Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 19.07.2010, Az.: 8 ME 163/10
Berufung eines Ausländers auf den Schutz seines Privatlebens bei Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet und ohne Wahrnehmung der Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 19.07.2010
- Aktenzeichen
- 8 ME 163/10
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 21184
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:0719.8ME163.10.0A
Rechtsgrundlagen
- § 55 Abs. 3 AsylVfG
- Art. 8 EMRK
- § 25 Abs. 4 AufenthG
- § 25 Abs. 5 AufenthG
Amtlicher Leitsatz
Ein Ausländer kann sich regelmäßig schon dann nicht erfolgreich auf den Schutz seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK berufen, wenn er sich - abgesehen von der nach § 55 Abs. 3 AsylVfG unerheblichen Zeit der Durchführung eines Asylverfahrens - ohne einen erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten hat, also ausreisepflichtig war und die bestehende Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise gleichwohl nicht wahrgenommen hat (Festhaltung an der ständigen Rechtsprechung des Senats).
Gründe
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
Aus den von dem Antragsteller im Beschwerdeverfahren angeführten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründen ergibt sich nicht, dass ihm ein nach Maßgabe des § 123 VwGO sicherungsfähiger Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 AufenthG zusteht.
Nach Satz 1 dieser Bestimmung ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Eine rechtliche Unmöglichkeit in diesem Sinne kann sich etwa aus inlandsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben, zu denen auch diejenigen Verbote zählen, die aus Völkervertragsrecht, hier aus Art. 8 EMRK, in Bezug auf das Inland herzuleiten sind.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats kann sich ein Ausländer regelmäßig aber schon dann nicht erfolgreich auf den Schutz seines Privatlebens nach Art. 8 EMRK berufen, wenn er sich - abgesehen von der nach § 55 Abs. 3 AsylVfG unerheblichen Zeit der Durchführung eines Asylverfahrens - ohne einen erforderlichen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufgehalten hat, also ausreisepflichtig war und die bestehende Möglichkeit zur freiwilligen Ausreise gleichwohl nicht wahrgenommen hat (Senatsbeschl. v. 18.5.2010 - 8 PA 86/10 -, [...] Rn. 4; v. 1.9.2006 - 8 LA 101/06 -, NordÖR 2006, 472; vgl. auch BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 - 1 C 3/08 -, InfAuslR 2009, 333, 335; Hessischer VGH, Urt. v. 7.7.2006 - 7 UE 509/06 -, [...] Rn. 58; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 18.1.2006 - 13 S 2220/05 -, ZAR 2006, 142, 144 ; OVG Schleswig-Holstein, Urt. v. 23.2.1999 - 4 L 195/98 -, NordÖR 2000, 124, 126; BMI, Bericht zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes, Juli 2006, S. 80; Fritzsch, Die Grenzen des völkerrechtlichen Schutzes sozialer Bindungen von Ausländern nach Art. 8 EMRK, in: ZAR 2010, 14, 16 ff.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Juni 2010, AufenthG § 25 Rn. 131; Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., AufenthG, § 25 Rn. 31).
Der vom Antragsteller in der Beschwerde vertretenen Auffassung, eine durch Art. 8 EMRK geschützte faktische Verwurzelung im Bundesgebiet könne auch während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer über kein Aufenthaltsrecht, sondern nur eine Duldung verfügt habe (so auch VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 5.2.2009 - 11 S 3244/08 -, NVwZ-RR 2009, 617; Benassi, Die Bedeutung der humanitären Aufenthaltsrechte des§ 25 Abs. 4 und 5 AufenthG im Lichte des Art. 8 EMRK, in: InfAuslR 2006, 397, 404; GK-AufenthG, Stand: Mai 2010, § 25 Rn. 150, § 60a Rn. 173; Huber, AufenthG, § 25 Rn. 35), folgt der Senat hingegen nicht.
Bestandteil des weit gefassten Rechts auf Achtung des Privatlebens nach Art. 8 EMRK ist unter anderem ein Recht auf Identität und Entwicklung der Person und ein Recht darauf, Beziehungen zu anderen Personen und der Außenwelt anzuknüpfen und zu entwickeln (vgl. EGMR Große Kammer, Urt. v. 13.2.2003 - 42326/98 -, NJW 2003, 2145, 2146 Rn. 29 (Odièvre ./. Frankreich) m.w.N.). Ob entstandene, hinreichend starke (vgl. zu diesem Erfordernis EGMR 1. Sektion, Urt. v. 16.6.2005 - 60654/00 -, EuGRZ 2006, 554, 557 Rn. 101 (Sisojeva I ./. Lettland)) persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen des Ausländers zum Aufnahmestaat und dort lebenden Personen indes für sich genügen, um den Schutzanspruch nach Art. 8 EMRK auszulösen, oder nicht vielmehr darüber hinaus erforderlich ist, dass diese Bindungen zu einer Zeit entstanden sind, in der sich der Ausländer im Aufnahmestaat rechtmäßig aufgehalten hat, ist in der Rechtsprechung des EGMR nicht abschließend geklärt (vgl. EGMR 3. Sektion, Urt. v. 16.9.2004 - 11103/03 -, NVwZ 2005, 1046 [EGMR 16.09.2004 - EGMR (III. Sektion) 11103/03] (Ghiban. /. Deutschland); Eckertz-Höfer, Neuere Entwicklungen in Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Schutz des Privatlebens, in: ZAR 2008, 41, 44 m.w.N.).
Zwar hat der EGMR in den Rechtssachen Sisojeva I ./. Lettland (1. Sektion, Urt. v. 16.6.2005 - 60654/00 -, EuGRZ 2006, 554 ff.) und da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande (2. Sektion, Urt. v. 31.1.2006 - 50435/99 -, EuGRZ 2006, 562) den Schutzbereich des Art. 8 EMRK als eröffnet angesehen, obwohl die Beschwerdeführer sich letztlich illegal in den Aufnahmestaaten aufhielten. Diesen Entscheidungen lagen aber Sachverhalte zugrunde, in denen die Beschwerdeführer über lange Zeiträume ihres Aufenthalts im Aufnahmestaat über ein Aufenthaltsrecht verfügten und dieses lediglich endete (vgl. EGMR, Urt. v. 16.6.2005, a.a.O., S. 555 (Sisojeva I ./. Lettland)) oder die Beschwerdeführer jedenfalls einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels hatten (vgl. EGMR, Urt. v. 31.1.2006, a.a.O., S. 564 (da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande)). Da der EGMR seine Entscheidungen zudem tragend mit diesen besonderen Umständen begründet hat, handelt es sich nach Auffassung des Senats um Einzelfälle, deren Wertungen und Ergebnis nicht dahingehend verallgemeinert werden dürfen, dass jede während eines auch unrechtmäßigen Aufenthalts entstandene hinreichend starke Bindung an den Aufnahmestaat dem Schutz des Art. 8 EMRK unterfällt.
Stattdessen hält der Senat nach den in der Rechtsprechung des EGMR entwickelten verallgemeinerungsfähigen Grundsätzen seine Annahme für gerechtfertigt, dass Bindungen an den Aufnahmestaat, die während Zeiten entstehen, in denen der Ausländer über keinen Aufenthaltstitel verfügt und freiwillig in das Land seiner Staatsangehörigkeit zurückkehren kann, nicht den Schutzanspruch desArt. 8 EMRK auslösen.
So hat der EGMR zur Bedeutung der EMRK im Recht des Aufenthalts von Ausländern grundlegend darauf hingewiesen, dass keine Regelung derEMRK das Recht der Staaten berührt, die Einreise von Ausländern zu regeln (vgl. EGMR, Urt. v. 28.5.1985 - 15/1983/71/107-109 -, EuGRZ 1985, 567, 569 f. (Abdul-aziz u.a. ./. Vereinigtes Königreich)). Die EMRK garantiert nicht das Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen oder sich dort aufzuhalten oder nicht ausgewiesen zu werden. Vielmehr haben die Vertragsstaaten das Recht, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden (st. Rspr., vgl. EGMR 3. Sektion, Urt. v. 16.9.2004, a.a.O. (Ghiban. /. Deutschland) m.w.N.).
Ansatzpunkt für einen konventionsrechtlichen Schutz des Privatlebens und sich daraus ergebende aufenthaltsrechtliche Folgewirkungen kann daher nicht der bloße tatsächliche Aufenthalt im Aufnahmestaat sein. Denn hierdurch würde losgelöst von der ausschließlichen Kompetenz der Mitgliedsstaaten, über Einreise und Aufenthalt zu entscheiden, tatsächlich schon allein konventionsrechtlich ein Aufenthaltsrecht begründet. Es bedarf vielmehr stets einer den Aufenthalt des Ausländers im Aufnahmestaat gestattenden staatlichen Entscheidung, die zugleich ein berechtigtes Vertrauen des Ausländers in den Fortbestand seines Aufenthalts im Aufnahmestaat begründet (vgl. EGMR 4. Sektion, Urt. v. 8.4.2008 - 21878/06 -, zitiert nach Human Rights Documentation - HUDOC - (Nnyanzi ./. Vereinigtes Königreich); EGMR 3. Sektion, Urt. v. 11.4.2006 - 61292/00 -, zitiert nach HUDOC (Useinov ./. Niederlande); EGMR 3. Sektion, Urt. v. 7.10.2004 - 33743/03 -, NVwZ 2005, 1043, 1045 (Dragan u.a./ Deutschland); EGMR 1. Sektion, Urt. v. 5.9.2000 - 44328/98 -, zitiert nach HUDOC (Solomon ./. Niederlande); vgl. auch BVerwG, Urt. v. 30.4.2009 - 1 C 3/08 -, InfAuslR 2009, 333, 335; Fritzsch, a.a.O., S. 20 f.). Erst wenn die so begründete berechtigte Erwartung in einen fortbestehenden rechtmäßigen Aufenthalt durch eine weitere staatliche Entscheidung enttäuscht wird, kann eine Verletzung von Art. 8 EMRK vorliegen. Ein Ausländer, der ohne den geltenden Gesetzen zu entsprechen, die Behörden des Aufnahmestaats mit seiner Anwesenheit in diesem Staat konfrontiert, kann aber im Allgemeinen nicht erwarten, dass ihm konventionsrechtlich Anspruch auf ein Aufenthaltsrecht erwächst (vgl. EGMR 2. Sektion, Urt. v. 31.1.2006, a.a.O., S. 564 (da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande). Erst recht darf die Bestimmung des Art. 8 EMRK nicht so ausgelegt werden, als verbiete sie die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen schon deswegen, weil er sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaats aufgehalten hat (vgl. EGMR 3. Sektion, Urt. v. 16.9.2004, a.a.O., (Ghiban ./. Deutschland)), und zwar unabhängig davon, ob es dem Ausländer möglich oder unmöglich war, den Aufnahmestaat ordnungsgemäß zu verlassen (vgl. Bericht der Europäischen Kommission für Menschenrechte v. 17.7.1980 - 7612/76 - (Giama ./. Belgien), in: Decisions and Reports Bd. 21 S. 84, 94 Nr. 56).
Diesen Grundsätzen folgend hat der EGMR für Bindungen an den Aufnahmestaat, die während Zeiten entstanden sind, in denen - abgesehen von Aufenthaltsgestattungen für die Durchführung eines Asylverfahrens - der Aufenthalt im Aufnahmestaat unrechtmäßig war und lediglich keine Abschiebung des Ausländers erfolgte, den Schutzbereich des Art. 8 EMRK ausdrücklich nicht als eröffnet angesehen (vgl. EGMR 3. Sektion, Urt. v. 11.4.2006, a.a.O., (Useinov ./. Niederlande); EGMR 3. Sektion, Urt. v. 7.10.2004, a.a.O., S. 1045 (Dragan u.a./ Deutschland); EGMR 1. Sektion, Urt. v. 5.9.2000, a.a.O., (Solomon ./. Niederlande)).
Auch hier kann sich der Antragsteller folglich schon deshalb nicht auf den Schutz des Art. 8 EMRK berufen, weil etwaige Bindungen an das Bundesgebiet und hier lebende Personen während Zeiten entstanden sind, in denen sich der Antragsteller nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat, sondern seine Abschiebung in sein Heimatland nur ausgesetzt war. Dem stehen etwaige Schwierigkeiten bei der Rückkehr in das Heimatland nicht entgegen, wenn sie nicht zur Unmöglichkeit einer freiwilligen Ausreise führen. Eine solche Unmöglichkeit ist nach dem Vorbringen des Antragstellers hier nicht gegeben.
Anlass von diesem Grundsatz im vorliegenden Fall abzuweichen und ausnahmsweise eine Eröffnung des Schutzbereiches von Art. 8 EMRK anzunehmen (vgl. hierzu EGMR 1. Sektion, Urt. v. 16.6.2005, a.a.O., (Sisojeva I ./. Lettland); EGMR 2. Sektion, Urt. v. 31.1.2006, a.a.O., (da Silva und Hoogkamer ./. Niederlande), besteht für den Senat nicht, zumal das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung nachvollziehbar begründet hat, dass der Antragsteller im Bundesgebiet nicht hinreichend integriert ist, um als "faktischer Inländer" angesehen zu werden.