen, eine dauerhafte Sicherung seines Lebensunterhalts ist ihm nicht gelungen. Die in der Haft durchgeführten Qualifizierungsmaßnahmen haben ihm nach seiner Entlassung ebenfalls nicht zur Aufnahme einer einschlägigen, seine Existenz sichernden Erwerbstätigkeit verholfen. Die im Schreiben seines Bewährungshelfers vom 25. Juni 2010 angeführte Tätigkeit als Lagerarbeiter in einer Spedition hat der Kläger (bislang) nicht aufgenommen, sondern nur eine sehr geringfügige Teilzeitbeschäftigung. Deshalb ist er auch gegenwärtig und mutmaßlich in Zukunft zur Sicherung seines Lebensunterhalts ganz überwiegend auf öffentliche Unterstützungsleistungen angewiesen. Denn unter Einbeziehung der von ihm zu erbringenden Unterhaltsleistungen für jedenfalls drei, gegebenenfalls auch vier Kinder (und evtl. Leistungen an die jeweiligen Kindesmütter) ist nicht ersichtlich, dass es ihm in absehbarer Zeit gelingen wird, seinen notwendigen Lebensunterhalt einschließlich der ihm gegenüber bestehenden laufenden Unterhaltspflichten aus eigenen Mitteln sicherzustellen.

45

Entscheidend kommt hinzu, dass der Kläger - wie im Tatbestand ausführlich wiedergegeben - in schwerwiegender Weise straffällig geworden und auch insoweit eine grundlegende Verhaltensänderung nicht erkennbar ist. Für den Kläger spricht zwar insoweit, dass er aufgrund des Strafurteils vom Juli 2006 (und zuvor auf Grund von Untersuchungshaft) bis zum September 2009 erstmals inhaftiert war, nach den beigezogenen Vollstreckungsberichten durch die Haft positiv beeinflusst worden sein soll, in der Justizvollzugsanstalt nach dem Übergriff eines Mithäftlings angemessen reagiert hat sowie nach der Entlassung auf Bewährung bislang nicht erneut straffällig geworden ist. Demgegenüber ist aber zu seinen Lasten zu berücksichtigen, dass er schon als Strafunmündiger und nach Eintritt der Strafmündigkeit vom 1994 bis 1999 fortlaufend wegen der Begehung von Straftaten einschließlich Körperverletzungen und gefährlicher Körperverletzung mit Beleidigung negativ aufgefallen ist. Nach einem mehrjährigen straffreien Zeitraum ist es dann in den Jahren 2004 bis 2005 zu den vier genannten, überwiegend gefährlichen Körperverletzungen, d.h. Straftaten mit hoher und steigender Gewalttätigkeit gekommen. Der Kläger hat sich also weder durch sein zunehmendes Alter noch durch die ihm gebotenen strafrechtlichen Bewährungsmöglichkeiten noch durch ausländerrechtliche Verwarnungen oder die Heirat mit einer deutschen Staatsangehörigen sowie die Geburt seiner deutschen Kinder von der Begehung zunehmend schwerer Straftaten abhalten lassen. Ebenso wenig haben in der Vergangenheit die vielfältigen Versuche Erfolg gehabt, auf den Kläger medizinisch, sozialtherapeutisch und psychologisch derart einzuwirken, dass er von der Begehung weiterer Straftaten absieht. Ältere, d.h. aus der Zeit vor 2004 stammende Prognosen von Therapeuten und Bewährungshelfern des Klägers, er werde sich zukünftig straffrei verhalten, haben sich also nicht bewahrheitet. Dies mag seinen Grund auch darin haben, dass bei ihm eine allgemeine leichte Hirnatrophie und eine dadurch bedingte Lernschwäche sowie eine Impulskontrollstörung festgestellt worden sind. Ebenso wenig ist dem Kläger bislang eine dauerhafte Stabilisierung seines familiären und sozialen Umfelds gelungen. Zwar leben im Bundesgebiet noch seine Eltern sowie mehrere Brüder. Die Beziehung zu seiner deutschen Ehefrau ist jedoch gescheitert und geschieden. Die zwischenzeitlich geführte Beziehung mit Frau L. ist ebenfalls gescheitert. Die gegenwärtig wieder aufgenommene, vom Bewährungshelfer als "derzeit stabil" eingestufte Lebensgemeinschaft mit Frau H. war vorübergehend unterbrochen und vermag dem Kläger auf der Grundlage seiner eigenen Angaben ebenfalls nur begrenzt Halt zu gewähren, da Frau H. jedenfalls in der Vergangenheit der Prostitution nachgegangen ist und Drogen konsumiert hat. Von einem (eigenen) Drogenkonsum, wie er von dem Kläger in der Vergangenheit in erheblichem Umfang missbräuchlich betrieben und der entgegen der Auflagen im Bewährungsbeschluss vom Juli 2006 bis zum Strafantritt des Klägers im Oktober 2006 nicht kontrolliert worden ist, ist ihm im Hinblick auf seine ohnehin latent vorhandene und dadurch noch verstärkte Neigung zur Gewaltbereitschaft dringend abgeraten worden. Stellt man weiterhin in Rechnung, dass die Straftaten des Klägers schwere, das Leben der Opfer gefährdende Gewaltdelikte darstellen und wegen der damit verbundenen Gefahr für höchste Rechtsgüter an die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung ausländerrechtlich nur geringe Anforderungen zu stellen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 2.9.2009 - 1 C 2/09 -, NVwZ 2010, 389 ff. ), so ist dementsprechend hier ausländerrechtlich von einer Wiederholungsgefahr auszugehen.

46

Dem steht nicht entgegen, dass die Reststrafe des Klägers aus der letzten Verurteilung nach der Verbüßung von zwei Dritteln der Haftzeit gemäß § 57 Abs. 1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Denn diese Aussetzung stellt zwar bei der ausländerrechtlich erforderlichen Prognose über eine Wiederholungsgefahr ein wesentliches Indiz dar, eine Vermutung für das Fehlen einer Rückfallgefahr begründet sie jedoch nicht. Insoweit gelten unterschiedliche Maßstäbe, zudem ist auf einen unterschiedlichen Prognosehorizont abzustellen (vgl. etwa Urt. d. BVerwG v. 2.9.2009, a.a.O., m.w.N.). Bei der ausländerrechtlich gebotenen längerfristigen Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, Urt. v.16.11.2000 - 9 C 6/00 -, BVerwGE 112, 185 ff.) und dem o. a., ausländerrechtlich maßgeblichen Wahrscheinlichkeitsmaß sprechen jedoch die vorgenannten Gesichtspunkte zu seiner fehlgeschlagenen Integration und insbesondere seinen Vortaten für die Annahme, es werde zukünftig erneut zu schwerwiegenden Straftaten des Klägers kommen. Zudem hat sich die für den Kläger günstige Prognose der Strafvollstreckungskammer bislang nur insoweit bewahrheitet, als er seit der Haftentlassung vor knapp einem Jahr nicht mehr straffällig geworden ist. Andere für den Kläger günstige Annahmen in dem Strafaussetzungsbeschluss und teilweise auch in den Stellungnahmen seiner Betreuungspersonen aus dem Vollzug haben sich hingegen nicht bestätigt. So lebt der Kläger nicht mehr - wie noch von der Strafvollstreckungskammer angenommen - mit Frau L., die möglicherweise einen stabilisierenden Einfluss auf ihn ausüben könnte, zusammen und hat dies nach seiner Haftentlassung auch allenfalls für einen sehr kurzen Zeitraum getan. Die Annahme, dass der Kläger ernsthaft einen Hauptschulabschuss anstrebe, ist zweifelhaft; jedenfalls dürfte er nach der zuvor zitierten sachverständigen Überprüfung selbst bei einem ernsthaft dahingehenden Willen objektiv nicht in der Lage sein, die notwendigen intellektuellen Anforderungen zu erfüllen. Der aus den genannten Gründen als ungünstig anzusehende Einfluss des Zusammenlebens des Klägers mit Frau H. wird hingegen im Strafaussetzungsbeschluss der Kammer (folgerichtig) nicht näher angeführt. Ebenso wenig werden im Strafaussetzungsbeschluss die nach dem Bundeszentralregistergesetz zwar nicht mehr in ein Führungszeugnis aufzunehmenden (vgl. § 32 Abs. 2 Nr. 3), nach Maßgabe der §§ 46 Abs. 1 Nr. 1, 47 Abs. 1 und 3, 35 BZRG aber (noch) nicht tilgungsreifen und deshalb gerichtlich verwertbaren (vgl. BGH, Beschl. v. 21.4.2009 - 1 StR 144/09 -, [...]), umfangreichen o. a. Jugendstrafen berücksichtigt. Übergangen wird weiterhin die Tatsache, dass bereits vor der Inhaftierung des Klägers verschiedene Versuche fehlgeschlagen sind, ihn durch sozialtherapeutische und psychologische Hilfsangebote von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Schließlich weist die Beklagte zu Recht darauf hin, dass der Kläger eine auf Grund seiner Impulskontrollstörung erforderliche fachkundige medizinische oder zumindest psychotherapeutische Betreuung nicht erhält und dies auch zukünftig nicht sichergestellt ist. Die regelmäßigen Gespräche mit Herrn Q., der nach seinen Angaben über eine Ausbildung als Diplom-Sozialwirt verfügt und bei der Beklagten als Sozialarbeiter tätig ist, stellen aufgrund der ihm fehlenden, aber erforderlichen spezifisch medizinischen Kenntnisse keinen gleichwertigen Ersatz dar und beziehen sich auch mehr auf die sozialen Verhältnisse des Klägers. Wenn die Strafvollstreckungskammer Herrn Q. ungeachtet dessen als "externen Psychologen" bezeichnet, so ist dies wegen des fehlenden gesetzlichen Schutzes dieser Bezeichnung zwar nicht falsch, aber zumindest irreführend.

47

Bei dieser Sachlage wiegt das öffentliche Interesse daran, den Kläger durch die Ausweisung und notfalls auch seine Abschiebung von der Begehung weiterer ernsthaft drohender schwerer Straftaten im Bundesgebiet abzuhalten und so der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bürger nachzukommen (vgl. BVerwG, Vorlagebeschl. v. 25.8.2009 - 1 C 25/08 -, NVwZ 2010, 392 ff.), schwer und überwiegt das private Interesse des Klägers an einem Verbleib im Bundesgebiet. Dies gilt auch in Ansehung der Tatsache, dass ihm der Aufbau einer eigenen Existenz im Libanon mutmaßlich schwerfallen wird. Er hat zwar den ganz überwiegenden Teil seines Lebens im Bundesgebiet verbracht, ist aber im Libanon geboren und bis zum 5. Lebensjahr dort aufgewachsen. Außerdem kann er sich mündlich in arabisch, der Amts- und von der Mehrheit der Bevölkerung im Alltag verwendeten Umgangssprache des Libanon, verständigen und verfügt dort über einen - wenn auch nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung unter schwierigen Bedingungen lebenden - Bruder, der selbst aus dem Bundesgebiet abgeschoben worden ist, dem Kläger also insoweit aus eigener Erfahrung Hilfe bei der Rückkehr leisten kann. Außerdem kann der Kläger gegebenenfalls auch auf die finanzielle Unterstützung seiner im Bundesgebiet verbleibenden Verwandten zurückgreifen.

48

bb)

Die Ausweisung des Klägers verstößt ferner nicht gegen den völkervertragsrechtlich gleichfalls nach Art. 8 EMRK bzw. verfassungsrechtlich nach Art. 6 Abs. 1 GG gewährten Schutz der Familie. Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (vgl. zuletzt etwa Urt. v. 25.3.2010 - 40601/05 -, [...], und v. 8.1.2009 - 10606/07 -, InfAuslR 2010, 89, 90 f., m.w.N.) beantwortet sich die insoweit entscheidende Frage, ob eine - wie vorliegend nach den vorherigen Ausführungen - gesetzlich vorgesehene und ein legitimes Ziel verfolgende Ausweisung in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, d.h. auch im Ergebnis rechtmäßig ist, um das verfolgte Ziel zu erreichen, nach den folgenden Kriterien:

  • die Natur und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten,

  • die Dauer des Aufenthalts des Ausländers im Aufnahmestaat,

  • die Zeit, die seit Begehung der Straftat vergangen ist, und das Verhalten des Ausländers seitdem,

  • - die Staatsangehörigkeit der betreffenden Person,

  • die familiäre Situation des Ausländers sowie die Dauer der Ehe und andere Faktoren, aus denen sich ein effektives familiäres Lebens des (Ehe-)Paares ergibt,

  • ob der Ehegatte von der Straftat wusste, als er eine familiäre Beziehung zum Ausländer einging,

  • ob Kinder aus der Ehe hervorgegangen sind und welches Alter diese haben und die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, denen der Ehegatte wahrscheinlich in dem Zielstaat der Abschiebung begegnet.

49

Die vorgenannten, unmittelbar den Kläger betreffenden Kriterien sind bereits im Rahmen der vorherigen Prüfung des Schutzes seines Privatlebens gewürdigt worden. Hinzu treten zu seinen Gunsten verstärkend die Belange seiner Familienangehörigen.

50

Dazu können bei dem umfassenden Verständnis des Begriffs "Familie" zwar grundsätzlich auch die Beziehungen des Klägers zu seinen im Bundesgebiet lebenden Brüdern und Eltern gehören. Allerdings genießen solche Beziehungen zwischen Erwachsenen nicht ohne Weiteres den Schutz nach Art. 8 EMRK, wenn "keine zusätzlichen Elemente einer Abhängigkeit dargelegt werden, die über die üblichen gefühlsmäßigen Bindungen hinausgehen" (EGMR, Urt. v. 17.4.2003 - 52853/99 -, NJW 2004, 2147 f. [EGMR 17.04.2003 - 52853/99]; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 1.3.2004 - 2 BvR 1570/03 -, NVwZ 2004, 852 ff., jeweils m.w.N.). Solche "zusätzliche Elemente", aufgrund derer der Kläger auf die Unterstützung seiner Angehörigen oder diese auf seine Unterstützung in besonderer Weise angewiesen wäre(n) und ihm ein besonderer Schutz zu teil würde, sind hier jedoch nicht vorgetragen worden und auch für den Senat nicht zu erkennen.

51

Vorrangig ist deshalb auf die Schutzbedürftigkeit der (auch) deutschen minderjährigen Kinder des Klägers sowie von Frau H. als Mutter der jüngsten Tochter des Klägers und als seine gegenwärtige Lebensgefährtin abzustellen.

52

Auf Nachfrage des Gerichts hat der Kläger angegeben, zu seinen (älteren), in G. bei seiner geschiedenen Ehefrau lebenden Kindern E. und F. regelmäßigen "Kontakt" zu haben, aber nicht im Besitz des Sorgerechts zu sein. Aus diesen Angaben ergibt sich insoweit keine besondere Schutzbedürftigkeit der betroffenen deutschen Familienangehörigen des Klägers. Es fällt nach § 82 Abs. 1 AufenthG, § 86 Abs. 1 VwGO in die Mitwirkungspflicht des Klägers, insoweit im Einzelnen Art und Umfang der gepflegten Kontakte näher zu bezeichnen, insbesondere anzugeben, in welchem Umfang diese persönlich oder etwa nur fernmündlich oder schriftlich erfolgen. Denn ein fernmündlicher oder schriftlicher Kontakt lässt sich beim heutigen Stand der Kommunikationstechnik auch vom Libanon aus grundsätzlich fortführen. Dass der Kläger darüber hinaus regelmäßig persönlichen Kontakt mit seinen Kindern E. und F. hat und/oder einen solchen Kontakt auch zukünftig pflegen will, kann hingegen nicht festgestellt werden. Dagegen spricht auch, dass er nach Aktenlage über kein förmliches Umgangsrecht verfügt und ihm nach dem vorgelegten aktuellen Leistungsbescheid (SGB II) zur Wahrnehmung eines Umgangs- oder Besuchsrechts mit seinen in G. lebenden Kindern keine gesonderten Leistungsbeträge zugesprochen worden sind. Regelmäßige Besuche seiner älteren Kinder in D. sind ebenfalls nicht feststellbar.

53

Anders stellt sich insoweit die Lage hinsichtlich der Beziehung zu seiner jüngsten, fünf Jahre alten Tochter J. dar. Mit dieser und mit ihrer Mutter lebt der Kläger gegenwärtig zusammen und übt auch gemeinsam das Sorgerecht aus; allerdings hält sich J. trotz der zeitlich sehr geringfügigen Beschäftigung des Klägers ganztags im Kindergarten auf, wo sie von ihm regelmäßig abgeholt wird. Zugunsten des Klägers ist insoweit davon auszugehen, dass die Beziehung zu seiner Tochter J. von einer ernsthaften inneren Anteilnahme an ihrem Wohlbefinden getragen wird und nicht lediglich zur Verbesserung seiner aufenthaltsrechtlichen Lage vorgeschoben ist. Da die Kindesmutter (allein) deutsche Staatsangehörige und die Tochter kraft Abstammung von der Mutter jedenfalls auch deutsche Staatsangehörige ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 StAG), kann nicht angenommen werden, dass Frau H. mit der Tochter J. den Kläger im Falle einer Ausreise bzw. Abschiebung in den Libanon begleiten würde. Dementsprechend ist für die Dauer der Wirkungen der Ausweisung von einer Unterbrechung der familiären Lebensgemeinschaft auszugehen. Im Verhältnis zu Frau H. wirkt dies weniger schwer, da sie mit dem Kläger nicht verheiratet ist, ihre Beziehung nach einer Unterbrechung erst in Kenntnis der ergangenen Ausweisungsverfügung wieder aufgelebt ist und angesichts dieser Tatsache und des vom Kläger selbst beanstandeten Lebenswandels von Frau H. nicht von einer besonderen Stabilität dieser Beziehung ausgegangen werden kann. Schwerer wiegen demgegenüber die Auswirkungen der Ausweisung auf das Verhältnis zu der jetzt fünfjährigen Tochter J. des Klägers. Zwar konnte sie bedingt durch die Inhaftierung des Klägers auch in ihren ersten Lebensjahren nur sehr eingeschränkt tatsächlich mit ihrem Vater zusammenleben. Dies hat sich allerdings nach der Entlassung des Klägers aus der Haft und seines spätestens im Oktober vergangenen Jahres erfolgten Umzugs zu Frau H. und damit auch zu seiner Tochter J. geändert. Eine zu erwartende zumindest mehrjährige ausweisungsbedingte Unterbrechung des unmittelbaren persönlichen Kontakts zu der Tochter würde das wechselseitige Verhältnis ungeachtet der bestehenden fernmündlichen und schriftlichen Kommunikationsmöglichkeiten durchaus schwerwiegend beeinträchtigen. Auch solche schwerwiegenden Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen verdrängen jedoch nicht stets das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Vielmehr kann das öffentliche Interesse daran, den Ausländer an der Begehung schwerer Straftaten im Bundesgebiet zu hindern, auch solche familiären Belange zurückdrängen, wie sowohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschl. v. 23.1.2006 - 2 BvR 1935/05 -, NVwZ 2006, 682 f., und v. 12.4.2000 - 2 BvR 440/00 -, [...]) als auch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (s. o.) anerkannt ist. Ein solcher Fall ist vorliegend gegeben. Denn nach den bereits zuvor erfolgten Ausführungen muss mit der Begehung weiterer schwerwiegender Straftaten durch den Kläger gerechnet werden. Von der Begehung weiterer Straftaten mit zunehmender Schwere ist er in der Vergangenheit weder durch die Eheschließung noch durch die Geburt seiner Kinder abgehalten worden. Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass die Ausweisung nicht zu einer dauerhaften Entfernung des Klägers vom Bundesgebiet führen muss. Vielmehr steht ihm nach Maßgabe des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in Verbindung mit den dazu ergangenen normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften des Bundes (Nrn. 11.1.4.6.1 und 2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 26. Oktober 2009 zum Aufenthaltsgesetz, GMBl S. 878 - AVwVAufenthG -) grundsätzlich ein Anspruch auf Befristung der Wirkungen der Ausweisung zu, wobei die Länge der Sperrfrist maßgeblich von der Schwere der von ihm begangenen Straftaten, seinem Verhalten nach der Ausreise und den schützwürdigen Belangen seiner im Bundesgebiet lebenden Kinder bestimmt wird. Nach Ablauf der Wirkungen der Ausweisung kann ihm in Abhängigkeit von den dann gegebenen sorgerechtlichen Verhältnissen gemäß § 28 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich wieder eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, d.h. für ihn besteht dann eine Rückkehrmöglichkeit in das Bundesgebiet. Im Hinblick auf die in wesentlichen Grundzügen bereits in der genannten Verwaltungsvorschrift niedergelegten zeitlichen Regelfristen - danach sind die Wirkungen der Ausweisung zunächst auf ca. sieben Jahre zu befristen und nach Ablauf von vier Jahren kann über eine weitere Verkürzung entschieden werden -, bedarf es zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung auch noch keiner aktuellen förmlichen Entscheidung darüber, in welchem zeitlichen Umfang genau die Wirkungen der Ausweisung (endgültig) befristet werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.8.2009 - 1 B 13/09 -, NVwZ 2009, 1557 f.).

54

c)

Ist eine Ausweisung des Klägers somit nicht schon kraft Gesetzes oder Verfassungsrechts ausgeschlossen, sondern steht sie im Ermessen der Beklagten, so ist die getroffene Ermessensentscheidung im Rahmen der den Verwaltungsgerichten gemäß § 114 VwGO zustehenden Kontrollbefugnis vorliegend nicht zu beanstanden.

55

Wie sich bereits aus der Aufhebung ihres ursprünglichen Bescheides vom 11. Januar 2007 und dem Neuerlass des hier angegriffenen Bescheides vom 25. August 2008 ergibt, hat die Beklagte das ihr zustehende Ausweisungsermessen erkannt und betätigt. Sie hat sich bei der notwendigen Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung und der gegenläufigen privaten Interessen des Klägers und seiner Familienangehörigen an seinem Verbleib im Bundesgebiet zu Recht an den im Bescheid ausdrücklich aufgeführten Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte orientiert, die sich - soweit hier erheblich - mit den in § 55 Abs. 3 AufenthG genannten Vorgaben für eine (Ermessens-)Ausweisung decken (vgl. zum Prüfprogramm auch BVerwG, Beschl. v. 2.9.2009, a.a.O.), und hat hierzu jeweils einzelfallbezogen Stellung genommen. Sie hat weiterhin erkannt, dass insoweit der aktuelle Zeitpunkt maßgebend ist, und deshalb der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts folgend (vgl. Urt. v. 13.4.2010 - 1 C 10/09 -, [...], m.w.N.) ihre Ermessenserwägungen ständig verfahrensbegleitend aktualisiert, zuletzt mit Schriftsätzen vom 28. Juli und 2. August 2010 und in der mündlichen Verhandlung. Der Ermessensentscheidung liegen keine tatsächlich unzutreffenden Wertungen zu Grunde. Dies gilt auch für das Verhältnis des Klägers zu seiner Tochter J.. Im Ausgangsbescheid vom 25. August 2008 ist nach den damaligen Verhältnissen zu Recht darauf verwiesen worden, dass sich diese Beziehung wegen der Inhaftierung des Klägers ursprünglich auf einen zeitlich sehr beschränkten persönlichen Kontakt von wenigen Stunden bezog, bei einer Abschiebung bzw. Ausweisung deshalb eine allenfalls geringfügige Veränderung eintrete und somit eine Gefährdung des Kindeswohls nicht zu befürchten sei. Wie dargelegt, hat sich zwar insoweit seit dem Oktober 2009 eine Veränderung ergeben, als der Kläger nunmehr mit der Kindesmutter und J. zusammenlebt und seine Tochter etwa regelmäßig vom Kindergarten abholt. Diese Veränderung hat die Beklagte jedoch erkannt und ist jedenfalls in der mündlichen Verhandlung unter Aufgabe der zuvor noch im Schriftsatz vom 28. Juli 2010 vorgetragenen Bedenken ausdrücklich davon ausgegangen, dass der Kläger mit seiner Tochter J. derzeit ein (schutzwürdiges) Familienleben führt. Dass die Beklagte diesen - neben den anderen im Bescheid vom 25. August 2008 genannten - wesentlich für den Kläger streitenden Umstand gegenüber dem öffentliche Interesse daran, ihn durch eine Aufenthaltsbeendigung an der Begehung von weiteren Straftaten im Bundesgebiet zu hindern, im Ergebnis als nachrangig eingestuft hat, liegt innerhalb des ihr zustehenden Ermessenspielraums.

56

2.

a)

Schon wegen der Sperrwirkung der Ausweisung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG kann dem Kläger keine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen nach §§ 27 ff. AufenthG erteilt werden. Wie sich aus § 84 Abs. 2 AufenthG ergibt, bedarf es dazu grundsätzlich nicht der Vollziehbarkeit der Ausweisung (vgl. Hailbronner, a.a.O., § 11 AufenthG, Rn. 8 ff., m.w.N.). Da sich die Ausweisung des Klägers aus den vorgenannten Gründen auch inhaltlich als rechtmäßig erweist, bestünde die Sperrwirkung aber selbst dann, wenn man dafür abweichend von der vorherigen Ansicht auch in der vorliegenden Fallkonstellation eine inzidente Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung für geboten erachtete. Aus der Bindungswirkung (§ 121 VwGO) des rechtskräftigen Bescheidungsurteils des Verwaltungsgerichts D. ergibt sich keine andere Bewertung. Das Verwaltungsgericht hat den Erlass einer neuen ermessensfehlerfreien Ausweisung mit den o. a. zwingenden gesetzlichen Folgen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 27 ff. AufenthG gerade nicht rechtskräftig ausgeschlossen. Zudem sind die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nrn. 2 und 4 AufenthG nicht gegeben. Aus den vorgenannten Gründen, d.h. insbesondere wegen der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten und der langfristig ungünstigen Prognose, kann nach § 27 Abs. 3 AufenthG auch unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Schutzes der Familie nicht von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abgesehen werden. Ebenso wenig ist ein Ausnahmefall hinsichtlich § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zu bejahen, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt.

57

b)

Da der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen erstrebt und nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Streitgegenstand einer auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichteten Verpflichtungsklage insoweit beschränkt ist (vgl. Urt. v. 27.1.2009 - 1 C 40/07 -, BVerwGE 133, 73 ff.), stellt sich schon aus prozessualen Gründen nicht die Frage, ob dem Kläger für den erstrebten Daueraufenthalt im Bundesgebiet alternativ bzw. hilfsweise ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 4 Satz 2 oder § 25 Abs. 5 AufenthG zusteht.

58

Im Übrigen liegen auch dafür - unabhängig vom Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 4 AufenthG - jeweils nicht die speziellen Tatbestandsvoraussetzungen vor.

59

Aus den vorgenannten Gründen bedeutete das Verlassen des Bundesgebiets für den Kläger weder eine außergewöhnliche Härte im Sinne des § 25 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (vgl. zum Maßstab nochmals BVerwG, Urt. v. 27.1.2009, a.a.O.) noch ist ihm die Ausreise tatsächlich oder rechtlich im Sinne des § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG unmöglich.

60

Dass der Schutz seines Privatlebens oder seiner Familie einem Verlassen des Bundesgebiets nicht entgegenstehen, ist ebenfalls bereits zuvor dargelegt worden.

61

Ebenso wenig ist zu erkennen, dass der Kläger aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht über die für eine Rückreise in sein Heimatland Libanon erforderliche Personalpapiere verfügt. Dabei kann dahinstehen, ob er auch ohne Mitwirkung der Beklagten ggf. einen neuen Pass erhalten kann - wie dies ungeachtet der von den libanesischen Vertretungen im Bundesgebiet verwendeten Vordrucke nach den Erkenntnissen des Senats jedenfalls für libanesische Staatsangehörige wie den Kläger in der Vergangenheit im Einzelfall möglich war - oder ob dies ausnahmslos zumindest eine Aufenthaltszusage der Ausländerbehörde voraussetzte, woran es hier mangelt. Denn es ist jedenfalls vom Kläger nicht vorgetragen worden und auch für den Senat nicht feststellbar, dass der Kläger nicht anstelle eines Passes zumindest ein Passersatzpapier erhalten und damit in sein Heimatland (freiwillig) zurückreisen könnte (vgl. zu den insoweit notwendigen, zumutbaren und erfolgversprechenden Bemühungen eines libanesischen Staatsangehörigen den Senatsbeschl. v. 5.2.2008 - 11 LA 7/07 -, [...], m.w.N.).

62

Erst recht hat weder der Kläger geltend gemacht noch ist dem Senat sonst bekannt, dass unter den hier gegebenen Voraussetzungen, nämlich einer durch den bisherigen Pass nachgewiesenen libanesischen Staatsangehörigkeit und einer Ausweisung wegen schwerer Straftaten, auch eine Abschiebung in den Libanon i.S.d. § 25 Abs. 5 AufenthG unmöglich wäre, weil sie am Widerstand der libanesischen Behörden scheitern würde.

63

3.

Dem Kläger kann ferner kein Reiseausweis für Ausländer im Inland erteilt werden.

64

Nach § 6 Satz 1 Nr. 1 AufenthV setzt dies den Besitz eines Aufenthaltstitels voraus, an dem es dem Kläger vorliegend mangelt.

65

Ebenso wenig erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthV. Danach kann ein Reiseausweis für Ausländer ausgestellt werden, wenn dem Ausländer nach der Erteilung des Reiseausweises ein Aufenthaltstitel erteilt wird, d.h. mit anderen Worten, wenn der Erteilung eines Aufenthaltstitels lediglich (noch) die Passlosigkeit entgegensteht. Ein solcher Fall ist hier ebenfalls nicht gegeben.

66

Da der Kläger einen Reiseausweis begehrt, um einen Aufenthaltstitel für den Dauerverbleib im Bundesgebiet zu erhalten, kann ihm ein solcher Reiseausweis auch nicht nach § 6 Satz 1 Nr. 3 AufenthV "zur Ermöglichung der endgültigen Ausreise aus dem Bundesgebiet" ausgestellt werden.

67

Darüber hinaus ist der Kläger auch nicht (mehr) Asylbewerber und erfüllt schon deshalb nicht die Voraussetzungen des§ 6 Satz 1 Nr.4 AufenthV.

68

4.

Schließlich begegnen auch die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist keinen rechtlichen Bedenken. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in § 59 AufenthG. Die dem Kläger vorsorglich gewährte Frist zur freiwilligen Ausreise von einem Monat nach seiner Haftentlassung ist angemessen und ausreichend zur Regelung der persönlichen Angelegenheiten. Soweit dem Kläger ursprünglich (vorrangig) die Abschiebung unmittelbar aus der Haft angedroht worden war, hat sich dieser Teil des Bescheides durch Zeitablauf erledigt.