Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.06.2012, Az.: 11 LC 490/10

Geltung des sog. "Vier-Augen-Prinzip" für die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger mit Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80; Befristung der Wirkungen einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung eines Ausländers

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.06.2012
Aktenzeichen
11 LC 490/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 19109
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:0628.11LC490.10.0A

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG, d.h. das sog. "Vier-Augen-Prinzip", gilt auch für die Ausweisung türkischer Staatsangehöriger, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nicht (entsprechend) fort, d.h. es bedarf keiner Durchführung eines Widerspruchsverfahrens mehr.

  2. 2.

    Die Wirkungen einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung eines Ausländers müssen jedenfalls dann nicht zwingend bereits mit der Ausweisung befristet werden, wenn dem betroffenen Ausländer grundsätzlich eine Rückkehrmöglichkeit in das Bundesgebiet offen steht und von ihm für eine unabsehbare Zeit weiter eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgeht.

Tatbestand

1

Der laut türkischem Register am 19. Mai 1978 in Kurtulan (Türkei) geborene Kläger, seit Geburt türkischer Staatsangehöriger und nach der im Mai 2001 wegen Wehrpflichtentziehung erfolgten Ausbürgerung staatenlos, kurdischer Volkszugehöriger, wendet sich gegen seine (Ermessens-)Ausweisung.

2

Der Kläger reiste mit seiner Mutter und Geschwistern im April 1979 in das Bundesgebiet, in dem sich sein Vater bereits seit einem Jahr befand, ein und wurde nach verwaltungsgerichtlicher Verpflichtung auf Grund angenommener yezidischer Religionszugehörigkeit im Juni 1993 als Asylberechtigter anerkannt. Er erhielt daraufhin im Oktober 1993 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Mit Bescheid vom Juli 2005 wurde seine Asylanerkennung widerrufen, die Anerkennung als Flüchtling abgelehnt sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach den § 60 Abs. 2 bis 5, 7 AufenthG (hinsichtlich der Türkei) nicht vorliegen. Eine Abschiebungsandrohung sowie eine Frist zur Ausreise enthielt der Bescheid nicht; er ist zwischenzeitlich bestandskräftig geworden (Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg v. 26.3.2008 - 5 A 293/05 -). Wegen der hier streitigen, bereits zuvor im Jahr 2007 verfügten Ausweisung erfolgte nach der Bestandskraft des Widerrufs der Asylberechtigung keine Prüfung einer Widerrufsentscheidung nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG mehr.

3

Der ledige und kinderlose Kläger wuchs zusammen mit mehreren Geschwistern und seinen Eltern, die keinen Beruf erlernt haben, in B. auf. Sein Vater war nach Aktenlage ab 1978 langjährig rechtmäßig im Bundesgebiet erwerbstätig. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die im Gerichtsverfahren vorgelegte Übersicht seiner Rentenversicherungszeiten sowie die für ihn geführte Ausländerakte, die beigezogen wurde, Bezug genommen Der Kläger besuchte nach eigenen Angaben zunächst einen Kindergarten, wurde erst mit acht Jahren eingeschult, wechselte wegen Sprachschwierigkeiten von der zweiten Klasse der Grundschule in eine Sonderschule, die er bis zur 7. bzw. 8. Klasse besuchte und nachfolgend wegen "massiver Probleme" verlassen musste. Es schloss sich ein Berufsvorbereitungsjahr an. Von 1993 bis 1995 besuchte er keine Schule. In der anschließenden Haft von 1995 bis1997 holte er seinen Sonderschulabschluss nach; weitergehende Bildungsmaßnahmen scheiterten an seiner fehlenden Leistungsfähigkeit. Danach arbeitete der Kläger ungelernt teilweise als Steinsetzerhelfer bei seinem Onkel sowie bei C.; aus einer berufsfördernden Maßnahme wurde er wegen Fehlens ausgeschlossen. Im anschließenden Maßregelvollzug arbeitete der Kläger nach Aktenlage als Freigänger teilweise erneut bei C. sowie kurzzeitig als Produktionshelfer. In der folgenden Haft nahm er nach den Angaben aus dem Vollstreckungsheft 2008 am Hauptschullehrgang teil - ob er den Hauptschulabschluss erreicht hat, ist unklar (vgl. Bl. 455 der Beiakte F, Bl. 138 d. Gerichtsakte) und war seit Mai 2008 als Vorarbeiter im Betrieb "D. Lebenshilfe" tätig. Nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug im Jahr 2011 bezog er zunächst Leistungen nach dem SGB II, arbeitete anschließend geringfügig und aktuell seit April 2012 als Bauhelfer in einem Umfang von 32,5 Wochenstunden im Unternehmen eines Bruders mit einem Nettogehalt von monatlich 1.000 EUR.

4

Schon als Strafunmündiger und sich fortsetzend mit Eintritt der Strafmündigkeit ab dem Jahr 1992 fiel der Kläger durch die Begehung einer Vielzahl von Straftaten, insbesondere von Eigentumsdelikten und Körperverletzung, negativ auf. Im September 1992 verbüßte der Kläger deshalb einen zehntätigen Jugendarrest. Nach weiteren Verurteilungen zu Jugendstrafen, die zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurden, wurde er unter Einbeziehung vorhergehender Urteile im Oktober 1995 zu einer Jugendstrafe von 2 1/2 Jahren verurteilt, die er von August 1995 bis Juli 1997 in der Jugendanstalt E. teilweise verbüßte. Ein Strafrest wurde zunächst zur Bewährung ausgesetzt und nachfolgend im Dezember 1999 erlassen. Wegen unerlaubten Erwerbs von Heroin wurde er im Mai 2000 zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt und diesbezüglich vom Beklagten zu einer in Frage kommenden Ausweisung angehört, worauf er sich für die neuerliche Straftat entschuldigte und Besserung gelobte. Im April 2002 folgte eine weitere Verurteilung zu einer auf Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von drei Monaten wegen Heroinerwerbs. Wegen - gemeinsam mit einem Verwandten begangener - versuchter schwerer räuberischer Erpressung und Diebstahls wurde der Kläger im März 2003 unter Einbeziehung des Urteils vom April 2002 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Wegen einer "Polytoxikomanie" insbesondere von Opiaten einschließlich Heroin wurde ergänzend seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Daraufhin wurde er im Juni 2003 in das Niedersächsische Landeskrankenhaus F. aufgenommen und dort im November 2003/Januar 2004 in den halboffenen Behandlungsbereich übergeleitet. Im Juli 2004 erlangte er den Status als Freigänger. Während einer Beurlaubung im Januar 2005 beging der Kläger gemeinschaftlich mit einem Verwandten eine Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung und wurde deshalb durch Urteil vom 12. Juli 2005 zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 10 Monaten verurteilt; das Opfer beging nachfolgend einen Suizidversuch. Nach Verbüßung der Reststrafe aus dem Urteil vom März 2003 verbüßte der Kläger bis zum 23. Mai 2011 die letztgenannte Strafe. Nach kurzfristiger anschließender Aufnahme in sog. Organisationshaft wurde er u.a. gestützt auf ein Gutachten von Prof. Dr. G. vom 21. März 2011, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, ab dem 31. Mai 2011 zum Vollzug des Restes der Maßregel aus dem Urteil vom März 2003 - Unterbringung in einer Entziehungsanstalt - erneut in den Maßregelvollzug in F. aufgenommen. Die dortigen Ärzte teilten im August 2011 mit, dass der Kläger polytoxoman mit den Hauptdrogen Heroin und Alkohol erkrankt sei. Zudem liege bei ihm eine dissoziale Persönlichkeitsstörung begleitet durch eine langjährige kriminelle Entwicklung vor. Er verweigere sich allen Behandlungsangeboten und sei nicht erreichbar. Mit Beschluss des Landgerichts H. vom 19. August 2011 - 10 StVK 172/11 - wurde deshalb, d.h. wegen fehlender Aussicht auf einen Behandlungserfolg und mangelnder Erreichbarkeit mit den Mitteln des Maßregelvollzuges, die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt aufgehoben und für die Dauer von drei Jahren Führungsaufsicht angeordnet. Der Kläger wurde der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt und ihm u.a. aufgegeben, regelmäßig eine Selbsthilfegruppe sowie eine Suchtberatungsstelle zu besuchen und sich jeglichen Konsums von Drogen sowie von Alkohol zu enthalten. Der Kläger wurde darauf hin am 12. September 2011 entlassen und wohnt seitdem wieder bei seinen Eltern in B.. Nach einem Bericht der Bewährungshelferin vom 23. Januar 2012 habe er mit der Suchtberatungsstelle Kontakt aufgenommen, wegen Abstinenz aber keinen weiteren Beratungsbedarf gesehen. Ebenso wenig würden in Selbsthilfegruppen seine Probleme behandelt. Mit weiterem Bericht vom 24. Februar 2012 wurde darauf verwiesen, dass eine erste Urinkontrolle beim Kläger (negativ) verlaufen sei. Die erforderlichen Gesprächskontakte werden nach dem Bericht der Bewährungshelferin vom 2. April 2012 wahrgenommen.

5

Nach Anhörung wies der Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 10. April 2007 unbefristet aus, setzte ihm für den - zwischenzeitlich eingetretenen - Fall, dass die Abschiebung nicht aus der Haft erfolgen könne, eine Ausreisefrist von einem Monat nach seiner Entlassung aus der Haft bzw. nach "Rechtskraft" dieses Bescheides und drohte ihm andernfalls die Abschiebung in die Türkei an. Der Kläger sei abgeleitet über seinen Vater nach Art. 7 ARB 1/80 assoziationsberechtigt und könne deshalb nur aus spezialpräventiven Gründen im Ermessenswege ausgewiesen werden. Auf Grund seiner schwerwiegenden, sich steigernden Straftaten, seinem Bewährungsversagen und seiner Drogenabhängigkeit bestehe Wiederholungsgefahr, also die konkrete Gefahr weiterer schwerer Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Durchgreifende persönliche Gründe stünden dem Überwiegen des öffentlichen Interesses nicht entgegen. Der Kläger sei zwar sehr jung eingereist, habe sich langjährig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten, seine Eltern, Geschwister und weitere Verwandte lebten hier, er habe sich jedoch nicht integriert, verfüge u.a. lediglich über einen Sonderschulabschluss und keine Berufsausbildung, sei nicht regelmäßig erwerbstätig gewesen und auch seine Herkunftsfamilie habe ihn nicht von der Begehung von Straftaten abhalten können.

6

Der Kläger hat am 10. Mai 2007 den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Der Beklagte habe den sich aus dem Assoziationsrecht ergebenden Anforderungen an die Darlegung einer aktuell vom Kläger ausgehenden Gefahr nicht genügt; seine Ermessenserwägungen seien unzureichend. Zudem könne er ohnehin nur auf Grund des entsprechend anwendbaren Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG ausgewiesen werden. Die dazu erforderlichen hohen Voraussetzungen seien nicht gegeben. Der Kläger sei nicht zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt worden. In der mündlichen Verhandlung hat sich der Kläger ergänzend darauf berufen, dass er in der Haft durchaus an sozialem Training und Anti-Gewalt-Kursen habe teilnehmen wollen, aber nicht die erforderliche Zulassung erhalten habe.

7

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 10. April 2007 aufzuheben.

8

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG sei auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige wie den Kläger nicht entsprechend anwendbar. Den stattdessen sich aus Art. 7, 14 ARB 1/80 ergebenden Anforderungen an eine Ausweisung habe er hinreichend Rechnung getragen, insbesondere unter Berücksichtigung der aktuellen Lage hinreichend die fortbestehende Gefährlichkeit des Klägers belegt und ins Verhältnis zu den vom Kläger vorgetragenen oder sonst bekannten schutzwürdigen Bindungen an das Bundesgebiet gesetzt.

10

Nach zwischenzeitlicher Aussetzung des Verfahrens hat das Verwaltungsgericht - Einzelrichterin - die Klage durch Urteil vom 13. Oktober 2010 abgewiesen und wegen grundsätzlicher Bedeutung die Berufung zugelassen. Der Kläger sei nach Art. 7 ARB 1/80 assoziationsberechtigt und könne deshalb nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstelle. Eine solche Wiederholungsgefahr sei hier gegeben, wobei im Hinblick auf die Bedeutung der betroffenen Schutzgüter eher geringe Anforderungen zu stellen seien; Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG sei hingegen auf den Kläger unanwendbar. Er sei mehrfacher Bewährungs- sowie Therapieversager, die Schwere seiner Straftaten habe sich zunehmend gesteigert. Ihm fehlten Einsicht, Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Geschehen; therapeutische Unterstützung nehme er nicht an. Die danach eröffnete Möglichkeit der Ausweisung sei weder unverhältnismäßig noch ermessensfehlerhaft verfügt worden. Der Kläger sei zwar im Bundesgebiet aufgewachsen, hier aber nicht integriert. Besonders geschützte Bindungen an eine von ihm begründete Familie bestünden nicht. Auf ein Zusammenleben mit seinen Eltern sei er nicht angewiesen. Der Aufbau einer Existenz in der Türkei sei ihm möglich und zumutbar. Eine zeitliche Befristung der Ausweisung sei nicht erforderlich gewesen. Ebenso wenig sei die Abschiebungsandrohung zu beanstanden.

11

Gegen das ihm am 18. Oktober 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 11. November 2010 Berufung eingelegt und diese am 20. Dezember 2010, einem Montag, begründet. Er hat sich ergänzend zum bisherigen Vorbringen darauf berufen, dass bei fehlender Anwendbarkeit des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a Richtlinie 2004/38/EG auf ihn jedenfalls das sog. Vier-Augen Prinzip nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG fortgelte, dies hier nach Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in Niedersachsen nicht gewahrt und die Ausweisung schon deshalb rechtswidrig sei. Materiell ergebe sich auch nach seiner Ausbürgerung der Schutz vor einer Ausweisung aus Art. 12 Richtlinie 2003/109 EG. Die danach erforderliche Gewichtung der negativen und positiven Aspekte durch den Beklagten sei unzureichend, die fehlende wirtschaftliche Integration übergewichtet und seine schutzwürdigen Bindungen an seine umfangreiche Herkunftsfamilie untergewichtet worden; insoweit bestehe eine außergewöhnliche, emotionale und wirtschaftlich relevante Verbindung. Er sei zur vollständigen Resozialisierung auf seine Familie angewiesen, während er in der Türkei keine Verwandten habe. Die mit Schriftsatz vom 9. Mai 2012 und 12. Juni 2012 aktualisierten Ermessenserwägungen des Beklagten unterstellten ihm zu.U.nrecht, sich nach der Entlassung lediglich unter dem Druck dieses Verfahrens angepasst zu verhalten und nicht aus innerer Überzeugung; von ihm gehe keine Wiederholungsgefahr mehr aus. Die Sanktionen hätten bei ihm den gewünschten Abschreckungseffekt erzielt. Zudem werde übersehen, dass er als Staatenloser ohnehin nicht in die Türkei abgeschoben werden könne und den möglichen Wiedereinbürgerungsantrag nicht stellen werde, weil er in der Türkei nicht leben wolle. Ein solcher Antrag sei ihm auf Grund der vormaligen Verfolgung wegen seiner yezidischen Religion auch unzumutbar. Seine Angehörigen seien rechtschaffene Leute, der Onkel als früherer Mittäter bereits abgeschoben. Auch bei einer spezialpräventiv begründeten Altausweisung - wie hier - müssten die Wirkungen der Ausweisung vom Amts wegen zugleich befristet werden.

12

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 10. April 2007 in der Fassung des Schriftsatzes vom 12. Juni 2012 unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Lüneburg - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 13. Oktober 2010 aufzuheben,

hilfsweise, den Beklagten zu verpflichten, die Wirkungen der Ausweisung zu befristen.

13

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

14

Ein Widerspruchsverfahren sei nicht notwendig gewesen, da an die Stelle des Art. 9 Richtlinie 64/221/EWG insoweit Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG getreten sei und dessen Anforderungen an das verwaltungsgerichtliche Verfahren hier entsprochen werde. Der Kläger stelle unverändert eine Gefahr dar, wie sich insbesondere aus dem mangels Behandlung des Klägers weiterhin aktuellen Gutachten von Prof. Dr. G. ergebe. Er habe seine Ermessenserwägungen entsprechend den Vorgaben des Bundesverwaltungsgerichts mit Schriftsatz vom 12. Juni 2012 aktualisiert. Diese aktualisierten Ermessenserwägungen seien nicht fehlerhaft, insbesondere würden wirtschaftliche Erwägungen nicht übergewichtet, sondern lediglich auf die fehlende Berufsausbildung und eine unstete Erwerbstätigkeit des Klägers hingewiesen. Zudem müsse der Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht weitergehende Belege etwa in Form eines Fachgutachtens vorlegen. Er sei auf seine Familie nicht besonders angewiesen, zumal diese schon in der Vergangenheit keinen positiven Einfluss auf seinen strafrechtlichen Werdegang ausgeübt habe. Die Abschiebung des Klägers sei auch nicht auf Dauer undurchführbar. Vielmehr sei er verpflichtet, einen Wiedereinbürgerungsantrag zu stellen. Wenn er dies weiterhin unterlasse, mache er sich ggf. sogar strafbar. Die Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG finde auf Ausweisungen wegen Straftaten schon grundsätzlich keine Anwendung, beziehe sich hilfsweise aber jedenfalls nicht bereits auf die Ausweisung, sondern erst auf die nachfolgende eigentliche Aufenthaltsbeendigung. Im Übrigen könne bei einer spezialpräventiven Ausweisung - wie hier - nicht bereits von Anfang an gesagt werden, wann die Gründe hierfür zukünftig entfallen würden.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

16

Die - auch nach Zulassung der Berufung durch die Einzelrichterin wegen grundsätzlicher Bedeutung (vgl. BVerwG, Urt. v. 9.3.2005 - 6 C 8/04 -, [...], Rn. 13 f.) - statthafte und im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht begründete Berufung ist unbegründet.

17

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass Prüfungsmaßstab für die Rechtmäßigkeit der Ausweisung § 55 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 ist, da der Kläger eine Assoziationsberechtigung nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 erlangt (1.a) und nachfolgend nicht wieder verloren hat (1.b).

18

1.

Nach dem - nach ständiger Rechtsprechung unmittelbar anwendbaren und dem Begünstigten nicht nur ein Recht auf Arbeitsaufnahme, sondern auch auf Aufenthalt vermittelnden (vgl. nur Hailbronner, Ausländerrecht, Art. 7 ARB 1/80, Rn. 7, m.w.N.) - Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 haben Familienangehörige eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen, vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs, das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (erster Spiegelstrich). Sie haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- und Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben (zweiter Spiegelstrich).

19

1.

a)

aa)

Es ist für den Erwerb einer Rechtsposition aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ohne Bedeutung, dass der Kläger bereits im Jahr 1979 in das Bundesgebiet eingereist war, diese Bestimmung des Assoziationsratsbeschlusses jedoch nach Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80 erst am 1. Dezember 1980 in Kraft trat und Rechtswirkungen entfaltete (vgl. hierzu und zum Folgenden BVerwG, Beschl. v. 15.7.1997 -.1 C 24/96 -, [...], Rn. 21 f., m.w.N.).

20

bb)

Der Anspruch setzt voraus, dass der Familienangehörige die Genehmigung erhalten hat, zu dem türkischen Arbeitnehmer zu ziehen, der dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates angehört.

21

Im Jahr 1979 war die Einreise des minderjährigen Klägers gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353) - AuslG 1965 - aufenthaltsgenehmigungsfrei. Verlangte also das nationale Ausländerrecht für den Zuzug des Familienangehörigen die in Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 vorausgesetzte Genehmigung zum Zuzug nicht, so steht die genehmigungsfreie Einreise zum Zwecke der Familienzusammenführung jedenfalls dann der Genehmigung gleich, wenn die Behörde von der ihr hier nach § 7 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 AuslG 1965 eingeräumten Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat, den Aufenthalt des Familienangehörigen nachträglich zeitlich zu beschränken. Letzteres ist hier nicht ersichtlich. Ob - wie das Verwaltungsgericht angenommen hat - die Einreise des Klägers als Asylbewerber ausreichend wäre, kann deshalb offen bleiben.

22

cc)

Der Vater des Klägers gehörte auch dem regulären Arbeitsmarkt an, da er sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielt und jedenfalls für seine sich aus dem vorgelegten Rentenversicherungsverlauf ergebenden Beschäftigungen nach Aktenlage auch im Besitz einer Arbeitserlaubnis war. Dass der Vater ursprünglich, d.h. bis zum Jahr 1990, ein Aufenthaltsrecht und damit die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt nur auf Grund seiner Asylantragstellung erworben hatte, ist unerheblich (vgl. das bereits vom Verwaltungsgericht zitierte Urt. d. EuGH v. 18.12.2008 - C 337/07 -).

23

dd)

Ein Anspruch aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 setzt des Weiteren voraus, dass die Familienangehörigen "dort seit mindestens drei (bzw. fünf) Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben", d.h. jeweils über die erforderlichen Aufenthaltstitel verfügten bzw. sich ohne einen solchen Titel rechtmäßig aufhielten. Auch hieran besteht hinsichtlich des Vaters des Klägers kein Zweifel; der Kläger selbst benötigte - wie dargelegt - zunächst keinen Aufenthaltstitel und hat einen solchen nachfolgend im Jahr 1993 erhalten. Er hat nach Aktenlage jedenfalls bis zu seiner ersten Inhaftierung und damit mehr als fünf Jahre im elterlichen Haushalt gelebt.

24

1.

b)

Das demnach entstandene Recht aus Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 erlosch weder durch die mehrjährige Inhaftierung des Klägers (vgl. nur die Nachweise bei Hailbronner, Ausländerrecht, Art. 7 ARB 1/80, Rn. 31) noch durch den Verlust seiner türkischen Staatsangehörigkeit (vgl. EuGH, Urt. v. 29.3.2012 - C 7 und 9/10 - hinsichtlich des "Stammberechtigten") oder mit Eintritt der Volljährigkeit bzw. Vollendung des 21. Lebensjahres des Klägers (vgl. EuGH, Urt. v. 18.7.2007 - C-325/05 - sowie Senatsurt. v. 16.5.2006 - 11 LC 324/05 -, [...], Rn. 49 ff.).

25

2.

a)

Aus der Assoziationsberechtigung des Klägers nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 folgt keine Verpflichtung zur Durchführung eines in Niedersachsen nach § 8a AG VwGO grundsätzlich in ausländerrechtlichen Verfahren nicht mehr erforderlichen Widerspruchsverfahrens (so schon im Ergebnis Senatsurt. v. 16.5.2006 - 11 LC 324/05 -, a.a.O., Rn. 59; aus neuerer Zeit ebenso: Bayr. VGH, Beschl. v. 7.3.2011 - 19 ZB 10.2701 -, [...], Rn. 6 ff., m. w. N; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 - [...], Rn. 35 ff.; OVG NRW, Urt. v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 -, [...], Rn. 35 ff.).

26

aa)

Zwar ist eine solche Verpflichtung ursprünglich daraus abgeleitet worden, dass die diesbezügliche Verfahrensvorschrift des Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG auch auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige anwendbar war (BVerwG, Urt. v. 9.8.2007 - 1 C 47/06 -, [...], Rn. 22 ff. zu einem Altfall). Wie der EuGH zwischenzeitlich mit Urteil vom 8. Dezember 2011 (- C-371/08 -, [...], Rn. 76 ff.) entschieden hat, kann nach Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG durch die Richtlinie 2004/38/EG für die Bestimmung des einem (langjährig) assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zustehenden Ausweisungsschutzes auf keine der beiden Richtlinien abgestellt werden.

27

Vielmehr (Rn. 78 f.)

"ist ... für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ein anderer unionsrechtlicher Bezugsrahmen zu bestimmen. Für einen Ausländer (...), der sich seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, wird dieser Bezugsrahmen mangels günstigerer Vorschriften im Assoziationsrecht EWG-Türkei durch Art. 12 der Richtlinie 2003/109 gebildet, der eine Vorschrift zum Mindestschutz vor Ausweisungen von Drittstaatsangehörigen darstellt, die in einem Mitgliedstaat die Rechtsstellung von langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzen."

28

Dass die Bestimmung dieses nunmehr maßgeblichen Bezugsrahmens nur für das materielle, nicht aber für das Verfahrensrecht gelten soll, ist nicht zu erkennen, zumal der Europäische Gerichtshof ausdrücklich betont, dass über die Rechtmäßigkeit der Ausweisung anhand der gegenwärtigen Situation des Assoziationsberechtigten zu entscheiden ist. Art. 12 Richtlinie 2003/109/EG enthält keine Regelung über die Notwendigkeit der Überprüfung einer Ausweisung durch eine "unabhängige Stelle", d.h. im Bundesgebiet etwa durch eine Widerspruchsbehörde, sondern schreibt stattdessen in den Absätzen 4 und 5, die ausdrücklich über Artikel 10 hinausgehende, spezielle Regeln über das Verfahrensrecht für Ausweisungen enthalten, vor, dass dem Ausländer gegen eine Ausweisung der Rechtsweg offen steht und ihm ggf. Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.

29

bb)

Die Fortgeltung der aus Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG abgeleiteten Verpflichtung zur Durchführung eines Widerspruchsverfahrens kann auch nicht erfolgreich auf die sog. Standstillklausel des Art. 13 ARB 1/80 gestützt werden. Danach ist die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen verboten, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Standstillklausel oder seitdem zwischenzeitlich galten.

30

Bei dem danach erforderlichen Vergleich des Rechtsschutzniveaus nach Art. 10, 12 Richtlinie 2003/109/EG - gerichtliche Prüfung nach den aktuellen Verhältnissen - mit dem nach Art. 9 Abs. 1 Richtlinie 64/221/EWG - Überprüfung durch eine unabhängige Stelle nach den damaligen Verhältnissen - ist schon keine Verschlechterung zu erkennen; eine solche ist erkennbar mit der Veränderung des europäischen Rechts auch nicht beabsichtigt, sondern im Gegenteil eine Verbesserung (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 -, a.a.O., Rn. 45). Ebenso wenig kann aus der Standstillklausel abgeleitet werden, dass assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen dann der Schutz beider Bestimmungen kumulativ zu Gute käme; eine solche Kumulation geht über das beabsichtigte Verschlechterungsverbot hinaus.

31

Zudem besteht jedenfalls für das nationale Recht hinsichtlich der freizügigkeitsberechtigten Unionsangehörigen bzw. der sich in einer vergleichbaren Situation befindlichen Daueraufenthaltsberechtigten ebenfalls keine Verpflichtung, vor der Feststellung des Verlustes ihres Aufenthaltsrechts bzw. ihrer Ausweisung eine unabhängige Stelle zu beteiligen bzw. ein Widerspruchsverfahren durchzuführen. Selbst wenn man also in der Abschaffung des Widerspruchsverfahrens eine belastende Veränderung der Rechtslage sehen würde, wäre sie zulässig, weil sie auch für Unionsbürger bzw. Daueraufenthaltsberechtigte in vergleichbarer Situation gilt und assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nach Art. 59 des Zusatzprotokolls vom 19. Mai 1972 zum Assoziationsabkommen nicht besser gestellt werden dürfen (ebenso OVG NRW, Urt. v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 -, a.a.O., Rn. 53 m.w.N. u.a. auf EuGH, Urt. v. 17.9.2009 - C-242/06 -, Rn. 67 ff. für Gebühren).

32

2.

b)

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urt. v. 13.12.2011 - 1 C 14/10 -, [...], Rn. 18 f.), der der Senat folgt, ergeben sich aus der Verpflichtung der Ausländerbehörde zur verfahrensbegleitenden Kontrolle ihres Ausweisungsbescheides (nationale) verfahrensrechtliche Pflichten dergestalt, dass

"bei der Ergänzung von behördlichen Ermessenserwägungen im gerichtlichen Verfahren strenge Anforderungen an Form und Handhabung zu stellen sind. Die Behörde muss klar und eindeutig zu erkennen geben, mit welcher "neuen" Begründung die behördliche Entscheidung letztlich aufrechterhalten bleibt, da nur dann der Betroffene wirksam seine Rechte verfolgen und die Gerichte die Rechtmäßigkeit der Verfügung überprüfen können. Dafür genügt es nicht, dass die Behörde bei einer nachträglichen Änderung der Sachlage im gerichtlichen Verfahren neue Ermessenserwägungen geltend macht. Sie muss zugleich deutlich machen, welche ihrer ursprünglichen bzw. bereits früher nachgeschobenen Erwägungen weiterhin aufrecht erhalten bleiben und welche durch die neuen Erwägungen gegenstandslos werden. Auch muss sie im gerichtlichen Verfahren erkennbar trennen zwischen neuen Begründungselementen, die den Inhalt ihrer Entscheidung betreffen, und Ausführungen, mit denen sie lediglich als Prozesspartei ihre Entscheidung verteidigt. Aus Gründen der Rechtsklarheit und -sicherheit muss die Nachholung von Ermessenserwägungen grundsätzlich schriftlich erfolgen. Ergänzungen in der mündlichen Verhandlung sollten vom Gericht als solche protokolliert werden. Da etwaige Zweifel und Unklarheiten über Inhalt und Umfang nachträglicher Ergänzungen zu Lasten der Behörde gehen, erscheint es sinnvoll, wenn sie bei nachträglichen Ergänzungen die nunmehr maßgebliche Begründung zusammenhängend darstellt.

Außerdem hat die Behörde auch die sonstigen gesetzlichen Verfahrensrechte des Betroffenen zu beachten, wenn sie im gerichtlichen Verfahren wegen neu eingetretener Umstände ihre Ermessenserwägungen ergänzen ... will. Sie muss dem Betroffenen daher grundsätzlich zunächst Gelegenheit geben, sich zu den neuen Tatsachen zu äußern. Unabhängig davon, in welchem Stadium des gerichtlichen Verfahrens sich für die Behörde Anlass bietet, ihre Ermessensausübung nachzubessern, hat das Gericht diesem Umstand Rechnung zu tragen und der Behörde in zeitlicher Hinsicht eine Aktualisierung ihrer Ermessensentscheidung zu ermöglichen. Stützt die Behörde ihre Entscheidung während des gerichtlichen Verfahrens auf neue Ermessenserwägungen, hat das Gericht dafür Sorge zu tragen, dass auch der Betroffene hinreichend Gelegenheit erhält, seine Rechtsverteidigung hierauf einzustellen."

33

Diese verfahrensrechtlichen Anforderungen sind hier erfüllt worden. Dem Beklagten ist im Hinblick auf die lange Dauer des gerichtlichen Verfahrens und die seit Erlass seines Bescheides eingetretenen Veränderungen Gelegenheit zur Aktualisierung seiner Ermessenserwägungen gegeben worden. Er hat hiervon nach Anhörung des Klägers in der Fassung des Schriftsatzes vom 12. Juni 2012 hinreichend zusammenfassend Gebrauch gemacht und in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass sein Bescheid vom 10. April 2007 nunmehr in der Fassung dieses Schriftsatzes vom 12. Juni 2012 gelten soll. Der Kläger hatte hinreichend Gelegenheit, sich hierzu zu äußern, und hat diese mit Schriftsatz vom 20. Juni 2012 auch wahrgenommen.

34

Zur Klarstellung wird noch darauf hingewiesen, dass einer Aktualisierung der Ermessenserwägungen nicht entgegenstand, dass der Ausgangsbescheid zu.U.nrecht als gebundener Bescheid ergangen oder unheilbar ermessensfehlerhaft gewesen wäre (vgl. zu einer solchen Fallgestaltung das Senatsurt. v. 25.11.2010 - 11 LB 481/09 -, [...], Rn. 29 ff.). Vielmehr hatte der Beklagte bereits ursprünglich erkannt, dass nur eine Ermessensausweisung des Klägers in Betracht kam, und das Ermessen auch nicht erkennbar fehlerhaft ausgeübt.

35

3.

Die demnach formell rechtmäßige Ermessensausweisung des Klägers ist auch materiell rechtmäßig.

36

Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80. Zwar hat der Kläger den Ausweisungstatbestand des § 53 Nr. 1 AufenthG verwirklicht. Als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger darf er nach unionsrechtlichen Grundsätzen jedoch nur aufgrund einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausgewiesen werden (vgl. nur BVerwG, Urt. vom 3.8.2004 - 1 C 29/02 -, [...], Rn. 17 ff.) Darüber hinaus genießt der Kläger, der im Zeitpunkt seiner Ausweisung im Besitz eines nach § 101 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fortgeltenden Aufenthaltstitels war, und sich davor mehr als fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hatte, besonderen Ausweisungsschutz jedenfalls nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG mit der Folge, dass seine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässig ist (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).

37

Auf den weitergehenden - erhöhten - Ausweisungsschutz in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, den der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG normiert hat, kann sich der Kläger hingegen nicht erfolgreich berufen, weil der unionsrechtliche Ausweisungsschutz auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht übertragbar ist (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 -, a.a.O.).

38

3.

a)

Wie dargelegt, bestimmt sich der materielle Schutz von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen vielmehr in entsprechender Anwendung von Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG. Danach können sie nur ausgewiesen werden, wenn ihr individuelles Verhalten eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefährdung für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden.

39

Das Verhalten des Klägers stellt auch aktuell eine Gefährdung im vorgenannten Sinne dar, so dass im Übrigen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gegeben sind.

40

Denn er hat seit Eintritt seiner Strafmündigkeit beständig Straftaten begangen, deren Schweregrad zunehmend anstieg, und sich hiervon trotz Jugendarrest, wiederholten Bewährungsmöglichkeiten und Verurteilungen zu einer Jugendstrafe sowie einer ersten Freiheitsstrafe nicht abhalten lassen. Vielmehr hat er Lockerungen des Maßregelvollzuges im Jahr 2005 dazu missbraucht, eine weitere schwerwiegende Straftat - u.a. Vergewaltigung und Freiheitsberaubung - zu begehen. Entgegen seines Vorbringens kann auch nicht festgestellt werden, dass insoweit keine Wiederholungsgefahr mehr besteht, wobei offen bleiben kann, ob diesbezüglich die Anforderungen eher gering sind (vgl. insoweit gegenüber der Rechtsprechung des BVerwG kritisch VGH Bad.-Württ, Urt. v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 -, a.a.O., Rn. 76 - 78), weil mit schwerwiegenden Angriffen auf die körperliche Integrität von anderen Menschen vorliegend ein besonders hochrangiges Schutzgut gefährdet ist, oder bei einer Gesamtschau mit der Begehung erneuter Straftaten bzw. der Verursachung sonstiger erheblicher Gefahren absehbar zu rechnen ist. Die insoweit maßgebenden Prognosegrundlagen sind in dem Gutachten von Prof. Dr. G. vom 21. März 2011 ausführlich mit dem Ergebnis erörtert worden, dass bei dem Kläger eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit besteht. Hierfür spricht nicht nur der lang anhaltende sog. Substanzmissbrauch des Klägers, sondern u.a. seine bisherige Kriminalitätsentwicklung, das Bewährungsversagen, die seit der Jugend festgestellten Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten sowie die ungenügende Störungseinsicht und Auseinandersetzung mit seinen Straftaten, die fehlende Opferempathie, seine relativ geringe soziale Kompetenz, seine allenfalls kurzfristigen Beschäftigungsverhältnisse, die fehlende stabile Partnerschaft und die unzureichende realistische Erwartungshaltung im Hinblick auf die Rückkehr in das (familiäre) soziale Umfeld, in dem er sich problematisch entwickelte. Da alle bisher durchgeführten Therapien nicht regulär beendet worden sind, ist auch keine Änderung hinsichtlich der kriminogenen Störung und der grundlegenden Verhaltensdispositionen des Klägers zu erkennen. Um weitere erhebliche Straftaten zu verhindern, gibt es keine Alternative zu einer kontrollierten und strukturierten, d.h. stationären Behandlung der Suchtmittelabhängigkeit, die die Bearbeitung des Indexdelikts und der Problematik der dissozialen Persönlichkeitsstruktur zwingend einschließen muss. Zu einer solchen Behandlung ist es aber nicht gekommen, da sich der Kläger dieser verweigert hat. Er ist deshalb aus dem Maßregelvollzug entlassen worden, obwohl sich nach dem ärztlichen Entlassungsbericht vom 10. August 2011 an den genannten Grundlagen für eine negative Prognose nichts geändert hatte. Es lässt sich nicht einmal feststellen, dass er den im Beschluss des Landgerichts Göttingen vom 19. August 2011 genannten ambulanten Maßnahmen, d.h. regelmäßige Teilnahme an einer Selbsthilfegruppe und Besuch einer Suchtberatungsstelle, nachkommt. Dass dies von ihm und ggf. von anderen Beteiligten nicht für erforderlich erachtet wird, ist angesichts des Inhalts des Beschlusses und insbesondere der überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. G. unerheblich. Allein bzw. nur mit Unterstützung des sozialen, insbesondere (groß-)familiären Umfeldes kann dem Kläger die notwendige dauerhafte Verhaltensänderung nicht gelingen, da er dazu professioneller Unterstützung bedarf, die ihm dieses Umfeld nicht bietet. Hinzu tritt, dass seine notwendige Behandlung gerade auch darauf zielt, ihn zu größerer Unabhängigkeit gegenüber den Sozialstrukturen, in die er eingebunden war und wieder zurückgekehrt ist, zu befähigen. Hierzu ist der Kläger aber offenbar nicht bereit bzw. in der Lage. Dass er seit der Entlassung aus dem Maßregelvollzug im September 2011 nicht erneut strafrechtlich aufgefallen ist, führt zu keiner anderen Einschätzung, da er auch in der Vergangenheit, etwa Ende der 90-Jahre, vorübergehend, und zwar für einen längeren Zeitraum als bislang, nicht negativ auffiel, danach aber um so schwerwiegendere Straftaten begangen hat und dies nach den vorherigen Ausführungen hier unverändert erneut befürchtet werden muss. Anlass zur Einholung weiterer sachverständiger Hilfe besteht insoweit nicht.

41

3.

b)

Geht somit vom Kläger eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus und beruht seine Ausweisung hierauf, also weder allein auf der Begehung von Straftaten noch auf wirtschaftlichen Überlegungen, so sind weiterhin - und zwar im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und in Ausübung sachgerechten Ermessens - die Dauer des Aufenthalts des betroffenen Ausländers im Hoheitsgebiet des Aufenthaltsstaates, sein Alter, die Folgen einer Ausweisung für ihn und seine Familienangehörigen sowie seine Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urt. v. 8.12.2011 - C-371/08 -, a.a.O., Rn. 80).

42

Aus dem nationalen Recht und den ergänzend heranzuziehenden Bestimmungen der EMRK ergibt sich kein abweichender Maßstab. Denn auch die nach § 55 AufenthG vorzunehmende Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde (vgl. zum Folgenden OVG NRW, Urt. v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 -, a.a.O., Rn. 81 ff.) erfordert eine sachgerechte Abwägung der gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise des Ausländers mit dessen privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Dabei kann sich die Ausländerbehörde in ihrer Abwägung an den in §§ 53 bis 55 AufenthG aufgeführten Wertungen des Gesetzgebers orientieren. Die darin normierten Tatbestände dürfen allerdings nicht im Sinne einer Regelvermutung oder einer sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive angewendet werden, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist stets auf die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen. Zugunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthaltes und seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn diese über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.8.2009 - 1 C 25/08 -, [...], Rn. 23 f.). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR gewährt Art. 8 EMRK selbst im Gastland geborenen und aufgewachsenen Ausländern der sog. zweiten Generation allerdings kein absolutes Bleiberecht. Ob ein Ausländer der zweiten Generation ausgewiesen werden kann, ist letztlich anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander zu ermitteln. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung sind auch hierbei als Kriterien einzustellen: Die Art und Schwere der von dem Ausländer begangenen Straftaten; die Dauer seines Aufenthalts in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Ausländers während dieser Zeit; die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat der Ausweisung sowie die familiäre Situation des Ausländers (vgl. EGMR, Urt. v. 12.1.2010 - 47486/06 -, InfAuslR 2010, 369 ff., Senatsurt. v. 11.8.2010 - 11 LB 425/09 -, [...], Rn. 49 ff.). In die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist schließlich auch die Frage nach der Dauer der Wirkungen der Ausweisung einzubeziehen, wobei bei einer erhöhten Rückfallgefährdung des Ausländers, bei dem ein Anknüpfungspunkt für die Neubegründung eines Aufenthaltsrechts im Bundesgebiet nach Ablauf der Sperrwirkungen der Ausweisung besteht, eine spezialpräventiv begründete Ausweisung nicht bereits mit Erlass befristet werden muss (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.8.2009 - 1 C 25/08 -, a.a.O., Rn. 25).

43

aa)

Danach erweist sich die Ausweisung des Klägers zunächst als verhältnismäßig.

44

Sie ist ungeachtet der im Hinblick auf die gegenwärtige Staatenlosigkeit des Klägers unsicheren Vollzugsmöglichkeit durch Abschiebung in die Türkei geeignet, da eine solche Abschiebung nicht die einzige Rechtswirkung der Ausweisung ist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.7.2003 - 1 B 252/02 -, [...], Rn. 7; GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG, Rn. 429, m.w.N.); sie führt vielmehr nach § 11 Abs. 1 und 2 AufenthG zum Erlöschen bestehender Aufenthaltstitel und grundsätzlich zur Wiedererteilungssperre sowie bei einer freiwilligen Ausreise, etwa in einen Drittstaat, grundsätzlich zu einem Wiedereinreiseverbot.

45

Mildere, gleichwirksame (ausländerrechtliche) Mittel sind nicht erkennbar; insbesondere hätte der nach dem bestandskräftigen Widerruf der Asylberechtigung mögliche Widerruf der Niederlassungserlaubnis nicht die gleichen umfassenden Wirkungen wie die Ausweisung gehabt.

46

Die Ausweisung ist schließlich auch im engeren Sinne verhältnismäßig, also angemessen. Der Kläger ist zwar im Bundesgebiet seit seinem ersten Lebensjahr aufgewachsen, ihm ist jedoch ungeachtet dessen und trotz seines Alters von 34 Jahren keine Integration in die hiesigen Verhältnisse gelungen. Er verfügt zwar über einen Sonderschul- und ggf. auch einen Hauptschulabschluss, aber über keine weitergehende schulische oder berufliche Bildung. Hierum bemüht sich der Kläger offenbar auch selbst nicht. Er verweigert zudem eine notwendige Aufarbeitung seiner persönlichen Defizite durch Inanspruchnahme professioneller Hilfe. Wegen allenfalls kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse hat er sich keine wirtschaftliche Existenz aufbauen können; auch sein gegenwärtiges Beschäftigungsverhältnis ist nicht hinreichend gefestigt. Eine eigene Familie hat er nicht gegründet, sein Verhältnis zur Herkunftsfamilie ist ambivalent. Einerseits ist er ihr wohl auch auf Grund der Besonderheiten seiner yezidischen Abstammung stark verhaftet und stützt umgekehrt die Familie ihn trotz seiner Verfehlungen und der Bezeichnung als "schwarzes Schaf" weiterhin, andererseits hat ihn diese Bindung weder von der Begehung von Straftaten sowie sonstigen Traditionsbrüchen, wie die mehrjährige Beziehung zu einer nicht-yezidischen Frau, abhalten können noch ist sie seiner Stabilisierung und Eingliederung in die hiesige Gesellschaft - der Kläger spricht von einer Resozialisierung - zuträglich. Außerdem ist er mehrfach, insbesondere auch bei der letzten Straftat während des Maßregelvollzuges, gemeinsam mit (entfernten) Verwandten straffällig geworden. Dass der zuletzt beteiligte Onkel bereits in die Türkei abgeschoben worden ist, ändert an der Tatsache, dass der Kläger gerade aus dem vertrauten Umfeld, in das er zurückgekehrt ist, heraus und mit Bekannten bzw. Verwandten straffällig geworden ist, nichts Grundlegendes. Besonders schutzwürdig sind seine Bindungen an das Bundesgebiet damit nicht. Stärker zu seinen Gunsten ins Gewicht fällt schon, dass er bei einer Ausreise im Alter von einem Jahr mit den Verhältnissen in der Türkei kaum vertraut ist und ihm auf Grund seiner dissozialen Persönlichkeitsstruktur der bei einer Ausreise/Abschiebung dorthin erforderliche Neubeginn schwer fallen wird. Mit dem bestandskräftigen und den Beklagten als Ausländerbehörde nach § 42 AsylVfG bindenden Widerrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom Juli 2005 ist allerdings festgestellt worden, dass dem Kläger in der Türkei weder wegen seiner vorgetragenen yezidischen Abstammung noch sonst erhebliche existenzielle Nachteile drohen; dabei ist ungeachtet der zuvor angenommenen Gruppenverfolgung eine Rückkehr in die Türkei als grundsätzlich zumutbar angesehen worden (vgl. § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG). Bei dieser Sachlage überwiegt das öffentliche Interesse, den Kläger durch die Ausweisung an der Begehung weiterer zu befürchtender schwerwiegender Straftaten insbesondere gegen die Freiheit und körperliche Unversehrtheit Dritter zu hindern, sein Interesse an einem legalen Verbleib im Bundesgebiet.

47

Gemessen an den vorgenannten Kriterien musste die spezialpräventive Ausweisung des Klägers zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit schließlich auch nicht zugleich befristet werden, da ihm nach § 37 Abs. 1, 2 AufenthG grundsätzlich eine Rückkehroption eröffnet und gegenwärtig nicht absehbar ist, wann das von ihm ausgehende Sicherheitsrisiko wegfallen wird oder zumindest kalkulierbar bzw. nachrangig sein wird. Derzeit können auch nicht ersatzweise hinreichende Bedingungen für eine Begrenzung der Sperrwirkungen formuliert werden. Aus der sog. Rückführungsrichtlinie (2008/115/EG) ergibt sich schon deshalb keine abweichende Beurteilung, weil diese für die Rechtmäßigkeit von Ausweisungen aus dem Jahr 2007 - wie hier - als solche (vgl. aber die Einschränkung nachfolgend unter Ziffer 4) schon zeitlich nicht unmittelbar (rückwirkend) anwendbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.2.2012 - 1 C 7/11 -, [...], Rn. 35).

48

bb)

Auch die verwaltungsgerichtlich nur im Rahmen des § 114 VwGO überprüfbare Ermessensentscheidung des Beklagten in der aktuellen Fassung des Schriftsatzes vom 12. Juni 2012 ist rechtmäßig. Der Beklagte hat das ihm zustehende Ermessen erkannt, mit der verfügten Ausweisung die gesetzlichen Ermessensgrenzen nicht überschritten und seiner an den Kriterien des § 55 Abs. 3 AufenthG orientierten Ermessensentscheidung weder tragend fehlerhafte tatsächliche Erwägungen zu Grunde gelegt noch notwendige tatsächliche Ermittlungen unterlassen oder diesbezügliche Erwägungen zu Gunsten des Klägers unterschlagen oder fehlgewichtet.

49

Insbesondere war der Beklagte nicht verpflichtet, ein weiteres Gutachten zu der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr einzuholen, da insoweit hinreichend aktuelle und aussagekräftige ärztliche Stellungnahmen vorliegen und es im Übrigen in die verfahrensrechtliche Mitwirkungspflicht bzw. -obliegenheit des Klägers nach § 82 Abs. 1 AufenthG, § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO fällt, Unterlagen aus seiner Sphäre über den aktuellen Verlauf von bereits absolvierten Therapien bzw. den Besuch von Selbsthilfegruppen vorzulegen. Dass der Beklagte auf dieser Erkenntnisgrundlage von einem fortbestehenden Behandlungsbedarf hinsichtlich der Polytoxikomanie des Klägers ausgegangen ist, entspricht den letzten ärztlichen Stellungnahmen und ist daher ebenfalls nicht zu beanstanden. Ob die Mutmaßungen des Beklagten über die Gründe, aus denen der Kläger nach der Entlassung aus dem Maßregelvollzug bislang nicht erneut straffällig geworden ist, zutreffen, kann offen bleiben. Denn jedenfalls ist aus den o. a. Gründen der tragenden (vgl. zur Maßgeblichkeit der tragenden Ermessenserwägungen: GK-AufenthG, vor §§ 53 ff. AufenthG, Rn. 1351, m.w.N.) Schlussfolgerung beizutreten, dass die notwendige Aufarbeitung der Straftaten und die diesbezügliche Therapie des Klägers unterblieben sind und dementsprechend weiterhin die Gefahr besteht, er werde weitere erhebliche Straftaten begehen. Ob der Kläger tatsächlich in die Türkei abgeschoben werden kann, ist - wie dargelegt - schon keine zwingende Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Ausweisung. Im Übrigen sind auch die Ausführungen des Beklagten zur ausländerrechtlichen Mitwirkungsobliegenheit des Klägers hinsichtlich der Wiedereinbürgerung nicht zu beanstanden (vgl. insoweit BVerwG, Urt. v. 24. 11.1998 - 1 C 8/98 -, [...], Rn. 20 f.; Senatsurt. v. 29.1. 2009 - 11 LB 136/07 -, [...], Rn. 74), ohne dass geklärt werden muss, ob das Unterlassen ggf. sogar strafrechtlich relevant ist. Ein (individuelles) Verfolgungsschicksal, auf Grund dessen der Kläger nicht nur die Rückkehr in die Türkei, sondern auch die erneute Unterschutzstellung unter die türkische Staatsangehörigkeit ablehnen könnte, ist schon im Asylwiderrufsverfahren nicht vorgetragen oder anerkannt worden und auch hier nicht zu erkennen. Denn der Kläger hat sein Heimatland bereits im Alter von einem Jahr als Kleinkind verlassen und nach seinem Verhalten sowie seinen aus den beigezogenen Akten ersichtlichen Angaben über sein Verhältnis zur Religion bestehen erhebliche Zweifel daran, dass er überhaupt der Gruppe der glaubensgebunden lebenden Yeziden aus der Türkei angehört, die nach der Rechtsprechung vorübergehend einer mittelbaren Gruppenverfolgung ausgesetzt waren (vgl. Senatsurt. v. 17.7.2007 - 11 LB 332/03 -, [...], sowie Senatsbeschl. v. 6.10.1998 - 11 L 3907/98 -, [...], Rn. 2). Die für den Kläger sprechenden Aspekte, insbesondere seinen langjährigen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet, hat der Beklagte erkannt, aber - wie dargelegt - vertretbar als nachrangig angesehen. Dass zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse hinsichtlich der Türkei nicht bestehen, ist schon auf Grund der bindenden Feststellungen in dem Asylwiderrufsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ebenso zutreffend wie die weitere Annahme, dass der Kläger ihm bei einer Rückkehr in die Türkei drohende Gefahren (unterhalb der Schwelle von Abschiebungshindernissen) nicht konkret bezeichnet hat; sie wären im Übrigen - wie etwa zu erwartende Eingewöhnungsschwierigkeiten - nach den vorherigen Ausführungen ohnehin gegenüber dem öffentlichen Interesse nachrangig. Aus dem Vorstehenden ergibt sich schließlich auch die Richtigkeit der Annahme des Beklagten, dass dem Kläger in seinem vormaligen familiären Umfeld im Bundesgebiet eine vollständige Integration und Sozialisation voraussichtlich nicht gelingen wird.

50

4.

Ausgehend von der o. a. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 14.2.2012 - 1 C 7/11 -, [...]) ist hilfsweise über einen - von der Rechtmäßigkeit der Ausweisung als solcher abtrennbaren - Anspruch des Klägers auf Befristung der Ausweisung nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG zu entscheiden.

51

Dabei kann offen bleiben, ob eine solche Befristung im jetzigen Stadium bereits deshalb ausscheidet, weil es sich um eine spezialpräventiv begründete Ausweisung nach Begehung von Straftaten handelt, vom Kläger weiterhin eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht und in diesem Fall generell ein Befristungsanspruch ausgeschlossen ist (so wohl OVG NRW, Urt. v. 22.3.2012 - 18 A 951/09 -, a.a.O., Rn. 88 ff.; abweichend OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 13.12.2011 - 12 B 19/11 -, [...], Rn. 27).

52

Diese Gründe lassen es jedenfalls - wie dargelegt - in der Sache nicht zu, bereits jetzt einen Endzeitpunkt zu bestimmen, ab dem die vom Kläger ausgehende Gefahr weggefallen oder unter Berücksichtigung entgegenstehender persönlicher Belange zumindest nachrangig sein wird, und auf dieser Grundlage gerichtlich eine Frist zur Begrenzung der Sperrwirkung zu bestimmen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 10.2.2012 - 11 S 1361/11 -, a.a.O., Rn. 90).

53

5.

a)

Die Rechtmäßigkeit der mit der Ausweisung verbundenen Abschiebungsandrohung folgt aus § 59 Abs. 1 AufenthG (vgl. zu dem auch insoweit für die Überprüfung maßgeblichen Zeitpunkt der aktuellen Sach- und Rechtslage: BVerwG, Urt. v.22.3.2012 - 1 C 3/11 -, [...], Rn. 13). Aus dem Bescheid ergibt sich auch noch hinreichend deutlich, dass die Abschiebungsandrohung und die Bestimmung der Ausreisefrist nunmehr, d.h. nachdem der Kläger zwischenzeitlich aus der Haft entlassen worden und der Widerruf seiner Asylanerkennung bestandskräftig geworden ist, an den Eintritt der Bestandskraft (statt Rechtskraft) des hier streitigen Bescheides hinsichtlich der Ausweisung anknüpfen; dies ist auch inhaltlich nicht zu beanstanden.

54

b)

Die Bezeichnung der Türkei als Zielstaat der angedrohten Abschiebung ist ebenfalls nicht zu beanstanden. Zielstaatsbezogene Hindernisse sind nicht gegeben. Da der Kläger die Möglichkeit hat, einen Wiedereinbürgerungsantrag zu stellen, und es unabhängig hiervon auch nicht generell auszuschließen ist, dass sich die Türkei zukünftig - wie andere Staaten auch - bereit erklärt, ehemalige Staatsangehörige, die - wie der Kläger - in Folge einer Ausbürgerung staatenlos sind, wieder aufzunehmen, kann auch nicht festgestellt werden, seine Abschiebung und eine freiwillige Ausreise in diesen Zielstaat seien auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen und die Androhung der Abschiebung in die Türkei deshalb aufzuheben (vgl. BVerwG, Beschl. v. 11.7.2003 - 1 B 252/02 -, a.a.O., Rn. 7).

55

c)

Soweit dem Kläger für den eingetretenen Fall der Haftentlassung eine Frist von einem Monat ab Bestandskraft der Ausweisung für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, hat die Anfechtungsklage gegen diese Frist ebenfalls keinen Erfolg. Dass heute nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung der Gesetzesänderung vom 26. November 2011 (BGBl. I. S. 2258) regelmäßig eine kürzere Frist zu setzen ist, sofern kein Ausnahmefall vorliegt - was vom Kläger nicht geltend gemacht wird und auch sonst nicht zu erkennen ist -, ist unerheblich. Denn der Kläger wird durch eine längere Frist jedenfalls nicht in seinen Rechten verletzt, wie dies § 113 Abs. 1 VwGO für den Erfolg der Anfechtungsklage voraussetzt.