Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 06.07.2010, Az.: 15 KF 25/09

Vernehmen einer Zeugin im Wege eines selbstständigen Beweisverfahrens im Haus der Zeugin aufgrund des Alters und gravierender Erkrankungen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
06.07.2010
Aktenzeichen
15 KF 25/09
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 24019
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0706.15KF25.09.0A

Fundstelle

  • AUR 2010, 271-272

Redaktioneller Leitsatz

Wird ein Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens zu Recht auf § 485 Abs. 1 ZPO - hier i.V.m. den §§ 138 Abs. 1 S. 2 FlurbG und 98 VwGO - gestützt, findet keine strenge Prüfung der Erheblichkeit der Beweistatsachen statt. Am erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis fehlt es nur, wenn die Beweisfrage für das bereits anhängige Hauptsacheverfahren offenkundig und nach jeder Betrachtungsweise unerheblich ist.

Gründe

1

Die Kläger haben am 11. August 2009 bei dem als Flurbereinigungsgericht angerufenen Senat eine Klage zur Hauptsache erhoben, mit der sie beantragen, den 1. Nachtrag zum Flurbereinigungsplan Bawinkel in der Form des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 2009 (Bl. 4 ff. der Gerichtsakte - GA -) aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, sie unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Sie berufen sich zur Begründung ihrer Klage (Bl. 44 f. GA unter I.) unter anderem auf die Nr. 8) einer Planvereinbarung vom 1. August 2000 (Leseabschrift Bl. 91 f. [92] der Beiakte - BA - A), die eine verbindliche Zusage der Beklagten enthalte, ihnen mindestens 75 ha zusammenhängender Landabfindungen als Voraussetzung der Begründung eines Eigenjagdbezirks (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 BJagdG) zuzuweisen. Diese Zusage betrachten die Kläger als nicht eingehalten, weil es Geschäftsgrundlage der Planvereinbarung gewesen sei, dass die Rechtsvorgängerin und Mutter der Klägerin zu 1, die Zeugin D. E., eine Fläche zur Größe von ca. 3.500 m2, nämlich den Hofraum, an eine weitere Tochter abgeben würde. Deshalb sei in der Verhandlungsniederschrift vom 1. August 2000 unter 8) auch festgehalten worden, dass zusammenhängend mehr als 75 ha zuzuweisen seien (vgl. dagegen § 7 Abs. 1 Satz 1 BJagdG "von 75 Hektar an"). Die Abgabe des Hofraums habe über dieses "mehr" abgesichert werden sollen. Die Kläger machen somit geltend, dass die Beklagte aus der Planvereinbarung verpflichtet sei, ihnen Landabfindungen in einem solchen Umfang zuzuteilen, dass gemeinsam die für einen Eigenjagdbezirk erforderliche Mindestgröße ungeachtet der Abgabe einer Grundfläche an die weitere Tochter erreicht werde. In diesem Zusammenhang halten sie die Aussage der Zeugin D. E. über die aus dem Tenor dieses Beschlusses ersichtlichen (Hilfs-)Beweistatsachen für erheblich. Die Kläger begehren, die Zeugin im Wege eines selbständigen Beweisverfahrens im Haus der Zeugin zu vernehmen, weil diese ein Alter von fast 79 Jahre habe, unter verschiedenen gravierenden Erkrankungen leide und nicht mehr reisefähig sei (vgl. Bl. 58 und 96 GA).

2

Die Beklagte stellt eine Verpflichtung, die Kläger in dem bezeichneten Mindestumfang abzufinden, in Abrede und bestreitet die Beweistatsachen, über die die Kläger Beweis zu erheben beantragen: Sie, die Beklagte, habe mit der Formulierung in Nr. 8) der Planvereinbarung vom 1. August 2000 keine Zusicherung und keine rechtsverbindliche Erklärung abgegeben. Vielmehr sei die Formulierung als "Bemühensklausel" zu verstehen. Die von den Klägern behauptete - aber bestrittene - Aussage des Herrn G., die Abgabe der Hoffläche sei unschädlich, sei schon deshalb irrelevant, da bei einer Zusicherung wie bei einem öffentlich-rechtlichen Vertrag sämtliche Bestandteile schriftlich vereinbart werden müssten. Mündliche Nebenabreden seien unzulässig und könnten auch nicht im Wege der Auslegung hineingelesen werden, da überhaupt kein Rechtsbindungswille bestanden habe, für die Gründung einer Eigenjagd zu garantieren. Der Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens stimme sie, die Beklagte, nicht zu. Ein solches Verfahren sei nicht erforderlich. Es bestehe kein Rechtsschutzbedürfnis für seine Durchführung, weil die Beweistatsache offenkundig unerheblich sei. Es werde außerdem bestritten, dass bei der Zeugin E. eine Multimorbidität vorliege, die eine kurzfristige Vernehmung erfordere, und dass die Zeugin nicht mehr reisefähig sei. Der Gesundheitszustand und die Reisefähigkeit der Zeugin seien von einem Amtsarzt oder einem unabhängigen Arzt als Sachverständigem zu überprüfen. Falls dennoch ein selbständiges Beweisverfahren durchgeführt werde, seien urlaubsbedingt erst Termine ab der 34. Kalenderwoche möglich.

3

II.

Der Antrag der Kläger auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens hat Erfolg.

4

Gemäß den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, 98 VwGO sowie 485 Abs. 1, 486 Abs. 1 und 487 ZPO ist es auch in Rechtssachen, die in die Zuständigkeit des Flurbereinigungsgerichts fallen, statthaft, während eines anhängigen Hauptsacheverfahrens bei dem Prozessgericht zu beantragen, in einem selbständigen Beweisverfahren eine Beweiserhebung durchzuführen.

5

Der vorliegende Antrag der Kläger auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens genügt in seiner geänderten Fassung (Schriftsatz vom 27. Mai 2010, Bl. 61 f. GA) den gesetzlichen Anforderungen.

6

Er erfüllt nunmehr insbesondere die Voraussetzungen des § 487 Nr. 2 ZPO (i.V.m. den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG und 98 VwGO).

7

Durch die eidesstattliche Versicherung des Arztes H. I. vom 8. April 2010 ist zudem hinreichend glaubhaft gemacht (§§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, 98 VwGO, 487 Nr. 4 ZPO, 173 Satz 1 VwGO, 294 Abs. 1 ZPO), dass aufgrund des Lebensalters (von fast 79 Jahren) und des Gesundheitszustandes der Zeugin D. E. mit weiterem Zeitablauf zu besorgen ist, dass im Sinne des § 485 Abs. 1 ZPO "die Benutzung" des Beweismittels erschwert wird (vgl. OLG Nürnberg, Beschl. v. 26. 2. 1997 - 10 WF 275/97 -, MDR 1997, 594). In Anbetracht der Laufzeiten der Prozesse vor dem Flurbereinigungsgericht können die Kläger namentlich nicht darauf verwiesen werden, dass sich die Zeugin in einer mündlichen Verhandlung des Verfahrens zur Hauptsache vernehmen lasse.

8

Zu Unrecht stellt die Beklagte auch im Übrigen die Erforderlichkeit des selbständigen Beweisverfahrens in Abrede. Wird ein entsprechender Antrag zu Recht auf § 485 Abs. 1 ZPO (i.V.m. den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG und 98 VwGO) gestützt, findet keine strenge Prüfung der Erheblichkeit der Beweistatsachen statt (Lang, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], VwGO, 3. Aufl. 2010, § 98 Rn. 292; Rudisile, in: Schoch u.a., VwGO, Stand: 1. 7. 2009, § 98 [§ 485 ZPO] Rn. 267; VGH BW, Beschl. v. 3. 7. 1995 - 8 S 1407/95 - NVwZ-RR 1996, 125 [126]; vgl. auch BGH, Beschl. v. 4. 11. 1999 - VII ZB 19/99 - NJW 2000, 960 [961], - tendenziell a. A. Geiger, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 98 Rn. 39). Erforderlich ist vielmehr lediglich ein Rechtsschutzbedürfnis (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 98 Rn. 26), an dem es allerdings fehlt, wenn die Beweisfrage für das bereits anhängige Hauptsacheverfahren offenkundig und nach jeder Betrachtungsweise unerheblich ist (OVG Rhld-Pf, Beschl. v. 22. 9. 2005 - 1 B 11311/05 -, NVwZ-RR 2006, 853). Letzteres ist hier aber nicht zu erkennen.

9

Es mag zwar durchaus zweifelhaft sein, ob sich die Planvereinbarung vom 1. August 2000 im Sinne der Kläger auslegen lässt und welche rechtliche Bedeutung dabei den behaupteten Umständen zukommt, die die Kläger als Geschäftsgrundlage betrachten. Denn eine Planvereinbarung stellt einen schriftlichen öffentlich-rechtlichen Vertrag dar, aus dem sich alle wesentlichen Vertragsvereinbarungen ergeben müssen (BVerwG, Urt. v. 29. 4. 1998 - BVerwG 11 C 6.97 -, RzF - 12 - zu § 139 Abs. 1 FlurbG). Das Schriftformerfordernis besagt aber nicht, dass sich die Gegenleistung nach ihrem Gegenstand, Umfang und Zweck eindeutig und zweifelsfrei allein aus dem Wortlaut der Vertragsurkunde ergeben muss. Eine unklare oder mehrdeutige Formulierung des Vertragstextes schadet nicht, wenn die sich daraus ergebenden Zweifel im Wege der Auslegung, zu der auch außerhalb der Vertragsurkunde liegende Umstände herangezogen werden dürfen, behoben werden können. Aus dem Inhalt der Urkunde selbst muss sich [nur] ein zureichender Anhaltspunkt für die Auslegung ergeben (BVerwG, Urt. v. 15. 12. 1989 - BVerwG 7 C 6.88 -, BVerwGE 84, 236 [244]). Als ein solcher Anhaltspunkt kommt hier das Wort "mehr" in der Formulierung der Nr. 8) der Planvereinbarung vom 1. August 2000 in Betracht. Vor diesem rechtlichen Hintergrund ist nicht davon auszugehen, dass die mit dem Schriftsatz vom 27. Mai 2010 behaupteten (Hilfs-)Beweistatsachen offenkundig und nach jeder Betrachtungsweise unerheblich sind.

10

Soweit die Beklagte mit ihren Schriftsätzen vom 10. Juni 2010 (Bl. 77 ff. GA) und 5. Juli 2010 Argumente und Indizien vorbringt, die gegen die Richtigkeit und Erheblichkeit dieser unter Beweis gestellten Tatsachenbehauptungen der Kläger sprechen, ist ihr Vorbringen nicht geeignet, die Erforderlichkeit der Durchführung schon des selbständigen Beweisverfahrens in Frage zu stellen. Denn dieses Verfahren dient nur der Sicherung von Beweisen, deren Würdigung gemäß den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO allein dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleibt, in dem die selbständige Beweiserhebung einer Beweisaufnahme vor dem Prozessgericht gleich steht (§§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, 98 VwGO, 493 Abs. 1 ZPO).

11

Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, gemäß den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG, 98 VwGO, 492 Abs. 1 ZPO, 96 Abs. 2 VwGO die Aufnahme des Zeugenbeweises dem Berichterstatter als beauftragtem Richter zu übertragen. Er erachtet den vorliegenden Fall unter Heranziehung der Kriterien des § 87 Abs. 3 Satz 2 VwGO für hierzu geeignet, weil von vornherein anzunehmen ist, dass das Flurbereinigungsgericht das Beweisergebnis auch ohne unmittelbaren Eindruck von dem Verlauf der Beweisaufnahme sachgemäß zu würdigen vermag. Denn es wird sich seine aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung gewonnene Überzeugung auch ohne einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von einzelnen festzustellenden Tatsachen, die Gegenstand der Beweisaufnahme durch den Berichterstatter bilden, verschaffen können (vgl. BVerwG, Beschl. v. 21. 4. 1994 - BVerwG 1 B 14.94 -, NJW 1994, 1975 [BVerwG 21.04.1994 - 1 B 14/94]). Außerdem hält es der Senat für ausreichend glaubhaft gemacht, dass die Zeugin nicht reisefähig und daher ein sogenannter "Haustermin" angezeigt ist, dessen Wahrnehmung durch den gesamten Spruchkörper mit einen erheblichen Aufwand verbunden wäre.

12

Die Beklagte - als Behörde mit verschiedenen Mitarbeitern - darf nicht damit rechnen, dass von einer zeitnahen Terminierung im Hinblick darauf abgesehen wird, dass sie angibt, urlaubsbedingt an einer Beweiserhebung vor der 34. Kalenderwoche nicht teilnehmen zu können. Denn aus der Regelung des 491 Abs. 1 ZPO (i.V.m. den §§ 138 Abs. 1 Satz 2 FlurbG und 98 VwGO) kann geschlossen werden, dass die zeitnahe Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens grundsätzlich Vorrang gegenüber den Terminierungswünschen des Prozessgegners genießt.