Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 07.04.2011, Az.: S 12 SF 180/10 E
Bei der Erhebung einer Untätigkeitsklage ist eine deutlich reduzierte anwaltliche Gebühr gerechtfertigt; Anwaltliche Gebühr bei der Erhebung einer Untätigkeitsklage; Bestimmung der angemessenen Gebühr innerhalb des jeweiligen Gebührenrahmens der Gebührenpositionen des VV-RVG
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 07.04.2011
- Aktenzeichen
- S 12 SF 180/10 E
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 17200
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGLUENE:2011:0407.S12SF180.10E.0A
Rechtsgrundlagen
- § 14 Abs. 1 RVG
- Anlage 1 § 2 Abs. 2 RVG
- Nr. 3102 VV-RVG
- § 44 SGB X
- § 101 Abs. 2 SGG
Tenor:
Die Verfahren mit den Aktenzeichen S 12 SF 180/10 E und S 12 SF 190/10 E werden verbunden. Führend bleibt das Aktenzeichen S 12 SF 180/10 E. Auf die Erinnerung des Erinnerungsgegners vom 10. Dezember 2010 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 24. November 2010 - S 31 AS 1101/10 - werden die vom Erinnerungsgegner an die Erinnerungsführer zu erstattenden außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits auf einen Gesamtbetrag in Höhe von 147,56 EUR nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 27. Oktober 2010 festgesetzt; bereits erfolgte Zahlungen sind dabei in Abzug zu bringen. Die Erinnerung der Erinnerungsführer vom 29. November 2010 wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Erinnerungsverfahren noch um die Höhe der den Erinnerungsführern zu erstattenden außergerichtlichen Kosten eines Untätigkeitsklageverfahrens vor dem Sozialgericht Lüneburg. Das Klageverfahren erledigte sich ohne Durchführung eines Termins zur mündlichen Verhandlung nachdem der Erinnerungsgegner mit Bescheid vom 28. September 2010 über den Überprüfungsantrag der Erinnerungsführer vom 30. Dezember 2009 entschieden hat und die Erinnerungsführer daraufhin das Verfahren für erledigt erklärt haben. Der Erinnerungsgegner erklärte sich auch dem Grunde nach zur Übernahme der notwendigen außergerichtlichen Kosten bereit.
Im vorliegenden Erinnerungsverfahren begehren die Erinnerungsführer die Festsetzung einer höheren Verfahrens- und Terminsgebühr. Der Erinnerungsgegner hält die vom Urkundsbeamten der Geschäftsstelle festgesetzten Gebühren für nicht angemessen.
II.
Die Kammer hat in Anwendung des § 113 Abs. 1 SGG von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Erinnerungsverfahren zu den Aktenzeichen S 12 SF 180/10 E und S 12 SF 190/10 E miteinander zu verbinden, weil die Ansprüche, die den Gegenstand der Rechtsstreitigkeiten bilden, in einem ausreichendem Zusammenhang stehen.
Die gemäß § 197 Abs. 2 SGG zulässige Erinnerung des Erinnerungsgegners vom 10. Dezember 2010 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vom 24. November 2010 - S 31 AS 1101/10 - ist begründet. Die Erinnerung der Erinnerungsführer vom 29. November 2010 bleibt ohne Erfolg.
Der Gesamtvergütungsanspruch der Erinnerungsführer ist auf einen Betrag von 147,56 EUR festzusetzen.
Die Höhe der Rahmengebühr bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen (Satz 1); bei Rahmengebühren ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (Satz 3). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (Satz 4), wobei ihm nach allgemeiner Meinung auch im Anwendungsbereich des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes ein gewisser Toleranzrahmen zusteht. Unbilligkeit liegt vor, wenn er die Kriterien des§ 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Beachtung des Beurteilungsspielraums objektiv nicht hinreichend beachtet (vgl.Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. September 2006, - L 1 B 320/05 SF SK, zitiert nach [...]). Die Aufzählung der Bemessungskriterien in § 14 Abs. 1 S. 1 RVG ist nach dem Wortlaut der Vorschrift ("vor allem") nicht abschließend, so dass weitere, unbenannte Kriterien mit einbezogen werden können. Sämtliche heranzuziehende Kriterien stehen selbstständig und gleichwertig nebeneinander (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 01. Juli 2009, - B 4 AS 21/09 R, zitiert nach [...]). Für jede Rahmengebühr ist dabei eine eigene Prüfung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG erforderlich. Die unterschiedliche Abgeltung der anwaltlichen Tätigkeit mit unterschiedlichen Gebühren verbietet es, die Bewertung bei einer Rahmengebühr automatisch auf eine andere Rahmengebühr zu übertragen. Dies gilt sowohl für die Verfahrens- und Terminsgebühr (vgl. Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. September 2006, a.a.O. sowie Keller in jurisPR-SozR 10/2006, Anm. 6) als auch für die der Einigungs- bzw. Erledigungsgebühr.
Was die Bestimmung der angemessenen Gebühr innerhalb des jeweiligen Gebührenrahmens der Gebührenpositionen des Vergütungsverzeichnisses (VV-RVG) - Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG - angeht, entspricht es allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass die Mittelgebühr ein angemessenes Äquivalent für die anwaltliche Tätigkeit in einem in jeder Hinsicht durchschnittlichen Streitverfahren darstellt. Davon ausgehend sind sodann Abschläge für unterdurchschnittliche und Zuschläge für überdurchschnittliche Verfahren vorzunehmen. Dabei kann im Übrigen etwa die Überdurchschnittlichkeit eines Bewertungskriteriums durch die Unterdurchschnittlichkeit anderer Bewertungskriterien kompensiert werden.
Gemessen an diesen Maßstäben ist zunächst eine Verfahrensgebühr in Höhe eines Betrages von 104,00 EUR in die Berechnung einzustellen. Die Verfahrensgebühr war dabei dem Rahmen der Nr. 3102 VV-RVG zu entnehmen (vgl. zur Anwendbarkeit der Nr. 3102 VV-RVG statt der Nr. 3103 VV-RVG Sozialgericht Lüneburg, Beschl. v. 02. März 2009 - S 12 SF 31/09 E). Der entsprechende Rahmen der Nr. 3102 VV-RVG sieht eine Gebührenspanne von 40,00 EUR bis 460,00 EUR vor; die Mittelgebühr beträgt daher 250,00 EUR. Dieser Gebührenrahmen verschiebt sich nach Nr. 1008 VV-RVG wegen der Vertretung eines weiteren Auftraggebers. Es ergibt sich ein Gebührenrahmen von 52,00 EUR bis 598 EUR. Die Mittelgebühr liegt bei 325,00 EUR.
Es handelte sich vorliegend um ein insgesamt unterdurchschnittliches Verfahren. Hier muss die der Untätigkeitsklage eigene Minderung vorgenommen werden, was in der Regel nur die Festsetzung einer deutlich reduzierten Gebühr rechtfertigt, die sich bis zur Mindestgebühr erstrecken kann. Dies ergibt sich insbesondere unter den Gesichtspunkten des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, bei der nur der für die Untätigkeitsklage objektiv erforderliche Arbeitsaufwand berücksichtigungsfähig ist. Dementsprechend wäre die von der Prozessbevollmächtigen der Erinnerungsführerin zunächst festgesetzte Gebühr in Höhe von 130,00 EUR grundsätzlich nicht zu beanstanden. Allerdings ist hier als arbeitserleichternder Umstand zu berücksichtigen, dass die Prozessbevollmächtigte für die Erinnerungsführer in mehreren gleich gelagerten Fällen tätig geworden ist. Sie hat für die Erinnerungsführer insgesamt 7 parallele Untätigkeitsklageverfahren betrieben, die sich alle auf Anträge nach § 44 SGB X vom 30. bzw. 31. Dezember 2009 aus dem Bewilligungszeitraum zwischen Januar und Oktober 2005 bezogen. Durch die Parallelverfahren entstehenden Rationalisierungseffekte müssen auch gebührenrechtlich berücksichtigt werden (vgl. zur Berücksichtigung von Synergieeffekten: Bundessozialgericht, Beschluss vom 22. Februar 1993, - 14b/4 REg 12/91, SozR 3-1930, § 116 Nr. 4).
Die von der Prozessbevollmächtigten der Erinnerungsführer im Erinnerungsverfahren vorgenommene "Nachliquidation" hinsichtlich der Verfahrensgebühr von 130,00 EUR auf 195,00 EUR ist nicht möglich. Der Rechtsanwalt ist an sein einmal ausgeübtes Ermessen bei der Bestimmung der anfallenden Gebühr innerhalb des Gebührenrahmens gebunden (vgl. dazu Sozialgericht Lüneburg, Beschl. v. 15. April 2010 - S 12 SF 238/09 m.w.N.). Weil für das Vorliegen von Ausnahmetatbeständen weder etwas ersichtlich noch sonst vorgetragen ist, hat die Prozessbevollmächtigte der Erinnerungsführer das ihr zustehende Gebührenbestimmungsrecht abschließend mit der Geltendmachung einer Verfahrensgebühr nach Nr. 3102,1008 VV-RVG in Höhe von 130,00 EUR ausgeübt, so dass eine Erhöhung im Erinnerungsverfahren nicht möglich ist (vgl. zum Ganzen: Mayer in Gerold/Schmidt, RVG, § 14 Rn 4).
Zu Unrecht hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle eine Terminsgebühr in Höhe von 40,00 EUR festgesetzt. Eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 Nr. 3 VV-RVG ist nicht entstanden. Danach fällt eine sogenannte "fiktive Terminsgebühr" an, wenn das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Rechtsbegriff "angenommenes Anerkenntnis" bezeichnet die Erledigung nach § 101 Abs. 2 SGG. Die Beendigung einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG durch den Erlass des begehrten Verwaltungsaktes und der darauf folgenden (einseitigen) Erledigungserklärung des Klägers ist nicht als angenommenes Anerkenntnis im Sinne de § 101 Abs. 2 SGG zu werten (vgl. Straßfeld, Vergütung von Rechtsanwälten in sozialgerichtlichen Verfahren (Teil I), SGb 2008, 635 (639); Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschl v. 09. März 2011 - L 7 B 255/09 AS; Beschl. v. 05. Mai 2008 - L 19 B 24/08 AS; Landessozialgericht Thüringen, Beschl. v. 25. Oktober 2010 - L 6 SF 652/10 B; Sozialgericht Hannover, Beschl. v. 21. Februar 2011 - S 34 SF 242/10 E; Sozialgericht Hildesheim, Beschl. v. 29. September 2010 - S 25 AS 91/10 E; Beschl. v. 21. Januar 2011 - S 25 SF 129/10 E; Sozialgericht Lüneburg, Beschl. v. 10. August 2009 - S 30 SF 6/08; Sozialgericht Stade, Beschl. v. 04. Mai 2009 - S 34 SF 71/08; Beschl. v. 13. Dezember 2010 - S 34 SF 36/10 E;Sozialgericht Osnabrück, Beschl. v. 15. Juli 2009 - S 1 SF 82/08; Sozialgericht Braunschweig, Beschl. v. 12. Januar 2011 - S 71 SF 1/08, Beschl v. 17. Januar 2011 - S 87 SF 1/08; VG Bremen, Beschl. v. 04. Juli 2008 - S 8 E 1559/08). Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an und gibt die bisherige Rechtsprechung auf (vgl. dazu u.a. Beschl. v. 28. September 2009 - S 12 SF 112/09). § 88 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 SGG sieht vor, dass das Hauptsacheverfahren einer Untätigkeitsklage nach Erlass des begehrten Bescheides/ Widerspruchsbescheides für erledigt zu erklären ist. Für eine Beendigung des Rechtsstreits im Wege des angenommenen Anerkenntnisses ist vor diesem Hintergrund bei einer Untätigkeitsklage kein Raum.
Entsprechend ist die Erinnerungsführerin auch vorgegangen. Sie hat nach Erlass des Bescheides vom 28. September 2010 durch den Beklagten die Untätigkeitsklage mit Schreiben vom 05. Oktober 2010 für erledigt erklärt.
Da die übrigen Gebührenpositionen nicht im Streit stehen, ergibt sich für den festgesetzten Betrag folgende Berechnung:
Verfahrensgebühr, | Nr. 3102, 1008 | VV | 104,00 EUR |
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Auslagenpauschale, | Nr. 7002 | VV | 20,00 EUR |
19% Umsatzsteuer, | Nr. 7008 | VV | 23,56 EUR |
Gesamtbetrag | 147,56 EUR |
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus einer analogen Anwendung des § 33 Abs. 9 S. 2 RVG, des § 56 Abs. 2 S. 3 RVG und des § 66 Abs. 8 S. 2 GKG (vgl. zur Kostengrundentscheidung im Erinnerungsverfahren auch Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, § 197, Rn 10, der eine solche sogar gänzlich für entbehrlich hält).
Die Erinnerungsentscheidung ergeht nach entsprechender Anwendung des § 33 Abs. 9 S. 1 RVG, des § 56 Abs. 2 S. 2 RVG und des § 66 Abs. 8 S. 1 GKG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung ist gemäß § 197 Abs. 2 SGG endgültig.