Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 05.07.2010, Az.: 10 LA 252/08
Gleichartigkeit der in Art. 40 Abs. 4 Verordnung 1782/2003/EG genannten Fälle der höheren Gewalt und die der außergewöhnlichen Umstände; Anerkennung eines den normalen Geschäftsrisiken zugeordneten bestimmten Umstandes als unvorhersehbar und damit als Fall höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 05.07.2010
- Aktenzeichen
- 10 LA 252/08
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2010, 21206
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:2010:0705.10LA252.08.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 11 Abs. 3 VO 3887/92/EWG
- Art. 40 Abs. 4 VO 1782/2003/EG
Fundstelle
- AUR 2010, 268-269
Amtlicher Leitsatz
Die in Art. 40 Abs. 4 genannten Fälle der höheren Gewalt und die der außergewöhnlichen Umstände sind gleich. Sofern ein bestimmter Umstand den normalen Geschäftsrisiken zuzuordnen ist, kann dieser nicht als unvorhersehbar betrachtet werden und damit nicht als Fall höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände anerkannt werden.
Gründe
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zuzulassen, bleibt ohne Erfolg. Die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sowie der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor.
1.
Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestehen dann, wenn gegen die Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts gewichtige Gründe sprechen. Das ist regelmäßig der Fall, wenn ein die Entscheidung tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Für die Zulassung der Berufung reicht es aber nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil des Verwaltungsgerichts gestützt ist. Vielmehr müssen zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung begründet sein.
Nach Maßgabe dessen kann die Berufung nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zugelassen werden.
Der Kläger begehrt die Festsetzung höherer Zahlungsansprüche nach der Betriebsprämienregelung der Verordnung (EG) Nr. 1782/2003, weil nach seiner Ansicht ein höherer betriebsindividueller Betrag aus der nationalen Reserve zu berücksichtigen sei. Bei der Ermittlung des Referenzbetrages seien allein die Jahre 2000 und 2001 heranzuziehen, weil die willkürliche Kündigung des Pachtvertrages über einen Kuhstall ebenso wie die unfallbedingte Zerstörung eines Stalles als außergewöhnlicher Umstand zu sehen sei, dem als Härtefall Rechnung getragen werden müsse. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Klage sei unbegründet, weil der angefochtene Bescheid der Beklagten rechtmäßig sei. Der Ausfall von Prämienzahlungen im Jahr 2002 könne nicht als Härtefall ausgeglichen werden. Unter höherer Gewalt im Sinne des Art. 40 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 seien ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen, auf die derjenige, der sich hierauf berufe, keinen Einfluss habe und deren Folgen auch bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können. Der Verordnungsgeber habe den Begriff der "außergewöhnlichen Umstände" mit aufgenommen, ohne dass sich daraus eine inhaltliche Ausweitung des Anwendungsbereichs ergebe. Die Kündigung des Stalles scheide als ungewöhnlicher Umstand hier aus. Zwar habe die Kündigung den Kläger unvorbereitet und überraschend getroffen. Die Kündigung beruhe aber auf einem vertragsmäßigen Kündigungsrecht. Der Wegfall der Betriebsgebäude hätte bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt durch eine andere Vertragsgestaltung vermieden werden können. Da das gesamte Betriebskonzept auf dem gepachteten Stall, der Scheune und den dazu gehörenden Lagerflächen beruht habe, sei es insgesamt dauernd mit einem hohen Risiko behaftet gewesen, das den Kläger dazu hätten bestimmen müssen, durch Änderung des Vertrages oder auf andere Weise Vorsorge zu treffen. Es habe den Eindruck, dass der Kläger die Bedeutung des vertraglich eingeräumten Kündigungsrechts nicht erkannt habe. Auch habe er seine Bemühungen nicht vorgetragen, das vorgenannte Risiko zu minimieren. Entgegen dem Vortrag des Klägers habe dieser das Kündigungsrecht akzeptiert und beibehalten; er habe sich auch kein vertragliches Vorkaufsrecht einräumen lassen. Selbst für den Fall, dass die Verpächterin zu einer Änderung des Kündigungsrechts nicht bereits gewesen wäre, wäre der Kläger nicht ohne Abwendungsmöglichkeit gewesen. Angesichts der existentiellen Bedeutung für seinen Betrieb hätte er bei der gebotenen Sorgfalt Vorsorge für einen eigenen Erwerb der Betriebsstätte treffen müssen.
Der Kläger sieht ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts darin begründet, dass das Verwaltungsgericht dem Begriff der "außergewöhnlichen Umstände" über den Begriff der "höheren Gewalt" hinaus keine eigene, besondere, erweiterte Bedeutung zukommen lasse. Es sei davon auszugehen, dass der Begriff der höheren Gewalt um die Fälle von außergewöhnlichen Umständen erweitert werden solle. Zwar räume das Verwaltungsgericht ein, dass die Kündigung den Kläger unvorbereitet und überraschend getroffen habe. Gleichwohl solle kein außergewöhnlicher Umstand vorliegen, weil er es in der Hand gehabt hätte, eine andere Vertragsgestaltung herbeizuführen. Die Vereinbarung eines vertraglichen Vorkaufsrechts sei ihm aber nicht möglich gewesen. Im Allgemeinen seien die Eigentümer zu einer erforderlichen notariellen Beurkundung faktisch nie bereit, weil dies zu einer erschwerten Absetzung am Markt führe. Im Übrigen träfen alle Überlegungen des Verwaltungsgerichts zur Risikovorsorge im Falle einer gegen den Willen des Landwirts herbeigeführten Kündigung auch auf vergleichbare Fälle eines Brandes oder sonstiger völliger Zerstörung des Betriebsgebäudes zu. Bei Lichte betrachtet seien die Fälle vergleichbar, in denen ihm das Betriebsgebäude durch einen Brand oder eine schwere Seuche entzogen werde oder wie hier durch eine Kündigung. Gerade die auf die Pacht von Ställen angewiesenen mittleren und kleinen landwirtschaftlichen Betriebe seien nicht in der Lage, aus der Kumulation des Verkaufserlöses der Tiere in Verbindung mit den Tierprämien mehr zu erwirtschaften als es für ihren Lebensunterhalt und für die laufenden Ausgaben der Pacht reiche. Durch den unvorhersehbaren und unabänderlichen Entzug seiner Produktionskapazität sei ihm aufgezwungen worden, die tierprämienbezogene Produktion einzustellen.
Aus diesem Vorbringen ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht die in Art. 40 Abs. 4 genannten Fälle der höheren Gewalt und die der außergewöhnlichen Umstände gleichgestellt. So sah bereits Art. 11 Abs. 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem für bestimmte gemeinschaftliche Beihilferegelungen die in Art. 40 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 genannten Fälle als solche höherer Gewalt vor. In der an die Stelle der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 tretende Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 werden die Fälle der höheren Gewalt als "Fälle höherer Gewalt sowie außergewöhnlicher Umstände" bezeichnet (vgl. 33. und 45. Erwägung, Art. 13 Abs. 1, 31 Abs. 4, 36 Abs. 3, 39 Abs. 1 und 48 Abs. 2 der Verordnung). Die in Art. 48 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 als außergewöhnliche Umstände bezeichneten Fälle entsprechen denen in Art. 11 Abs. 3 Verordnung (EWG) Nr. 3887/92 und in Art. 40 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003. Weiter entspricht nach dem Anhang der Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 der Art. 48 dieser Verordnung der Regelung in Art. 11 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EWG) Nr. 3887/92. Hiernach kann nur der Schluss gezogen werden, dass die Anforderungen an das Vorliegen höherer Gewalt und außergewöhnlicher Umstände im Sinne sowohl des Art. 40 Abs. 4 Verordnung (EG) Nr.1782/2003 als auch des Art. 48 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 2419/2001 gleich sind.
Zutreffend hat das Verwaltungsgericht einen Fall höherer Gewalt oder außergewöhnlicher Umstände im Sine des Art. 40 Abs. 1 und 4 Verordnung (EG) Nr. 1782/2003 verneint. Einer der dort beispielhaft aufgeführten Fälle liegt unstreitig nicht vor. Im Übrigen sind im Bereich der Agrarverordnungen - wie hier - unter höherer Gewalt ungewöhnliche und unvorhersehbare Ereignisse zu verstehen, auf die der betroffene Wirtschaftsteilnehmer keinen Einfluss hatte und deren Folgen trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt nicht hätten vermieden werden können (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002 - C-210/00 [Käserei Champion Hofmeister] -, Slg. 2002, I-6453 mit weiteren Nachweisen seiner Rechtsprechung; Urteil vom 17. Oktober 2002 - C-208/01 [Parras Medina] -, Slg. 2002, I-8955). Sofern ein bestimmter Umstand den normalen Geschäftsrisiken zuzuordnen ist, kann dieser nicht als unvorhersehbar betrachtet werden; insoweit ist es Sache des Betroffenen, geeignete Vorkehrungen zu treffen, indem er etwa entsprechende Klauseln in die betreffenden Verträge aufnimmt oder anderweitig Vorsorge trifft (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002, a.a.O. mit weiteren Nachweisen; Urteil vom 18. März 2010 - C-218/09 [SGS Belgium u.a.], [...]).
Nach Maßgabe dessen hat das Verwaltungsgericht zu Recht keinen ungewöhnlichen Umstand darin gesehen, dass dem Kläger das gepachtete Stallgebäude aufgrund des im Pachtvertrag eingeräumten Kündigungsrechts entzogen worden ist. Es ist seine Sache gewesen, entsprechende Vorsorge im Hinblick auf die Fortführung seiner Tierproduktion zu treffen. In diesem Zusammenhang kann offen bleiben, ob der Kläger gehalten gewesen ist, sich ein Vorkaufsrecht einräumen zu lassen. Denn der Kläger hätte bei Vertragsschluss jedenfalls auf eine Kündigungsfrist drängen müssen, die ihm genügend Zeit gelassen hätte, die Produktion an anderer Stelle fortführen zu können. Selbst wenn dies nicht möglich gewesen sein sollte, hätte er anderweitig Vorsorge treffen müssen. So hätte der Kläger in den Jahren vor der Kündigung die Möglichkeiten der Pacht einer anderen Betriebsstätte erwägen müssen, die nicht mit dem Risiko eines kurzfristigen Entzugs verbunden gewesen wäre. Der Kläger hat deshalb mit der Regelung über das Kündigungsrecht zugunsten der Verpächterin einen maßgeblichen Umstand (mit)gesetzt, der zum kurzfristigen Verlust der Betriebsstätte geführt hat. Insoweit hat sich ein normales Geschäftsrisiko verwirklicht, auch wenn der konkrete Zeitpunkt der Kündigung für den Kläger nicht vorhersehbar gesehen ist.
2.
Die Berufung kann auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zugelassen werden.
Eine Rechtssache ist nur dann grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und die im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.
Der Kläger erachtet die Rechtsfrage für grundsätzlich bedeutsam, ob ein von dem Landwirt nicht herbeigeführter und auch nicht mit anderen privatrechtlichen Mitteln abwendbarer Zwang zur Beendigung der Produktion, hier wegen zivilrechtlichen Entzugs der Produktionsstätte durch die Eigentümerin, mit den im einzelnen aufgeführten Fällen höherer Gewalt entsprechend als außergewöhnlicher Umstand besonderer Art gewertet werden kann.
Hiermit hat der Kläger eine klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht aufgezeigt. Wie bereits ausgeführt, sind die Anforderungen an das Vorliegen höherer Gewalt und damit an das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Bereich der Agrarverordnungen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichts geklärt (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2002, a.a.O. mit weiteren Nachweisen). In diesem Zusammenhang ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ebenso geklärt, dass die mit den üblichen Geschäftsrisiken verbundenen Folgen nicht als unvorhersehbar und damit nicht als außergewöhnlicher Umstand anerkannt werden kann. Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf in dem angestrebten Berufungsverfahren hat der Kläger nicht aufgezeigt.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).