Sozialgericht Lüneburg
Beschl. v. 07.06.2011, Az.: S 12 SF 60/10 E

Überdurchschnittlicher Umfang und durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit in einem Verfahren rechtfertigen eine Verfahrensgebühr i.H. eines Betrages oberhalb der Mittelgebühr; Rechtfertigung einer Verfahrensgebühr i.H. eines Betrages oberhalb der Mittelgebühr bei überdurchschnittlichem Umfang und durchschnittlicher Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
07.06.2011
Aktenzeichen
S 12 SF 60/10 E
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2011, 24141
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2011:0607.S12SF60.10E.0A

Tenor:

Die Erinnerung des Erinnerungsführers vom 14. Juni 2010 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 03. Juni 2010 - S 13 R 218/09 - wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe der dem Erinnerungsführer vom Erinnerungsgegner im Rahmen der Gewährung von Prozesskostenhilfe in einem Klageverfahren zu erstattenden Gebühren. Im zugrunde liegenden Klageverfahren (S 13 R 218/09) begehrte der Kläger die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab Dezember 2008. Das Verfahren endete ohne Durchführung eines Termins zur mündlichen Verhandlung durch die Annahme eines von der Beklagten vorgeschlagenen Vergleiches.

2

Streitig im vorliegenden Erinnerungsverfahren sind die Höhe der Verfahrensgebühr und die Höhe der Einigungsgebühr. Der Erinnerungsführer macht eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG in Höhe von 380,00 EUR und eine Einigungsgebühr in Höhe von 220,00 EUR geltend. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle berücksichtigte in ihrem Beschluss eine Verfahrensgebühr in Höhe von 300,00 EUR und eine Einigungsgebühr in Höhe von 190,00 EUR.

3

II.

Die nach § 56 Abs. 1 RVG erhobene Erinnerung vom 14. Juni 2010 gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle vom 03. Juni 2010 - S 13 R 218/09 ist unbegründet.

4

Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat die aus der Staatskasse zu gewährende Prozesskostenhilfe zu Recht auf einen Gesamtbetrag in Höhe von 619,99 EUR festgesetzt. Zur Begründung seiner Entscheidung nimmt das Gericht zunächst gemäß § 142 Abs. 2 S. 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle in dem angefochtenen Beschluss Bezug und macht sich diese zur Vermeidung nicht gebotener Wiederholungen zu Eigen.

5

Rechtsgrundlage für den Vergütungsanspruch des Erinnerungsführers ist § 45 Abs. 1 RVG.

6

Danach hat der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt in Verfahren vor Gerichten eines Landes Anspruch auf die gesetzliche Vergütung aus der Landeskasse. Die Höhe der Rahmengebühr bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen (Satz 1); bei Rahmengebühren ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (Satz 3). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (Satz 4), wobei ihm nach allgemeiner Meinung auch im Anwendungsbereich des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes ein gewisser Toleranzrahmen zusteht. Zwar gilt Satz 4 der Vorschrift nicht, wenn es sich - wie hier - um ein Verfahren handelt, in dem um die Höhe des Prozesskostenhilfevergütungsanspruches gestritten wird, weil die Staatskasse nicht Dritter, sondern Vergütungsschuldner ist. Dennoch findet zu ihren Gunsten eine Billigkeitskontrolle statt (Gerold/Schmidt - Müller-Rabe, RVG, § 55, Rn 29). Unbilligkeit liegt vor, wenn er die Kriterien des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Beachtung des Beurteilungsspielraums objektiv nicht hinreichend beachtet (vgl. Landessozialgericht Schleswig-Holstein, Beschluss vom 12. September 2006, - L 1 B 320/05 SF SK, zitiert nach [...]). Die Aufzählung der Bemessungskriterien in § 14 Abs. 1 S. 1 RVG ist nach dem Wortlaut der Vorschrift ("vor allem") nicht abschließend, so dass weitere, unbenannte Kriterien mit einbezogen werden können. Sämtliche heranzuziehende Kriterien stehen selbstständig und gleichwertig nebeneinander (vgl. hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 01. Juli 2009, - B 4 AS 21/09 R, zitiert nach [...]). Für jede Rahmengebühr ist dabei eine eigene Prüfung der Kriterien des § 14 Abs. 1 RVG erforderlich.

7

Es entspricht allgemeiner Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum, dass die Mittelgebühr ein angemessenes Äquivalent für die anwaltliche Tätigkeit in einem in jeder Hinsicht durchschnittlichen Streitverfahren darstellt. Davon ausgehend sind sodann Abschläge für unterdurchschnittliche und Zuschläge für überdurchschnittliche Verfahren vorzunehmen. Dabei kann im Übrigen etwa die Überdurchschnittlichkeit eines Bewertungskriteriums durch die Unterdurchschnittlichkeit anderer Bewertungskriterien kompensiert werden.

8

In Übereinstimmung mit der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hält die Kammer eine Verfahrensgebühr in Höhe eines Betrages von 300,00 EUR für angemessen. Es handelte sich insgesamt um ein leicht überdurchschnittliches Verfahren.

9

Die Verfahrensgebühr war dabei dem Rahmen der Nr. 3102 VV-RVG. Der entsprechende Rahmen der Nr. 3102 VV-RVG sieht eine Gebührenspanne von 40,00 EUR bis 460,00 EUR vor; die Mittelgebühr beträgt daher grundsätzlich 250,00 EUR.

10

Bei der Verfahrensgebühr handelt es sich um eine Tätigkeitsgebühr, mit der jede prozessuale Tätigkeit eines Rechtsanwaltes abgegolten wird, für die das Rechtsanwaltsvergütungsgesetz keine sonstige Gebühr vorsieht. Sie entsteht für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information, und gilt ab u.a. die Prüfung der Schlüssigkeit der Klage oder des Rechtsmittels durch den Rechtsanwalt anhand von Rechtsprechung und Literatur, die im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Verfahren notwendigen Besprechungen des Rechtanwalts mit dem Auftraggeber, Dritten, dem Gericht, Sachverständigen sowie Schriftwechsel mit dem Auftrageber, Dritten, Behörden und dem Gericht, der sich auf den Prozessstoff bezieht, ferner die Mitwirkung bei der Auswahl und Beschaffung von Beweismitteln, die Sammlung und den Vortrag des aus der Sicht des Rechtsanwalts rechtlich relevanten Stoffs sowie das Anbieten von Beweismitteln (BT-Drucksache 15/1971, S. 210). Der durchschnittliche Umfang der anwaltlichen Tätigkeit hat sich dabei am Leitbild der zugehörigen Verfahrensordnung am Ablauf eines Verfahrens, hier des sozialgerichtlichen Verfahrens, zu orientieren. Wird ein mit der Sache bislang noch nicht befasster Rechtsanwalt mit der Durchführung des sozialrechtlichen Gerichtsverfahrens beauftragt, kommt es mangels anderweitiger Anhaltspunkte zunächst für den Umfang seiner Tätigkeit auf die Zahl der gefertigten Schriftsätze an. Von Bedeutung ist darüber hinaus allerdings auch, welchen Einsatz der Rechtsanwalt im Einzelnen zur Erstellung dieser Ausführungen notwendigerweise erbringen muss. Zu berücksichtigen sind dabei z.B. das Lesen der Verwaltungsentscheidung, die Beratung des Mandanten, das Aktenstudium, das Anfertigung von Notizen, mithin bei Geltendmachung eines Anspruchs die Darlegung, wie sich dieser rechnerisch ermittelt, und zwar unter Eingehung auf die streitigen Rechtsvorschriften sowie der Heranziehung von Kommentarliteratur und, soweit vorhanden, einschlägiger Rechtsprechung (so ausdrücklich: Bundessozialgericht, Urteil vom 01. Juli 2009, - B 4 AS 21/09 R, zitiert nach [...]).

11

Den Umfang der Tätigkeit des Erinnerungsführers bewertet die Kammer - ebenso wie die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle - ausgehend von diesen Erwägungen und mit Blick auf Anzahl und Umfang der eingereichten Schriftsätze, dem damit aus Sicht der Kammer verbundenen objektiv erforderlichen Erörterungsbedarf mit dem Mandanten und den übrigen zur Fertigung der eingereichten Schriftsätze erforderlichen Tätigkeiten als im Vergleich zu einem sozialversicherungsrechtlichen Klageverfahren bereits überdurchschnittlich.

12

Die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit ist vorliegend dem durchschnittlichen Bereich zuzuordnen. Die vom Umfang zu unterscheidende Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit meint die Intensität der Arbeit. Ausgehend von einem objektiven Maßstab ist auf einen Rechtsanwalt abzustellen, der sich bei der Wahrnehmung des Mandats darauf beschränken kann und darf, den Fall mit den einschlägigen Rechtsvorschriften, gegebenenfalls unter Heranziehung von Rechtsprechung und Kommentarliteratur, zu bearbeiten. Dies beinhaltet aber auch, dass hierfür spezielle Kenntnisse und Fertigkeiten in eingeschränktem Umfang erforderlich sein können. Damit ist auf der einen Seite unerheblich, ob der Rechtsanwalt wegen geringer Berufserfahrung Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Aufgabe hat. Andererseits spielt es keine Rolle, dass der Anwalt z.B. auf Grund vertiefter Fachkenntnisse oder Erfahrung das Mandat leichter als andere Rechtsanwälte bewältigen kann. Überdurchschnittlich schwierig ist die Tätigkeit etwa dann, wenn erhebliche, sich üblicherweise nicht stellende Probleme auftreten; diese können sowohl im tatsächlichen als auch im juristischen Bereich liegen. Beispielhaft lassen sich für überdurchschnittliche tatsächliche Schwierigkeiten nennen: der Umgang mit einem problematischen Mandanten, sprachliche oder akustische Verständigungsprobleme, die eingehende Auseinandersetzung mit medizinischen oder anderen Fachgutachten oder eine umfangreiche Beweiswürdigung. Für die Kammer sind keine Umstände ersichtlich sind, die sich in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht als schwierig erwiesen haben. Zwar hat die Kammer ein neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten eingeholt. Eine eingehende argumentative Auseinandersetzung war hier allerdings nicht erforderlich, da das Gutachten die Auffassung des Klägers bestätigte. Auch der Erinnerungsführer hat nicht konkret vorgetragen, warum es sich um ein Verfahren handelte, das sich in tatsächlicher oder materiell-rechtlicher Hinsicht über das Maß dessen hinaus, was die Kammer bei der Gebührenbestimmung berücksichtigt hat, als überdurchschnittlich schwierig darstellte. Andererseits vermochte die Kammer auch keine Anhaltspunkte festzustellen, die die anwaltliche Tätigkeit als unterdurchschnittlich schwierig erscheinen ließen.

13

Die Bedeutung der Angelegenheit für den Kläger erweist sich wegen der Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund ihres existenziellen Charakters insgesamt als überdurchschnittlich. Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Klägers sind wegen des Bezugs existenzsichernder Leistungen nach dem SGB II als deutlich unterdurchschnittlich zu bewerten. Schließlich vermag die Kammer ein besonderes Haftungsrisiko, das allenfalls die Gebühr erhöhen könnte, und sonstige unbenannte Kriterien, die geeignet wären, zu einer Herauf- oder Herabbemessung zu führen, nicht zu erkennen.

14

Damit rechtfertigen der überdurchschnittliche Umfang und die durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die überdurchschnittliche Bedeutung der Angelegenheit, die deutlich unterdurchschnittlichen Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Mandanten des Erinnerungsführers und das allenfalls durchschnittliche Haftungsrisiko des Erinnerungsführers die Zuerkennung einer Verfahrensgebühr in Höhe eines Betrages von 300,00 EUR, mithin in Höhe eines Betrages oberhalb der Mittelgebühr. Der darüber hinaus geltend gemachte Betrag ist demgegenüber - auch unter Berücksichtigung eines gewissen Toleranzrahmens - kostenrechtlich unangemessen und daher unbillig.

15

Zutreffend hat die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle eine Einigungsgebühr in Höhe von 190,00 EUR festgesetzt. Die Einigungsgebühr nach Nr. 1006 VV-RVG ergibt sich aus einem Betragsrahmen zwischen 30,00 EUR und 350,00 EUR; die Mittelgebühr beträgt insoweit 190,00 EUR. Wägt man den durchschnittlichen Umfang, die durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit in Bezug auf den Vergleich mit den weiteren Kriterien des § 14 RVG ab, rechtfertigt dies die Festsetzung der Mittelgebühr. Zwar ist dem Erinnerungsführer bei der Bestimmung seines Gebührenanspruchs ein gewisser Toleranzrahmen einzuräumen. Dieser ist allerdings dann eingeschränkt, wenn die Mittelgebühr - wie hier - die einzig zutreffende Vergütung der anwaltlichen Tätigkeit widerspiegelt (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 26. Februar 1992, - 9a RVs 3/90).

16

Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 56 Abs. 2 S. 3 RVG; die Erinnerungsentscheidung ergeht gemäß § 56 Abs. 2 S. 2 RVG gerichtskostenfrei.

17

Die Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde an das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen anfechtbar, weil das Normengefüge der §§ 172 ff. SGG den Normen des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes vorgeht (vgl. hierzu: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Dezember 2006, - L 8 B 4/06 SO SF; Beschluss vom 21. Februar 2007, - L 7 B 1/07 AL SF; Beschluss vom 01. März 2007, - L 4 B 66/05 KR; Beschluss vom 14. Juni 2007, - L 13 B 4/06 AS SF; Beschluss vom 26. Oktober 2007, - L 14 B 1/06 SF; Beschluss vom 17. Oktober 2008, - L 13 B 4/08 SF; Beschluss vom 30. Oktober 2008, - L 1 B 2/08 R SF; Beschluss vom 09. Juni 2009, - L 13 B 1/08 SF; Beschluss vom 06. Juli 2009, - L 6 SF 44/09 B, Beschluss vom 29. September 2009, - L 6 SF 124/09 B (AS), Beschluss vom 11. März 2010, - L 7 SF 142/09 B (AS) sowie Beschluss vom 31. März 2010, - L 13 SF 4/10 B (AS), jeweils zitiert nach www.sozialgerichtsbarkeit.de).