Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 28.11.2016, Az.: 4 A 322/15

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
28.11.2016
Aktenzeichen
4 A 322/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 36659
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • InfAuslR 2017, 251-252

Amtlicher Leitsatz

Die Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland ist regelmäßig gegeben, wenn die Voraussetzungen des § 253 Abs. 1 S. 2 Abs. 1 - 4 erfüllt sind. Fehlt es an der Erfüllung eines Regelbeispiels, kann die Integration danach durch andere Integrationsleistungen nachgewiesen werden. Einer entsprechenden Anwendung von § 253 Abs. 3 bedarf es nicht.

In der Verwaltungsrechtssache
1. des Herrn A.,
2. der Frau B.,
,
Staatsangehörigkeit: serbisch,
Kläger,
Proz.-Bev.
zu 1-2: Rechtsanwälte Kolostori und andere,
Kollegienwall 28 a/b, 49074 Osnabrück, - C. -
gegen
den Landkreis Goslar, vertreten durch den Landrat,
Klubgartenstraße 6, 38640 Goslar, - D. -
Beklagter,
Streitgegenstand: Aufenthaltserlaubnis
hat das Verwaltungsgericht Braunschweig - 4. Kammer - auf die mündliche Verhandlung vom 28. November 2016 durch den Vorsitzenden Richter am Verwaltungsgericht Meyer, den Richter Kirschke, den Richter am Verwaltungsgericht Dr. Allner sowie die ehrenamtlichen Richter E. und F. für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die gegen sie gerichtete Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht zuvor der Beklagte Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Kläger begehren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 bzw. 25b AufenthG.

Die im Jahr 1954 und 1957 geborenen Kläger stammen aus dem Kosovo. Sie reisten im Jahr 2000 gemeinsam mit 3 Kindern, den Söhnen G., H. und I., in das Bundesgebiet ein. Ihr Aufenthalt wurde zunächst wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung geduldet. Anträge auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln wurden mehrfach abgelehnt. Am 28.12.2007 wurde den Klägern ein bis zum 30.06.2008 befristeter Aufenthaltstitel erteilt. Mit Bescheid vom 25.09.2008 lehnte der Beklagte die Verlängerung der Aufenthaltstitel ab. Die dagegen gerichtete Klage (4 A 266/08) nahmen die Kläger zurück. Anschließend wurden die Kläger geduldet.

Die Klägerin zu 2.) beantragte am 26.10.2010 erneut die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, weil sie unter im Kosovo nicht zu behandelnden Erkrankungen leide. Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 03.12.2010 ab. Ein dagegen angestrengtes Klageverfahren (4 A 11/11) blieb erfolglos.

Im Folgenden wurde die Klägerin zu 2.) mehrfach ärztlich untersucht. Im Ergebnis äußerte der Amtsarzt erhebliche Zweifel an der Flugreisefähigkeit der Klägerin zu 2.). Sofern die Ausreise im Familienverband erfolge, die Einnahme der fachärztlich verordneten Medikamente während der Reise und im Anschluss gesichert sei und eine ärztliche Begleitung während der Maßnahme stattfinde, werde allerdings eine Reisefähigkeit bejaht. Mit Schreiben vom 31.07.2013 bat die Klägerin um Stellungnahme zu diesem Befund und begehrte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Im Jahr 2014 wurde die Klägerin zu 2.) erneut amtsärztlich begutachtet. Als Ergebnis ist festgehalten, dass die Flugreisefähigkeit der Klägerin zu 2.) wegen einer koronaren Herzerkrankung, hohen Blutdruckes und einer psychischen Störung auszuschließen sei. Eine Ausreise auf dem Landweg könne nur im Familienverband erfolgen. Auch dabei sei eine ärztliche Begleitung erforderlich. Letztmalig nahm der Amtsarzt am 20.05.2014 zur Reisefähigkeit der Klägerin zu 2.) Stellung. Er führte aus, dass eine erzwungene Ausreise "neben einer möglichen Gefährdung von Frau J. oder ihrer Umgebung insbesondere auch dazu führen könnte, dass das Flugzeug außerplanmäßig landen muss". Die Situation wäre allerdings anders zu beurteilen, wenn die Klägerin zu 2.) mit ihren Söhnen freiwillig ausreisen würde.

Mit Bescheid vom 24.07.2015 lehnte der Beklagte den Antrag auf Erteilung von Aufenthaltstiteln nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Ausreise der Klägerin zu 2.) nicht tatsächlich unmöglich sei. Eine freiwillige Ausreise sei möglich. Die Kläger seien auch keine faktischen Inländer, da sie sich bis auf einen kurzen Zeitraum nur geduldet im Bundesgebiet aufgehalten hätten. Die Kläger erfüllten darüber hinaus nicht die Passpflicht.

Die Kläger haben am 19.08.2015 Klage erhoben und vorgetragen, die Klägerin zu 2.) sei auf Dauer reiseunfähig. Sie sei auch den Strapazen einer freiwilligen Ausreise nicht gewachsen. Die Entscheidung des Beklagten laufe darauf hinaus, dass sie dauerhaft im Status der Duldung verbleiben müsse. Dies sei nicht mit dem Gesetz vereinbar. Die Kläger hätten auch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Die dort genannten Integrationsleistungen lägen zwar nicht vor, könnten aber wegen des Gesundheitszustandes der Kläger auch nicht verlangt werden. Der Kläger zu 1.) sei mit Beschluss des Amtsgerichtes Seesen vom 23.03.2015 zum Betreuer der Klägerin zu 2.) bestellt worden. § 25b Abs. 3 AufenthG sei zumindest entsprechend auf § 25b Abs. 1 Nr. 2 AufenthG anzuwenden. Die Klägerin zu 2.) sei ein Pflegefall. Sie sei nicht in der Lage an einem Orientierungskurs teilzunehmen. Dazu legt die Klägerin zu 2.) ein Attest vom 04.04.2016 vor, wonach sie am Rollator gehe, häufig im Bett liege und auf eine regelmäßige Dauermedikation angewiesen sei. Ihre Belastbarkeit sei erheblich eingeschränkt. Die Teilnahme an einem Orientierungs-Sprachkurs sei aus gesundheitlichen Gründen nicht zu empfehlen. Der Kläger zu 1.) habe bereits an einem Integrationskurs teilgenommen. Dazu legt er eine Teilnahmebescheinigung vor.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 24.07.2015 zu verpflichten, ihnen eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 bzw. § 25b AufenthG zu erteilen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er erwidert, Reisunfähigkeit der Klägerin zu 2.) liege für den Fall der freiwilligen Ausreise nicht vor. Die Kläger hätten zu keinem Zeitpunkt Bemühungen unternommen freiwillig auszureisen. Zwar sei es unter anderem Intention des Aufenthaltsgesetzes gewesen, Kettenduldungen abzuschaffen, doch gehörten die Kläger nicht zu dem Personenkreis, für den dies beabsichtigt gewesen sei. Auch das AufenthG erlaube so genannte "Kettenduldungen". Im Übrigen lägen auch die Regelerteilungsvoraussetzungen nicht vor.

Der Beklagte lehnt auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ab. Er hält es für unabdingbar, dass die Kläger das Erfordernis des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG erfüllten. Er verweist auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 25.02.2015 zum Erlass eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberecht und der Aufenthaltsbeendigung (BT-Drs. 18/4097), nach dem eine Ausnahme für den Fall, dass die Erfordernisse der Nr. 2 nicht erfüllt würden, ausdrücklich nicht geschaffen worden sei. Für den Kläger zu 1.) sei auch lediglich eine Teilnahmebescheinigung übersandt worden. Dass er den Integrationskurs erfolgreich bestanden hätte, werde nicht nachgewiesen. Nach seinen Informationen habe der Kläger zu 1.) den Kurs auch nicht beendet. Selbst wenn der Kläger zu 1.) eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b erhalten könnte, wäre damit nicht gesagt, dass auch die Klägerin zu 2.) eine solche Aufenthaltserlaubnis erhalten könnte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird zur Ergänzung des Tatbestandes auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage, über die im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 113 Abs. 1, 5 VwGO).

Nach § 25 Abs. 5 AufenthG kann einem Ausländer, der vollziehbar ausreisepflichtig ist, eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn seine Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist und mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 27.06.2006 - 1 C 14/05 -, Rn 15) ist unter Ausreise im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG auch die freiwillige Ausreise zu verstehen. Nur wenn weder die freiwillige noch die erzwungene Ausreise tatsächlich oder rechtlich unmöglich sind, kommt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG in Betracht. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Nach den vorliegenden, umfangreichen ärztlichen und amtsärztlichen Feststellungen ist jedenfalls auch die freiwillige Ausreise der Klägerin zu 2.) zumindest auf dem Landweg möglich. Dass zumindest die freiwillige Ausreise des Klägers zu 1.) nicht möglich ist, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Die Ausreise der Kläger ist auch nicht aus rechtlichen Gründen unmöglich. Die Kläger sind keine sogenannten faktischen Inländer. Die 1954 und 1957 geborenen Kläger sind erst im Jahr 2000 in das Bundesgebiet eingereist, also in ihrer Heimat aufgewachsen und sozialisiert worden, Sie sprechen die Landessprache und kennen die dortigen Lebensverhältnisse. Bis auf einen kurzen Zeitraum sind sie nie in Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gewesen, ihr Aufenthalt ist vielmehr geduldet worden. Diese Zeiten sind nach der ständigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. nur Beschluss vom 19.07.2010 - 8 ME 163/10 -) nicht geeignet ein rechtliches Abschiebungshindernis nach Art. 8 EMRK zu begründen. Auf die oben genannten Gründe geht auch der angefochtene Bescheid vom 24.07.2015 ausdrücklich ein, sodass ergänzend gemäß § 117 Abs. 5 VwGO darauf Bezug genommen werden kann.

Die Kläger haben auch keinen Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG. Unstreitig erfüllen die Kläger nicht die Voraussetzung des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG. Ihrem Vortrag, dass § 25b Abs. 3 auf die genannte Nummer 2 entsprechend anzuwenden sei, vermag das Gericht nicht zu folgen. Aus der Gegenäußerung der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 18/4199) zur Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf des Bundesregierung ergibt sich, dass die Bundesregierung einen Vorschlag des Bundesrates auch die Nummer 2 in § 25b Abs. 3 aufzunehmen, nicht für erforderlich hielt. Begründet wurde dies damit, dass es sich ohnehin nur um ein Regelbeispiel handele, sodass in atypischen Fällen auch auf dieses Erfordernis verzichtet werden könne, wenn dennoch eine nachhaltige Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland gegeben sei. Es fehlt also an einer planwidrigen Regelungslücke, die durch eine entsprechende Anwendung einer Norm, hier des § 25b Abs. 3 AufenthG, zu schließen wäre. Die Problematik ist Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens gewesen und als auf andere Weise als durch Aufnahme der Nummer 2 in § 25b Abs. 3 AufenthG zu lösen angesehen worden. Hielt der Gesetzgeber jedoch ausdrücklich eine Anwendung von § 25b Abs. 3 auf § 25 b Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AufenthG für nicht erforderlich, verbietet sich eine analoge Anwendung der Norm. Einer entsprechenden Anwendung des § 25b Abs. 3 auf § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG bedarf es nach den obigen Ausführungen deshalb nicht, da es sich bei den Nummern 1 bis 4 um Regelbeispiele handelt. Wenn die Kläger also die Voraussetzungen der Nummer 2 nicht erfüllen, führt dies nicht zwingend zu der Annahme, dass sie sich nicht nachhaltig in die Lebensverhältnis der Bundesrepublik Deutschland integriert hätten. Vielmehr kann dies auch durch andere Integrationsleistungen nachgewiesen werden. Daran fehlt es allerdings vorliegend. Weder aus dem umfangreichen Verwaltungsvorgang noch aus dem Vortrag im gerichtlichen Verfahren lassen sich Tatsachen entnehmen, die für eine Integration der Kläger in die Lebensverhältnisse der Bundespolitik Deutschland sprechen. Allein der nunmehr 16 Jahre andauernde Aufenthalt in Deutschland reicht dafür nicht aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Die Berufung ist gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen, da die Frage, ob § 25b Abs. 3 auch entsprechend auf § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG Anwendung finden kann, grundsätzliche Bedeutung hat und bisher nicht entschieden ist.

Meyer
Kirschke
Dr. Allner