Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 16.06.2011, Az.: S 22 SO 73/09

Der aufgrund einer Erbschaft ausgezahlte Betrag stellt Vermögen und kein Einkommen dar; Einstufung des aufgrund einer Erbschaft ausgezahlten Betrages als Vermögen

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
16.06.2011
Aktenzeichen
S 22 SO 73/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 24153
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGLUENE:2011:0616.S22SO73.09.0A

Fundstellen

  • ZfF 2013, 235-237
  • info also 2013, 287

Tenor:

  1. 1.

    Der Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2009 wird insoweit aufgehoben, als der Beklagte bei der Berechnung des Aufwendungsersatzes keinen Vermögensfreibetrag von 2.600,- Euro berücksichtigt hat.

  2. 2.

    Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin wendet sich gegen den Umfang des Aufwendungsersatzes für erbrachte Leistungen der Sozialhilfe.

2

Die 1986 geborene Klägerin steht unter gesetzlicher Betreuung und bezieht Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) - Sozialhilfe -. Die Mutter der Klägerin, Frau G., war von ihrem Ehemann mit dessen Testament vom 01. Juli 2000 als unbefreite Vorerbin seines gesamten Besitzes eingesetzt worden. Dieser starb am 08. Januar 2005. Daraus schloss das Amtsgericht Walsrode, dass die Klägerin und ihre drei Halbgeschwister aus erster Ehe des Vaters als Nacherben eingesetzt seien.

3

Der Beklagte übernahm die Kosten der Unterbringung in einer stationären Wohngruppe der Lebenshilfe Walsrode e.V. für die Zeit vom 16. Dezember 2005 bis zum 19. Januar 2006. Ferner gewährte er ab 15. Mai 2005 erweiterte Hilfe, so dass er in der Zeit vom 15. Mai 2005 bis zum 30. November 2006 einen Betrag von 23.524,65 Euro aufwandte, der nicht von eigenem Einkommen der Klägerin gedeckt war.

4

Im November 2008 gelangte ein Betrag von 25.000,- Euro aus dem Erbe der Klägerin zur Auszahlung.

5

Mit Bescheid vom 10. Dezember 2008 forderte der Beklagte Aufwendungsersatz nach § 19 Absatz 5 SGB XII in Höhe von 23.108,55 Euro und setzte von der Erbschaft 1.292,- Euro und 479,45 Euro für Betreuervergütung sowie 120,- Euro für Entrümpelungen ab.

6

Dagegen legte die Klägerin am 12. Januar 2009 Widerspruch ein, welchen sie damit begründete, dass die Erbschaft Vermögen sei und ein Vermögensfreibetrag von 2.600,- Euro abzusetzen sei.

7

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. März 2009 zurück und führte zur Begründung an, dass die Erbschaft Einkommen sei, welches auf einen angemessenen Zeitraum zu verteilen sei.

8

Dagegen hat die Klägerin am 28. April 2009 Klage erhoben.

9

Sie trägt vor:

10

Der Klägerin sei als Nacherbin bereits im Januar 2005 eine verbriefte Anwartschaft zugebilligt worden. Das Hausgrundstück sei nur im November 2008 verwertet worden.

11

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2009 insoweit aufzuheben, als der Beklagte bei der Berechnung des Aufwendungsersatzes keinen Vermögensfreibetrag von 2.600,- Euro berücksichtigt.

12

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

13

Er trägt unter Bezugnahme auf die erlassenen Bescheide vor.

14

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung, den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15

Die Klage hat Erfolg.

16

Der Bescheid des Beklagten vom 10. Dezember 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. März 2009 erweist sich insoweit als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in eigenen Rechten, als der Beklagte keinen Vermögensfreibetrag in Höhe von 2.600,- Euro bei Anrechnung des Wertes des Erbschaftsanteils berücksichtigt hat.

17

Rechtsgrundlage der angegriffenen Bescheide ist § 19 Absatz 5 SGB XII.

18

Nach § 19 Absatz 5 Satz 1 SGB XII haben, soweit den in den Absätzen 1 bis 3 des § 19 genannten Personen die Aufbringung der Mittel aus Einkommen und Vermögen im Sinne der Absätze 1 und 2 möglich oder im Sinne des Absatzes 3 zuzumuten sind und Leistungen erbracht worden sind, diese dem Träger der Sozialhilfe die Aufwendungen in diesem Umfang zu ersetzen.

19

Der Beklagte hat in der Zeit vom 15. Mai 2005 bis 30. November 2006 Leistungen der Sozialhilfe in Gestalt von Eingliederungshilfe und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII erbracht, und zwar im Rahmen der erweiterten Hilfe nach § 19 Absatz 5 SGB XII im Umfang von 23.524,65 Euro.

20

Bei dem Geldbetrag in Höhe von 25.000,-, welchen die Klägerin aus dem Erbe ihres Vaters erhielt, handelt es sich um Vermögen und nicht um zu berücksichtigendes Einkommen, von welchem der Beklagte in den angegriffenen Bescheiden ausgegangen ist.

21

Nach § 82 Absatz 1 Satz 1 SGB XII gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert mit Ausnahme der Leistungen nach diesem Buch, des befristeten Zuschlags nach § 24 SGB II, der Grundrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) und nach den Gesetzen, die eine entsprechende Anwendung des BVG vorsehen und der Renten oder Beihilfen nach dem Bundesentschädigungsgesetz für Schaden an Leben sowie an Körper oder Gesundheit, bis zur Höhe einer vergleichbaren Grundrente nach dem BVG. Die Verwertung von Vermögen richtet sich nach § 90 SGB XII.

22

Unter Einkommen versteht man nach der modifizierten Zuflusstheorie in Abgrenzung zum Vermögen alle Einnahmen in Geld oder Geldeswert, welche der erwerbsfähige Hilfebedürftige während des Bedarfszeitraums hinzu erhält, wohin gegen Vermögen diejenigen Mittel sind, welche zu Beginn dieses Zeitraums bereits vorhanden sind (vgl. Urteile des Bundessozialgerichtes (BSG) vom 30. Juli 2008 - B 14/7b AS 12/07 R -, - B 14/7b AS 17/07 R -, - B 14/7b AS 26/07 R -, - B 14/7b AS 43/07 R -, 30. September 2008 - B 4 AS 29/09 R -, - B 4 AS 57/07 R - und 21. Dezember 2009 - B 14 AS 42/08 R -). Diese Abgrenzung gilt auch für die Sozialhilfe (vgl. Urteil des BSG vom 19. Mai 2009 - B SO 35/07 R - ).

23

Nach dem Urteil des BSG vom 24. Februar 2011 (B 14 AS 45/09) stellt der aufgrund einer Erbschaft ausgezahlte Betrag Vermögen dar. Denn im Falle der Gesamtrechtsnachfolge gehe die Erbschaft unmittelbar kraft Gesetzes gemäß § 1922 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) auf die Erben über, und zwar unbeschadet der Tatsache, dass wegen des Ausschlagungsrechtes ein Erbe erst mit Annahme erworben wird. Das BSG geht dabei davon aus, dass bereits die Verfügungsmöglichkeit über das Erbe den Zufluss begründet. Der Zufluss des Geldbetrages mehr als vier Jahre nach Eintritt des Erbfalls stelle somit ein Versilbern bereits vorhandenen Vermögens dar und sei weiterhin als Vermögen zu qualifizieren. Einkommen liege lediglich dann vor, wenn der Leistungsberechtigte Inhaber einer Forderung gegen den Nachlass geworden ist (vgl. Urteil des BSG vom 28. Oktober 2009 - B 14 AS 62/08 R -).

24

Die Kammer folgt diesem Urteil des BSG, welches eine Abkehr von der bisherigen obergerichtlichen Rechtsprechung darstellt (vgl. Urteil des Landessozialgerichtes (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 06. April 2011 - L 12 (20) AS 34/09 -; Urteil des Sächsischen LSG vom 21. Februar 2011 - L 7 AS 724/09 -; Urteil des LSG Berlin-Brandenburg vom 16. November 2010, - L 18 AS 1826/08 -; Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 13. Februar 2008 - L 13 AS 237/07 ER -, Beschluss des LSG Nordrhein-Westfalen vom 23. März 2006 - L 20 B 72/06 AS -; Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 21. Februar 2007 - L 7 AS 690/07 ER-B -).

25

Die Entscheidung des BSG kann auch auf den vorliegenden Fall angewandt werden.

26

Der Vater der Klägerin verstarb am 08. Januar 2005. Mit dem Testament vom 01. Juli 2000 hat er seine Ehefrau als unbefreite Vorerbin eingesetzt. Das Amtsgericht Walsrode ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Mutter der Klägerin als Vorerbin eingesetzt wurde und diese gemeinsam mit ihren Halbgeschwistern Nacherben sein sollten. Testamentarische Verfügungen sind der Auslegung zugänglich (vgl. Soergel/Schmidt, Kommentar zum BGB, 11. Auflage 2004, vor § 2100, Rd. 2). Der Erblasser hat ausdrücklich seine Ehefrau als Vorerbin eingesetzt. Da darüber hinaus offenbar die gesetzliche Erbfolge weiterbestehen sollte, ist danach bei verständiger Auslegung des Verfügten davon auszugehen, dass die Klägerin und ihre Halbgeschwister als Abkömmlinge des Erblasses und somit Erben 1. Ordnung (§ 1924 Absatz 1 BGB) als Nacherben eingesetzt wurden. Selbst wenn man annehmen sollte, dass kein Fall der Vor- und Nacherbschaft vorlag, hätte die Klägerin den Pflichtteilsanspruch als gesetzliche Erbin mit dem Tod des Vaters erworben.

27

Vorerbe und Nacherbe sind Erben des gleichen Erblassers und folgen einander zeitlich nach. Der Nacherbe leitet sein Recht nicht vom Vorerben, sondern von dem Erblasser ab (vgl. Palandt/Edenhofer, Kommentar zum BGB, 69. Auflage 2010, § 2100, Rd. 1). Der Nacherbe ist nicht lediglich Forderungsinhaber gegenüber dem Nachlass, wie beispielsweise der Vermächtnisnehmer oder der Begünstigte eines echten Vertrages zugunsten Dritter.

28

Mangels anderweitiger testamentarischer Verfügung ist davon auszugehen, dass der Nacherbfall mit dem Tod der Vorerbin eintreten sollte (§ 2106 Absatz 1 BGB). Mit dem Eintritt des Nacherbfalls fällt dem Nacherben die Erbschaft zu (§ 2139 BGB).

29

Die Nacherbschaft begründet ein Anwartschaftsrecht und wird im Nacherbfall zum Vollrecht (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 09. Juni 1983 - IX ZR 41/82 -, BGHZ 87, 367; Palandt/Edenhofer a.a.O.. § 2100, Rd. 11)

30

Die Bewilligung von Sozialhilfe als erweiterter Hilfe, für welche der Beklagte Aufwendungsersatz verlangt, begann am 15. Mai 2005 und damit nach dem Tod des Vaters am 08. Januar 2005. Allein auf den Beginn der erweiterten Hilfe, für lediglich die der Beklagte Aufwendungsersatz nach § 19 Absatz 5 SGB XII verlangen kann und verlangt, ist dabei abzustellen, um zwischen Einkommen und Vermögen zu unterscheiden.

31

Die Klägerin hatte bereits mit dem Eintritt des Erbfalls ein Anwartschaftsrecht an ihrem Erbanteil für den Fall des Eintritts des Nacherbfalls erworben. Dieses Anwartschaftsrecht stellt ebenso wie der Pflichtteilsanspruch, für welchen das BSG bereits mit Urteil vom 06. Mai 2010 - B 14 AS 2/09 - die Vermögenseigenschaft angenommen hat, Vermögen des Leistungsberechtigten gemäß § 90 SGB XII dar, sofern es vor Leistungsbeginn angefallen ist (vgl. auch LPK/SGB II/Brühl, 3. Auflage 2009, § 12, Rd. 10).

32

Die Klägerin war im Übrigen rechtlich befugt, über ihr Anwartschaftsrecht zu verfügen, auch wenn noch kein Recht auf die einzelnen Nachlassgegenstände besteht (vgl. Soergel/Schmidt a.a.O.. vor § 2100, Rd. 4).

33

Der Erhalt des Betrages von 25.000,- Euro aus der Veräußerung des Grundbesitzes des Erblassers stellt keinen Einkommenszufluss dar. Denn die vermögensrechtliche Rechtsposition in Gestalt eines Anwartschaftsrechtes ist bereits mit dem Tod des Erblassers entstanden.

34

Die Versilberung des Erbes stellt nach dem Urteil des BSG vom 24. Februar 2011 kein Einkommen dar, sondern sei lediglich eine Verwertung des Vermögens. Bei der Veräußerung des Grundbesitzes und anteiligen Auszahlung an die Nacherben handelt es sich offenbar um eine Erbschaftsübertragung vor Eintritt des Nacherbfalls, welche grundsätzlich rechtlich zulässig ist (vgl. Palandt/Edenhofer a.a.O.., § 2139, Rd. 7). Zwar unterliegt der Vorerbe einem Verfügungsverbot in bestimmten Fällen, jedoch greift dieses nicht, wenn die Verfügung das Recht des Nacherben nicht vereiteln oder beeinträchtigen würde (§ 2113 Absatz 1 BGB). Im Falle einer entgeltlichen Veräußerung bleibt die Verfügung wirksam, weil der Vorerbe im Wege der unmittelbaren Umsetzung (§ 2111 BGB) Erbe des Erlöses bleibt. Im Übrigen ist vorliegend der Erlös im November 2008 anteilig an die Nacherben ausgekehrt worden.

35

Damit ist von der Barerbschaftsauszahlung von 25.000,- Euro neben der vom Beklagten vorgenommenen Absetzung für Betreuervergütung und Entrümpelung (1.891,45 Euro) der Vermögensfreibetrag gemäß §§ 90 Absatz 2 Nr. 9 SGB XII, 1 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1b Verordnung zur Durchführung des § 90 Absatz 2 Nr. 9 SGB XII in Höhe von 2.600,- Euro zu berücksichtigen. Damit ist der Aufwendungsersatzanspruch des Beklagten auf 20.508,55 Euro zu begrenzen.

36

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

37

Gemäß § 144 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1, Absatz 2 SGG bedarf die Berufung nicht der Zulassung, weil hier die Beschwer des Beklagten mit 2.600,- Euro oberhalb des Schwellenwertes von 750,- Euro liegt.