Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.07.2010, Az.: 5 LA 93/09

Antrag auf Gewährung höherer Versorgungsbezüge bei einen wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzten Beamten; Konkludenter Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens durch die Auslegung eines Schreibens

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.07.2010
Aktenzeichen
5 LA 93/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 21228
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0706.5LA93.09.0A

Gründe

1

Die mit Ablauf des 31. Mai 2002 wegen Dienstunfähigkeit vorzeitig in den Ruhestand versetzte Klägerin erhielt nach dem bestandskräftigen Bescheid vom 18. Juli 2002 Versorgungsbezüge auf der Grundlage eines Ruhegehaltssatzes von 68,55 v. H. Bei der Berechnung wurden die nach dem 31. Juli 1984 liegenden Teilzeitbeschäftigungen berücksichtigt. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit Schreiben vom 25. November 2005. Die Funktionsvorgängerin der Beklagten wertete das Schreiben als Widerspruch gegen die Festsetzung der Versorgungsbezüge und wies diesen als unzulässig zurück. Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben und zunächst begehrt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. Juli 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2006 zu verpflichten, der Klägerin Versorgungsbezüge ohne Berücksichtigung des Versorgungsabschlags gemäß § 14 BeamtVG in der bis zum 1. Dezember 1991 geltenden Fassung, mithin in Höhe von 72 v. H. zuzüglich Prozesszinsen zu gewähren. Zur Begründung hat sie ausgeführt, ihr Schreiben vom 25. November 2005 stelle einen Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens dar. In der Sache sei die Berücksichtigung ihrer Teilzeitbeschäftigung nur anteilig bei der Berechnung der Versorgungsbezüge nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2005 als unzulässige Diskriminierung von Frauen anzusehen.

2

Im Laufe des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens hat die Funktionsvorgängerin der Beklagten mit Bescheid vom 22. Oktober 2008 den bestandskräftigen Bescheid vom 18. Juli 2002 mit Wirkung vom 18. Juni 2008 auf der Grundlage von § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG, § 48 VwVfG aufgehoben und die Versorgungsbezüge unter Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in dessen Beschluss vom 18. Juni 2008 (- 2 BvL 6/07 -) neu festgesetzt. In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten insoweit den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt. Zuletzt hat die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des Festsetzungsbescheides vom 18. Juli 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 2006 die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Versorgungsbezüge ohne Berücksichtigung eines Versorgungsabschlages (§ 14 BeamtVG a.F.) für die Zeit ab Ruhestandsbeginn bis zum 17. Juni 2008 in Höhe von 70,54 v. H. zuzüglich Zinsen ab Rechtshängigkeit zu gewähren. An ihrem weitergehenden Antrag, den Ruhegehaltssatz von 72 v. H. festzusetzen, hat die Klägerin nicht mehr festgehalten.

3

Das Verwaltungsgericht hat das Verfahren eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: In dem Schreiben der Klägerin könne zwar ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens als konkludent gestellt gesehen werden. Jedoch liege ein Wiederaufgreifensgrund nicht vor. Auch bestehe ein Anspruch auf Rücknahme des Versorgungsfestsetzungsbescheids für den noch streitgegenständlichen Zeitraum nicht.

4

Gegen dieses Urteil richtet sich der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem die Klägerin ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und eine Divergenz im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO geltend macht.

5

II.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat teilweise Erfolg, soweit das Verwaltungsgericht die Klage auf Gewährung höherer Versorgungsbezüge für den Zeitraum vom 6. Oktober 2005 bis zum 17. Juni 2008 abgewiesen hat (dazu unter 1.). Im Übrigen ist der Zulassungsantrag unbegründet (dazu unter 2.).

6

1.

Ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (BVerfG, Beschl. v. 23.6.2000 - 1 BvR 830/00 -, DVBl. 2000, 1458). Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führen wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 10.3.2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, DVBl. 2004, 838; Nds. OVG, Beschl. v. 30.4.2008 - 5 LA 200/07 -).

7

Diese Voraussetzungen liegen vor, soweit das Verwaltungsgericht einen Anspruch der Klägerin auf Wiederaufgreifen des Verfahrens verneint und damit die Klage auch für den im Tenor genannten Zeitraum abgewiesen hat.

8

Das Verwaltungsgericht hat einen Wiederaufgreifensgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG, § 51 Abs. 1 VwVfG als nicht gegeben angesehen. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Mai 2005 stelle keine Änderung der Rechtslage dar. Auch aus der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Oktober 2003 ( -Rs. C-4/02 -) könne die Klägerin einen Rechtsanspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens für die Vergangenheit nicht herleiten. Der erst mit der Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vom 18. Juni 2008 (- 2 BvL 6/07 -) eingetretenen Änderung der Rechtslage habe die Beklagte bereits im Bescheid vom 22. Oktober 2008 Rechnung getragen. Die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung entfalte keine Rückwirkung.

9

Demgegenüber hält der Senat für den Zeitraum vom 6. Oktober 2005 bis zum 17. Juni 2008 einen Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ihren Misserfolg, weil gewichtige Gründe dafür sprechen, von einer Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG auszugehen. Dies ergibt sich daraus, dass die Frist zur Umsetzung der Richtlinie 76/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. Nr. 1 39, S. 40), geändert durch die Richtlinie 2002/73/EG vom 23. September 2002 (ABl. Nr. 1 269, S. 15), am 5. Oktober 2005 abgelaufen ist, ein Widerspruch des§ 14 Abs. 1 Satz 1 Halbsätze 2 und 3 BeamtVG a.F. zum gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot besteht und die Klägerin sich insoweit ab dem 6. Oktober 2005 auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts berufen können dürfte (vgl. hierzu VG Wiesbaden, Urt. v. 9.9.2008 - 6 K 47/08. WI, zitiert nach [...] Langtext, Rn. 44, sowie zur Änderung der Rechtslage im Sinne § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 20.5.2008 - A 10 S 3032/07 -, zitiert nach [...] Langtext, Rn. 63). Die in § 51 Abs. 3 VwVfG enthaltene Antragsfrist hat die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 23. November 2005 gewahrt, sodass ihr bei Vorliegen des Wiederaufgreifensgrundes ein Anspruch auf Neufestsetzung der Versorgungsbezüge ab dem 6. Oktober 2005 unter Berücksichtigung der geänderten Rechtslage zustehen dürfte (vgl. dazu Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 51, Rn. 31).

10

Diesem Ergebnis steht der Beschluss des Senats vom 30. Juni 2008 (- 5 LA 92/07 -) nicht entgegen, der sich mit der Frage der Änderung der Rechtslage im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG im Falle des Ablaufs der Umsetzungsfrist der genannten Richtlinien nicht befasst.

11

Angesichts dessen kann für dieses Verfahren dahingestellt bleiben, ob die Berufung auch wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel des Urteils zuzulassen ist, soweit das Verwaltungsgericht einen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen Festsetzungsbescheids nach §§ 51 Abs. 5, 48 VwVfG abgelehnt hat. Insoweit hat die Klägerin im Zulassungsverfahren geltend gemacht, dass ihr jedenfalls ab Antragstellung ein solcher Anspruch, also für den Zeitraum 1. Dezember 2005 ausweislich der Verwaltungsvorgänge (Eingang des Antrags v. 25.11.2005 bei der Beklagten) bis zum 17. Juni 2008 zustehe. Da dieser Zeitraum bereits von dem geltend gemachten Wiederaufgreifensgrund erfasst ist, ist die Klärung des Rücknahmeanspruchs gegebenenfalls dem Berufungsverfahren vorbehalten. Aus dem gleichen Grund bedarf es keiner Erörterung, ob insoweit die Zulassung der Berufung wegen Divergenz zum Urteil des Senats vom 13. Januar 2009 (- 5 LB 312/08 -) in Betracht kommt.

12

2.

Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist abzulehnen, soweit die Klägerin die Neufestsetzung ihrer Versorgungsbezüge auch für die Zeit ab dem 1. Juni 2002 (Ruhestandsbeginn) bis zum 5. Oktober 2005 begehrt.

13

Die Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Richtigkeitszweifel scheidet aus, weil das diesbezügliche Zulassungsvorbringen allein den Zeitraum vom 6. Oktober bzw. 1. Dezember 2005 bis jeweils zum 17. Juni 2008 erfasst.

14

Ebenso wenig ist die Berufung insgesamt wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Soweit die Klägerin für grundsätzlich klärungsbedürftig erachtet, ob innerhalb eines Beamtenverhältnisses dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit ein höherer Wert als dem Prinzip der Bestandskraft einzuräumen ist, formuliert sie zwar eine Rechtsfrage. Das Vorbringen genügt indes nicht den an die Geltendmachung dieses Zulassungsgrundes zu stellenden Darlegungsanforderungen. Neben der Formulierung der Frage ist näher zu begründen, weshalb sie eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat und ein allgemeines Interesse an ihrer Klärung besteht. Darzustellen ist weiter, dass sie entscheidungserheblich ist und ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten steht (Nds. OVG, Beschl. v. 23.12.2009 - 5 LA 488/09 -, zitiert nach [...]; Beschl. v. 29. 2. 2008 - 5 LA 167/04 -, a.a.O., m.w.N.). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen nicht, denn die Klägerin verweist lediglich auf eine gebotene einheitliche Rechtsanwendung. Hierbei bleibt offen, ob die Fragestellung sich auf die Auslegung und Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG oder aber auf die Ermessensausübung in Anwendung von § 48 VwVfG bezieht. Selbst wenn der Senat das Vorbringen der Klägerin allein auf § 48 VwVfG beschränken würde, wäre den Darlegungsanforderungen nicht genüge getan. Denn die Frage, unter welchen Voraussetzungen das Prinzip der Rechtssicherheit infolge der eingetretenen Bestandskraft des Verwaltungsakts in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens zu Gunsten des Gebots der materiellen Gerechtigkeit zu durchbrechen ist, lässt sich nur anhand der Umstände des Einzelfalles beantworten. An welchen Maßstäben sich die Rücknahmeermessensentscheidung grundsätzlich zu orientieren hat, ist im Übrigen durch die Rechtsprechung geklärt (vgl. die Ausführungen in dem den Beteiligten bekannten Urteil des Senats vom 13. Januar 2009 - 5 LB 312/08 -). Weiteren Klärungsbedarf hat die Klägerin nicht aufgezeigt.

15

Soweit der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt worden ist, ist das Urteil rechtskräftig.

16

Im Übrigen wird das Zulassungsverfahren als Berufungsverfahren fortgeführt; der Einlegung einer Berufung bedarf es nicht (§ 124a Abs. 5 Satz 5 VwGO).

17

Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Zulassung der Berufung zu begründen. Die Begründung ist bei dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag von dem Vorsitzenden verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig (§ 124a Abs. 3 Sätze 3 bis 5 und Abs. 6 VwGO).

18

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).