Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 12.07.2010, Az.: 11 LA 362/09
Ausrichtung der Länge der Wegweisung aus einer Wohnung an dem Zeitraum der drohenden Gefahr ; Prüfung einer Ausschöpfung der gesetzlichen Höchstgrenze von 14 Tagen für einen Platzverweis unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 12.07.2010
- Aktenzeichen
- 11 LA 362/09
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 21188
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:0712.11LA362.09.0A
Rechtsgrundlagen
- § 2 S. 1 Nr. 1 Buchst. b Nds. SOG
- § 17 Abs. 2 S. 1, 2 Nds. SOG
- § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
Fundstelle
- NVwZ-RR 2010, 841
Amtlicher Leitsatz
Die Länge der Wegweisung aus einer Wohnung nach § 17 Abs. 2 Nds. SOG ist daran auszurichten, für welche Zeit eine Gefahr droht, die es abzuwehren gilt. Dabei ist unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu prüfen, ob ein kurzfristiger Platzverweis zur Gefahrenabwehr ausreicht oder die gesetzliche Höchstgrenze von 14 Tagen ausgeschöpft werden muss.
Gründe
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts hat keinen Erfolg.
Auf die von dem Kläger erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht mit dem angefochtenen Urteil festgestellt, dass die am 2. Juni 2008 gegenüber dem Kläger ausgesprochene Platzverweisung rechtswidrig gewesen ist. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass es äußerst zweifelhaft erscheine, ob im Zeitpunkt der Verhängung des Platzverweises am 2. Juni 2008 um 2:15 Uhr noch eine gegenwärtige, die körperliche Unversehrtheit der Ehefrau des Klägers betreffende Gefahr vorgelegen habe. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, sei es jedenfalls ermessenswidrig gewesen, die gesetzlich vorgesehene Höchstdauer von 14 Tagen voll auszuschöpfen.
Die dagegen von der Beklagten geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 3 VwGO liegen nicht vor.
1.
Insbesondere bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Soweit die Beklagte zur Begründung ihres Zulassungsantrages geltend gemacht hat, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Platzverweisung eine gegenwärtige Gefahr nicht vorgelegen habe, hat sie damit schon deshalb keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils dargelegt, weil das Verwaltungsgericht eine solche Feststellung nicht getroffen, sondern diese Frage letztendlich offen gelassen hat.
Im Übrigen ist die Einschätzung des Verwaltungsgerichts, es erscheine äußerst zweifelhaft, ob die Gefahr im Zeitpunkt der Verhängung des Platzverweises am 2. Juni 2008 um 2:15 Uhr tatsächlich noch gegeben war, auch nicht zu beanstanden.
Nach § 17 Abs. 2 Nds. SOG kann die Polizei eine Person aus ihrer Wohnung verweisen und ihr das Betreten der Wohnung und deren unmittelbaren Umgebung für die Dauer von höchstens 14 Tagen verbieten, wenn dies erforderlich ist, um eine von dieser Person ausgehende gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung von in derselben Wohnung wohnenden Personen abzuwehren. Durch die Wohnungsverweisung soll eine körperliche Auseinandersetzung zwischen streitenden Paaren verhindert werden. Dabei ist die Wegweisung keine Sanktion für geschehenes Unrecht, sondern dient der Abwehr einer Gefahr, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in allernächster Zeit droht. Eine gegenwärtige erhebliche Gefahr liegt daher vor, wenn aufgrund der festzustellenden Gesamtumstände zu befürchten ist, dass es in allernächster Zeit zu erneuten Gewalttätigkeiten kommt.
Die Einwendungen der Beklagten gegen die vom Verwaltungsgericht geäußerten Zweifel an der Richtigkeit der dem Platzverweis zugrunde liegenden Gefahrenprognose greifen nicht durch. Zwar trifft es zu, dass der erheblich alkoholisierte Kläger im Laufe der in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni 2008 zunächst verbal geführten Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau dieser eine Ohrfeige versetzt und damit die Grenze zur körperlichen Gewalt überschritten hat. Aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles spricht jedoch Überwiegendes dafür, dass es sich dabei um eine einmalige Entgleisung in einer Ausnahmesituation gehandelt hat und trotz der Gewaltanwendung und der Alkoholisierung des Klägers jedenfalls im Zeitpunkt des Erlasses des Platzverweises eine Wiederholungsgefahr nicht (mehr) bestand. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hier gerade kein Fall einer "Gewaltspirale" vorgelegen hat, in dem es bereits in der Vergangenheit zu Gewalttätigkeiten gekommen ist und sich der Vorfall, der dann zum Einschreiten der Polizei führt, lediglich als Zuspitzung einer längeren Entwicklung mit wiederkehrenden Gewalttätigkeiten darstellt. Zudem hatte sich die Situation nach der Handgreiflichkeit des Klägers dadurch entschärft, dass dieser bereit war, das Haus zu verlassen und die Nacht in der Wohnung der Nachbarn zu verbringen. Dass er anschließend noch einmal versucht hat, in die eheliche Wohnung zu gelangen, um nach seinen Angaben seinen Firmenschlüssel zu holen, spricht noch nicht für das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr, auch wenn der Grund für die Rückkehr zur Wohnung vorgeschoben gewesen sein mag. Denn der Kläger hat nicht etwa versucht, gewaltsam in die eheliche Wohnung einzudringen, sonst ist, als er mit seinem Hausschlüssel die Haustür nicht öffnen konnte und von seiner Ehefrau nicht in die Wohnung eingelassen worden ist, in die Wohnung der Nachbarn zurückgekehrt. Bis zu dem Eintreffen der Polizei um 1:27 Uhr unternahm er auch keinen weiteren Versuch, in die eheliche Wohnung zu gelangen. Vielmehr wurde er von den Polizeibeamten, wie sich aus dem Einsatzbericht ergibt, friedlich und in einem ruhigen und aufnahmebereiten Zustand in der Wohnung der Nachbarn angetroffen, führte freiwillig den Atemalkoholtest durch, nahm persönliche Gegenstände aus seiner Wohnung entgegen und händigte der Polizei auf freiwilliger Basis seinen Hausschlüssel aus. Dies spricht ganz erheblich dafür, dass sich die Situation bereits wieder entschärft hatte und gutes Zureden und warnende Hinweise der Polizeibeamten ausgereicht hätten, um den Kläger endgültig zur Vernunft zu bringen. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt allein der Umstand, dass der Kläger alkoholisiert war, nicht die Annahme, dass er sich, wie die Beklagte meint, nur kurzfristig beruhigt hatte und später wieder in einen Zustand der Aufregung geraten würde, in dem er gegenüber seiner Ehefrau gewalttätig werden würde.
Auch soweit die Beklagte geltend gemacht hat, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, dass im Fall des Klägers die Ausschöpfung der gesetzlich vorgesehenen Höchstdauer der Platzverweisung von 14 Tagen ermessenswidrig gewesen sei, sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung nicht ersichtlich.
Nach § 17 Abs. 2 Satz 2 Nds. SOG kann die Wegweisung aus der Wohnung für höchstens 14 Tage verhängt werden. Die Länge einer Wohnungswegweisung ist daran auszurichten, für welche Zeit eine Gefahr droht, die es abzuwehren gilt, und hängt damit von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. Gerade wenn es sich um eine einmalige Entgleisung in einer besonderen Ausnahmesituation ohne besonderes Gefahrenpotential handelt und ein Platzverweis zwar erforderlich ist, weil in der konkreten Situation polizeiliches Zureden nicht ausreicht, muss unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geprüft werden, ob ein kurzfristiger Platzverweis zur Gefahrenabwehr ausreicht oder die gesetzliche Höchstgrenze von 14 Tagen ausgeschöpft werden muss.
Nach den vorstehenden Ausführungen zum Vorliegen einer Wiederholungsgefahr konnte im vorliegenden Verfahren nicht davon ausgegangen werden, dass ein 14tägiger Platzverweis erforderlich war, um die Ehefrau des Klägers vor weiteren Gewaltanwendungen durch ihn zu schützen. Wie bereits dargelegt worden ist, hat es in der Vergangenheit keine gewalttätigen Übergriffe durch den Kläger gegeben. Zudem hatte sich der Kläger nach der Tätlichkeit gegenüber seiner Ehefrau dazu bereit erklärt, die Nacht in der Wohnung der Nachbarn zu verbringen. Bei dem Versuch, anschließend noch einmal in die gemeinsame Wohnung zu gelangen, um seinen Firmenschlüssel zu holen, ist der Kläger nicht aggressiv und gewalttätig geworden, sondern nach dem Scheitern in die Wohnung der Nachbarn zurückgekehrt. Von den Polizeibeamten wurde er dort friedlich und in einer ruhigen und aufnahmebereiten Verfassung angetroffen, verhielt sich kooperativ und händigte der Polizei auf freiwilliger Basis seinen Hausschlüssel aus, den diese der Ehefrau übergab. Sofern vor diesem Hintergrund überhaupt noch - ggf. wegen der Alkoholisierung des Klägers - eine gegenwärtige Gefahr vorgelegen hat, war jedenfalls wegen der besonderen Umstände des vorliegenden Falles nicht die Prognose gerechtfertigt, dass diese längerfristig bestand. Zwar dürfte es zutreffen, dass die Beziehungsstreitigkeiten zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau nicht gelöst waren. Dem Kläger hätte aber schon durch einen kurzfristigen Platzverweis von einem Tag oder wenigen Tagen hinreichend deutlich gemacht werden können, dass Gewalt kein Mittel der Auseinandersetzung und seine Ehefrau nicht schutzlos ist. Es ist davon auszugehen, dass er sich dann auch soweit stabilisiert hätte, dass er mit seiner Ehefrau eigenverantwortlich über eine weitere Trennung hätte entscheiden können.
2.
Eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache nach § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO scheidet ebenfalls aus.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur dann zu, wenn sie in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht eine Frage aufwirft, die im Rechtsmittelzug entscheidungserheblich und fallübergreifender Klärung zugänglich ist sowie im Interesse der Rechtseinheit oder der Fortentwicklung des Rechts geklärt werden muss. Der Zulassungsantrag muss eine konkrete Frage aufwerfen, deren Entscheidungserheblichkeit erkennen lassen und (zumindest) einen Hinweis auf den Grund enthalten, der das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung rechtfertigen soll (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl., § 124 Rn. 10). An der Darlegung einer solchen Rechtsfrage fehlt es hier.
Der von der Beklagten aufgeworfenen Frage, "wann in den Fällen erstmaliger körperlicher häuslicher Gewalt eine gegenwärtige Gefahr i.S.d. § 17 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nds. SOG bzw. i.S.d. § 2 Satz 1 Nr. 1 b) Nds. SOG vorliegt", kommt schon deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zu, weil sie nicht entscheidungserheblich ist. Denn das Verwaltungsgericht seine Entscheidung nicht darauf gestützt, dass keine gegenwärtige Gefahr vorgelegen hat, sondern diese Frage gerade offen gelassen. Im Übrigen liegt es auf der Hand, dass die Frage, wann nach einer erstmaligen körperlichen Gewaltanwendung im häuslichen Bereich von einer gegenwärtigen Gefahr auszugehen ist, einer grundsätzlichen Klärung nicht zugänglich ist, sondern nur unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden kann.
Auch die weitere Frage, "in welchem Zeitraum eine entsprechende Entscheidung des Familiengerichts nach dem Gewaltschutzgesetz, dort insbesondere nach § 1 erreicht werden kann", führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, weil sie ebenfalls nicht entscheidungserheblich wäre. Wie bereits ausgeführt worden ist, hängt die Länge einer Wohnungswegweisung davon ab, für welche Zeit eine Gefahr droht. Diese Zeitspanne muss nicht zwingend mit der Zeitspanne übereinstimmen, die für eine Entscheidung des Familiengerichts nach dem Gewaltschutzgesetz benötigt wird, sondern kann aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls - wie auch im vorliegenden Fall - durchaus vorher enden. Daher kommt es auf die von der Beklagten aufgeworfene Frage hier nicht an. Abgesehen davon dürfte auch diese Frage nicht grundsätzlich, sondern nur im Einzelfall zu klären sein.