Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.08.2023, Az.: 13 TaBV 46/22

Wirksamkeit einer Betriebsratswahl hinsichtlich Verstoßes gegen wesentliche Wahlvorschriften

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
30.08.2023
Aktenzeichen
13 TaBV 46/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 55141
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Braunschweig - 13.07.2022 - AZ: 3 BV 5/22

Redaktioneller Leitsatz

§ 24 Abs. 2 WO BetrVG eröffnet durch das Tatbestandsmerkmal "voraussichtlich" einen weiten Anwendungsbereich der Norm. Diese stellt nicht auf die positive Kenntnis des Wahlvorstandes von individuellen Umständen ab, sondern auf die Kenntnis davon, dass ein Arbeitnehmer nach der Eigenart seines Beschäftigungsverhältnisses einer Gruppe von Arbeitnehmern angehört, bei denen die naheliegende Möglichkeit besteht, dass sie zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Betrieb anwesend sein werden. Werden die Wahlunterlagen übersandt, muss dies allerdings so zeitig im Vorfeld der Wahl erfolgen, dass den Wahlberechtigten eine Entscheidung über die aktive Wahlteilnahme noch möglich ist.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Beschwerde des Betriebsrats (Beteiligter zu 10) und der Arbeitgeberin (Beteiligte zu 11) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 13.07.2022 (3 BV 5/22) abgeändert.

    Der Antrag der Antragsteller (Beteiligte zu 1 - 9) wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

1

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl.

2

Die zu 1 bis 9 beteiligten Antragsteller sind am Standort W-Stadt beschäftigte Mitarbeiter der zu 11 beteiligten Arbeitgeberin. Sie kandidierten bei der im Zeitraum vom 14.-18.03.2022 durchgeführten Betriebsratswahl, bei der insgesamt 8 Listen zur Wahl standen, für die Listen 2, 6 bzw. 7. Der Beteiligte zu 10 ist der aus der Wahl hervorgegangene Betriebsrat.

3

Nach der am 11.11.2021 betrieblich ausgehängten Bekanntmachung des Wahlausschreibens waren 67.341 Arbeitnehmer zur Wahl berechtigt, bei der ein 73-köpfiger Betriebsrat gewählt werden sollte.

4

Die Arbeitgeberin ist eine Automobilherstellerin, bei der zwischen der Produktion (sogen. direkter Bereich) und der Verwaltung (sogen. indirekter Bereich) unterschieden wird. Zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des Wahlausschreibens galt infolge der Corona-Pandemie die betriebliche Regelung, dass die Möglichkeit zur mobilen Arbeit so weit wie möglich genutzt werden soll. Voraussetzung für mobile Arbeit war die Einbindung der Beschäftigten auch zu Hause in die elektronischen Kommunikationssysteme der Arbeitgeberin, insbesondere der Zugang zum unternehmensinternen Intranet und die Erreichbarkeit per E-Mail. Von der Möglichkeit mobiler Arbeit ausgenommen waren Arbeitnehmer deren Eigenart der Tätigkeit eine ausschließliche Anwesenheit im Betrieb erfordert, wie z. B. Mitarbeiter der Produktion und der Logistik.

5

Am Tag der Bekanntmachung des Wahlausschreibens durch Aushang informierten die Wahlvorstände sämtlicher Standorte der Arbeitgeberin per E-Mail über die Betriebsratswahlen 2022 und teilten den Beschäftigten unter Übersendung eines entsprechenden Links mit, dass aufgrund der Corona bedingten vollständigen oder nur zeitweisen Anwesenheit vieler Beschäftigter im Betrieb zusätzliche Informationsseiten zu betrieblichen Wahlen im Intranet eingerichtet würden, auf denen sich Beschäftigte ergänzend über Bekanntmachungen zum Wahlverfahren ihres jeweiligen Standortes informieren könnten.

6

Am 16.11.2021 ordnete die Arbeitgeberin für die Zeit ab 22.11.2021 vor dem Hintergrund absehbarer verschärfter gesetzlicher Regelungen zum Corona-Schutz an, dass Beschäftigte, die mobil arbeiten können und deren Anwesenheit im Betrieb nicht zwingend erforderlich ist (d. h. nicht business essential ist), "bis auf weiteres" mobil von zu Hause arbeiten müssen.

7

Nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz wegen der Omikron-Variante des Corona-Virus weitere Maßnahmen beschlossen hatte, ordnete die Arbeitgeberin am 14.01.2022 die verpflichtende maximale Nutzung der mobilen Arbeit "vorerst analog der aktuell gültigen Corona-Arbeitsschutzverordnung bis zum 19.03.2022" an.

8

Am 18.01.2022 beschloss der neunköpfige Wahlvorstand daraufhin einstimmig, dass allen Beschäftigten, die grundsätzlich mobil arbeiten können, und dies auch bereits seit der Anweisung vom 16.11.2021 ganz oder teilweise getan haben, Briefwahlunterlagen ohne gesondertes Verlangen von Amts wegen zugesendet werden. Infolgedessen erhielten ca. 26.000 vorrangig im sogen. indirekten Bereich beschäftigte Wahlberechtigte Briefwahlunterlagen.

9

Nachdem Arbeitgeberin und Betriebsrat am 22.02.2022 und 01.03.2022 unter Hinweis auf eine gestörte Teileversorgung infolge der Corona Pandemie und des Ukrainekrieges einen anteiligen oder vollständigen Arbeitsausfall in bestimmten Unternehmensbereichen - auch für die Zeit der Stimmabgabe - angekündigt hatten, beschloss der Wahlvorstand alle von Kurzarbeit Betroffenen, die ihm durch Kostenstellen oder Abteilungskürzel (OE) genannt werden, der Briefwahl zuzuordnen

10

In der Zeit vom 08. bis 11.03.2022 erfolgten Nachmeldungen von kurzarbeitsbetroffenen Arbeitnehmern beim Wahlvorstand.

11

Insgesamt erhielten ca. 33.000 von Kurzarbeit betroffene Produktionsmitarbeiter ohne deren ausdrückliches Verlangen Briefwahlunterlagen zugesandt.

12

Zahlreiche der insgesamt zurückgesandten etwa 35.000 Briefwahlunterlagen gingen in der zentralen Poststelle der Arbeitgeberin ein. Die Poststelle besteht aus einem Empfangs- und einem dahinterliegenden abgetrennten Sortierbereich, dessen Tür von einem Unbefugten nicht geöffnet werden kann. Die Poststelle sortierte die an den Wahlvorstand adressierte Post einschließlich der zurückgesandten Freiumschläge - etwa 700 bis 3.000 Briefe täglich - aus und sammelte sie in offenen Kisten zu je etwa 300 Briefen, ohne diese zu zählen oder zu registrieren. In der Regel holte ein Wahlvorstandsmitglied, das nicht Mitglied der Liste 4 (IG Metall) war, die Postboxen aus der Poststelle ab und verbrachte sie in das Wahlvorstandsbüro. Nicht mit der Post zurückgesandte Freiumschläge wurden direkt im Büro des Wahlvorstandes abgegeben, das montags bis freitags in der Regel von ca. 8: 00 Uhr bis 17: 00 Uhr besetzt war. Darüber hinaus wurden Briefwahlrückläufer auch in den Briefkasten vor dem Wahlvorstandsbüro eingeworfen oder beim Werkschutz abgegeben.

13

Das Wahlvorstandsbüro bestand nach näherer Maßgabe des zur Akte gereichten Grundrisses (Anlage Bl. 616 d. A.) aus einem durch eine abschließbare Doppeltür zu betretenden Flur, von welchem links und rechts insgesamt 7 Räume erreicht werden konnten. In einem dieser Räume registrierte ein Wahlvorstandsmitglied die zurückgesandten Freiumschläge. Es bestand die Möglichkeit, diesen Raum abzuschließen, wenn das mit der Registrierung befasste Wahlvorstandsmitglied den Raum verließ.

14

Kurz vor Beendigung der täglichen Arbeitszeit verbrachten zwei Wahlvorstandsmitglieder die Kisten in einen Raum im Büro des Wahlvorstandes, wo sie in zwei Schiebetheken deponiert wurden. Die Griffe der Schiebetüren wurden im Anschluss mit einer Stahlkette und zwei verschiedenen Vorhängeschlössern gesichert, wobei die beiden Schlüssel an die unterschiedlichen im Betrieb vertretenen Gewerkschaftsmitglieder des Wahlvorstandes aufgeteilt wurden.

15

Im Vorfeld der Wahl wurde in großem Stil betriebliche Wahlwerbung auf einer Fläche von mehr als 6 km2 betrieben. Im Verlauf der Wahl wurden in der Zeit vom 21.01.2022 bis 13.03.2022 mehrfach Poster, Wahlplakate und Flyer der Listen 1, 2, 3 und 8 zerstört, überklebt und entfernt. Jedenfalls 10 Vorfälle betreffend die Listen 2, 3, 4 und 8 wurden dem Werkschutz gemeldet. Die Arbeitgeberin stockte die Zahl der durch den Werkschutz abgehaltenen Streifen nach der Meldung entsprechender Vorfälle sowohl in der Tages-als auch der Nachtzeit im gesamten Werk auf. Insbesondere am 15., 16. und 17.03.2022 setzte die Arbeitgeberin im Werkschutz gezielt Streifen im gesamten Werk zur Verhinderung weiterer Vorfälle ein. Einzelne Plakate entfernte der Werkschutz selbst, wenn diese Verkehrsschilder verdeckten.

16

Im Verlauf der digitalen Betriebsversammlung vom 16.02.2022 erhielt der Antragsteller zu 6 als 27. Redner die Gelegenheit, sich zu äußern. Mindestens 45 Sekunden der auf fünf Minuten festgelegten Redezeit wurde er durch den stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden unterbrochen. Einzelheiten sind streitig. Der Vertrauenskörperleiter der IG-Metall erhielt sieben Minuten Redezeit.

17

Im Intranet der Arbeitgeberin hat der Betriebsrat eine eigene Seite/Homepage. Mit E-Mail vom 22.02.2022 teilte die Arbeitgeberin den Vertretern der Wahlvorschlagslisten mit, dass sich die Listen im Intranet den Beschäftigten vorstellen und hierzu bis zu 3 weiterführende externe Links zu ihrer Wahlwerbung eintragen lassen könnten.

18

Bei der Betriebsratswahl gaben 39.498 Mitarbeiter ihre Stimme ab, davon etwa 35.000 Briefwähler. Nach der Bekanntmachung des Wahlergebnisses mit Aushang vom 28.03.2022 entfielen 33.642 Stimmen, entsprechend 85,5 % der abgegebenen Stimmen und 66 Sitze, auf die Liste 4.

19

Mit dem am 11.04.2022 bei dem Arbeitsgericht eingereichten Antrag haben die Antragsteller die Unwirksamkeit der Wahl geltend gemacht.

20

Die Antragsteller haben vorgetragen, die Anordnung von Briefwahl für alle Beschäftigten im Homeoffice sei rechtswidrig gewesen. Das mobile Arbeiten während der Corona Pandemie sei im Betrieb der Arbeitgeberin flexibel ausgestaltet gewesen. Nur bei im Einzelfall konkret absehbarer häuslicher Arbeit im Wahlzeitraum sei die Anordnung von Briefwahl gesetzeskonform möglich gewesen. Der Wahlvorstand habe nicht berücksichtigt, ob mobil Beschäftigte ihre Tätigkeiten während des Wahlzeitraums teilweise auch im Betrieb verrichten und deshalb vorrangig dort persönlich ihre Stimme abgeben müssten. Die Wahlberechtigten seien nicht ausreichend auf den Vorrang der Urnenwahl verwiesen worden.

21

Dementsprechend sei auch die pauschale Anordnung der Briefwahl für alle von Kurzarbeit betroffenen Mitarbeiter unzulässig gewesen. Soweit für den Wahlzeitraum keine Kurzarbeit Null angeordnet worden sei, seien die Arbeitnehmer nicht an ihrer Stimmabgabe im Betrieb gehindert gewesen.

22

Aufgrund der zeitversetzten Versendung hätten viele Wahlberechtigte die Briefwahlunterlagen verspätet oder gar nicht erhalten. Etwa 700 Wahlberechtigte, insbesondere Langzeiterkrankte, hätten die Wahlunterlagen deswegen erneut anfordern müssen. Dies habe zur Folge gehabt, dass Wahlberechtigte die vollständigen Wahlunterlagen erst am 15.03.2022 erhalten hätten.

23

Sowohl der Wahlumschlag als auch der Freiumschlag seien mit einer handelsüblichen Taschenlampe durchleuchtbar gewesen. Angesichts der Anordnung der Listen auf dem Stimmzettel sei so erkennbar gewesen, ob bei den Listen 2, 3, 6 oder 7 ein Kreuz gemacht worden sei. Dies habe die Möglichkeit eröffnet, zwischen dem Eingang der Wahlunterlagen in der Poststelle bis zur Öffnung der Freiumschläge Briefwahlunterlagen zu beseitigen, welche das Kreuz für eine bestimmte Liste enthalten hätten.

24

Auch habe der Wahlvorstand den Briefkasten vor seinem Büro nicht regelmäßig geleert. Briefwahlunterlagen seien herausgequollen und hätten entwendet werden können.

25

Ferner liege eine Ungleichbehandlung bei der Wahlwerbung bzw. eine Wahlbehinderung vor.

26

Wahlplakate der Listen 1, 2, 6 und 8 seien systematisch entfernt, zerstört oder durch Plakate der Liste 4 überklebt bzw. ersetzt worden, insbesondere ca. 100 von 120 Großplakaten der Liste 2 in der Nacht vom 10. auf den 11.03.2022, die aufgrund der zeitlichen Nähe zur Wahl nicht hätten nachplakatiert werden können. Von 2.500 Wahlplakaten DIN A3 der Liste 2 seien ca. 80% zerstört oder entwendet worden. Diese seien nachplakatiert worden. Die Zerstörungen seien trotz entsprechender Meldungen nicht effektiv unterbunden worden.

27

Nur die Liste 4 der IG Metall habe das Intranet der Arbeitgeberin im Rahmen des Betriebsratswahlkampfes nutzen können. Insbesondere habe diese im Intranet eine eigene Homepage betreiben können. Alle anderen Listen hätten das Intranet nicht in der gleichen Weise nutzen können.

28

Die dem Antragsteller zu 6 während der digitalen Betriebsversammlung tatsächlich gewährte Redezeit habe 3: 45 Minuten betragen. Die Verkürzung stelle einen Verstoß gegen die Gleichheit im Wahlkampf dar.

29

Schließlich seien Wahlbewerber der Listen 2 und 8 durch Äußerungen von Mitgliedern der Liste 4 im Wahlkampf diffamiert worden.

30

Die Antragsteller haben beantragt,

31

die Betriebsratswahl im V in W-Stadt vom 14.03.2022 bis zum 18.03.2022 wird für unwirksam erklärt.

32

Betriebsrat und Arbeitgeberin haben beantragt,

33

den Antrag zurückzuweisen.

34

Betriebsrat und Arbeitgeberin haben übereinstimmend geltend gemacht, durch das Überkleben, Zerstören und Entfernen von Wahlwerbemitteln sei es zu keiner Wahlbeeinflussung gekommen. In Relation zu dem Umfang der georderten Werbemittel sei nur ein kleiner Teil von diesen unlauteren Eingriffen betroffen gewesen. Außerdem könnten die Vorfälle weder dem Betriebsrat noch der Arbeitgeberin angelastet werden.

35

Allen Listen sei mit der E-Mail vom 22.02.2022 die gleiche Möglichkeit zur Wahlwerbung im Intranet der Arbeitgeberin eingeräumt worden.

36

Die Arbeitgeberin hat überdies vorgetragen, bei der Informationsseite des Betriebsrats im Intranet handele es sich nicht um eine Informationsseite der IG-Metall.

37

Der Betriebsrat hat ferner geltend gemacht, der Wahlvorstand habe die Mitarbeiter, an die Briefwahlunterlagen gesandt worden seien, per Mail auf die Möglichkeit der Urnenwahl hingewiesen.

38

Im Anschluss an den Beschluss des Wahlvorstandes vom 18.01.2022 habe dieser am 24.01.2022 die Führungskräfte aufgefordert, bis 28.01.2022, später verlängert bis 31.01.2022, alle Beschäftigten zu melden, für die eine Anwesenheit an den Wahltagen geplant gewesen sei. Auf Basis der erhaltenen Informationen hätten Wahlvorstand und Wahlhelfer vom 07.02.2022 bis 11.02.2022 die Briefwahlunterlagen für die von mobiler Arbeit betroffenen Arbeitnehmer verpackt. Am 14. und 15.02.2022 habe der Wahlvorstand deren Versendung veranlasst. Bei den Aktualisierungen der Wählerliste im Februar und im März sei erneut geprüft worden, ob Wahlberechtigte hinzugekommen seien, die ebenfalls aufgrund maximaler Nutzung mobiler Arbeit Briefwahlunterlagen von Amts wegen hätten erhalten müssen.

39

Die zentrale Poststelle der Arbeitgeberin habe den Wahlvorstand informiert, sobald die dort eingegangenen Sendungen fertig sortiert worden seien. Sodann habe das betreffende Wahlvorstandsmitglied zwischen 09.00 Uhr und 11.00 Uhr die aussortierte Post an den Wahlvorstand nebst Freiumschlägen in den Postboxen dort abgeholt.

40

Das Arbeitsgericht hat mit einem der Arbeitgeberin am 21.07.2022 und dem Betriebsrat am 20.07.2022 zugestellten Beschluss vom 13.07.2022 (Bl. 310 - 322 d.A.), auf den wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie seiner Würdigung durch das Arbeitsgericht verwiesen wird, dem Antrag im Wesentlichen mit der Begründung stattgegeben, der Wahlvorstand habe gegen § 24 Abs. 2 WO BetrVG verstoßen, indem er die Briefwahlunterlagen für die in mobiler Arbeit und für die in Kurzarbeit Beschäftigten verspätet versandt habe. Aufgrund der Anordnung der Arbeitgeberin vom 16.11.2021 und der bis dahin gültigen Anordnungen zur mobilen Arbeit sei davon auszugehen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl mobil Beschäftigter während des gesamten Wahlverfahrens betriebsabwesend und nicht sichergestellt gewesen sei, dass diesen der Aushang des Wahlausschreibens während der normalen Arbeitszeiten zugänglich gewesen sei. Diesen habe das Wahlausschreiben daher so zeitig übersendet werden müssen, dass es ihnen eine Entscheidung über die aktive Wahlteilnahme ermöglicht hätte. Die Übersendung des Wahlausschreibens mit den Vorschlagslisten sei aber erst mit den Briefwahlunterlagen zu einem Zeitpunkt erfolgt, als die Fristen für die Einreichung von Wahlvorschlägen bereits abgelaufen und eine aktive Teilnahme an der Betriebsratswahl nicht mehr möglich gewesen sei. Die Bekanntmachung im Intranet sei unzureichend, weil allein maßgeblich die Aushänge gewesen seien. Die Mitarbeiter, für die Kurzarbeit Null gegolten habe, hätten die Briefwahlunterlagen ebenfalls zu spät erhalten. Unter Berücksichtigung der Brieflaufzeit bei der Deutschen Post AG hätten die am 07., 08. sowie 11.03.2022 versandten Unterlagen die betreffenden Arbeitnehmer nicht mehr eine Woche vor Beginn der Stimmabgabe am 14.03.2022 gemäß § 10 Abs. 2 WO BetrVG erreicht. Darüberhinaus habe der Wahlvorstand die Briefwahlunterlagen nach ihrer Rücksendung nicht in einer Weise verwahrt, die den Umständen nach nicht gänzlich unwahrscheinliche Manipulationen ausgeschlossen habe. Gegen diese Entscheidung richtet sich die am 10.08.2022 eingelegte und am 19.10.2022 innerhalb verlängerter Frist begründete Beschwerde des Betriebsrats sowie die am 09.08.2022 eingelegte und am 02.11.2022 innerhalb verlängerter Frist begründete Beschwerde der Arbeitgeberin.

41

Betriebsrat und Arbeitgeberin tragen vor, in Bezug auf die mobil Beschäftigten hätten zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des Wahlausschreibens die Voraussetzungen für die Briefwahl noch nicht vorgelegen, weshalb auch keine Verpflichtung bestanden habe, das Wahlausschreiben den betroffenen Personen postalisch oder elektronisch zu übermitteln. Die Voraussetzungen hätten erst am 14.01.2022 mit der Anordnung der verpflichtenden maximalen Nutzung der mobilen Arbeit über den Zeitraum der Stimmabgabe hinaus vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt sei eine gesonderte Übersendung des Wahlausschreibens vor Übersendung der Briefwahlunterlagen nicht mehr notwendig oder zweckmäßig gewesen, da die Fristen für Einsprüche gegen die Wählerliste und zur Einreichung von Wahlvorschlägen bereits abgelaufen gewesen seien. Die die als gültig anerkannten Wahlvorschläge seien - dies ist unstreitig - bereits am 09.12.2021 durch Aushang bekannt gemacht worden.

42

Unabhängig davon habe der Wahlvorstand durch die ergänzende Bekanntmachung des Wahlausschreibens mittels der im Betrieb vorhandenen IuK-Technik alle Beschäftigten erreicht, die die Bekanntmachungen aufgrund freiwilliger mobiler Arbeit nicht im Betrieb hätten wahrnehmen können, insbesondere durch die Information aller Beschäftigten mittels E-Mail (Personal Telegramm) vom 11.11.2021, durch zusätzliche Information auf der Nachrichtenstartseite im Intranet sowie in der 360 Grad Mitarbeiter-App per Push-Meldung. Sowohl im Personal Telegramm als auch auf der Nachrichtenstartseite im Intranet und in der App sei das Wahlausschreiben verlinkt gewesen. Über den Link sei man auf die Intranetseite "Betriebliche Wahlen" gelangt. Dort habe man seinen Standort auswählen und auf der jeweils ersten Seite alle Bekanntmachungen des Wahlvorstands finden können. Dort habe sich auch das Wahlausschreiben befunden. Diese Seiten seien daneben auch direkt über das Intranet erreichbar gewesen.

43

Auch für die in Kurzarbeit Beschäftigten seien die Briefwahlunterlagen nicht verspätet versandt worden. Kurzarbeit habe den direkten Bereich, mithin die Produktionsmitarbeiter betroffen, die von allen Wahlaushängen direkt hätten Kenntnis nehmen können, von dem Aushang "B2 Bekanntmachung Wahlvorschläge" somit vom 09.12.2021 bis (mindestens) zum 04.03.2022.

44

Der Wahlvorstand habe erst am 01.03.2022 sichere Kenntnis von der Anordnung der Kurzarbeit gehabt. Daraufhin seien vom 02.03. bis 05.03.2022 Briefe mit Briefwahlunterlagen an die Beschäftigten in Kurzarbeit versandt worden. Am 10.03. sei die Nachmeldung von 94 Beschäftigten und am 11.03.2022 die Nachmeldung von weiteren 314 Beschäftigten erfolgt, deren Unterlagen jeweils noch am Meldetag versandt worden seien.

45

In Bezug auf die Behandlung der Briefwahlrückläufer könne dem Wahlvorstand nicht ohne jegliches Indiz Wahlmanipulation vorgeworfen werden. Der Raum in dem die Registrierung der Briefwahlrückläufer erfolgt sei, sei stets personell besetzt oder abgeschlossen gewesen.

46

Betriebsrat und Arbeitgeberin beantragen,

47
48

Die Antragsteller beantragen,

49

die Beschwerden zurückzuweisen.

50

Die Antragsteller verteidigen den angefochtenen Beschluss als zutreffend und machen insbesondere geltend, ausreichend für die Annahme eines Wahlverfahrensverstoßes sei bereits die Möglichkeit einer Wahlmanipulation. Die Entfernung von der Poststelle in das Wahlvorstandsbüro habe mindestens 1.850 Meter quer durch das Werk der Arbeitgeberin betragen. Nach eigenem Vortrag des Betriebsrats in der Anhörung vor dem Arbeitsgericht stehe fest, dass die Freiumschläge am Tag des Eingangs bei dem Wahlvorstandsbüro unverschlossen zugänglich gewesen seien.

51

Darüberhinaus habe der Wahlvorstand die Betriebsratsgröße fehlerhaft auf 73 Mitglieder festgelegt. Aus der im Wahlausschreiben angegebenen Zahl wahlberechtigter Arbeitnehmer folge gesetzlich ein zu wählendes Betriebsratsgremium aus insgesamt 75 Mitgliedern.

52

Betriebsrat und Arbeitgeberin haben hierzu vorgetragen, am Stichtag 30.09.2021 seien insgesamt 67.208 Arbeitnehmer/innen im Werk beschäftigt gewesen. Aufgrund bereits konkret eingeleiteter und umgesetzter Maßnahmen sei die voraussichtliche Entwicklung bis einschließlich 31.12.2023 berücksichtigt worden. Danach ergäben sich nach näherer Maßgabe der Aufstellung im Schriftsatz der Arbeitgeberin vom 06.03.2023 voraussichtlich 1.894 Mitarbeiter weniger, als am 30.09.2021. Der Wahlvorstand habe die ihm gemeldeten Daten unter Heranziehung der ihm bekannten Informationen und betrieblichen Vereinbarungen auf Plausibilität geprüft und für nachvollziehbar befunden.

53

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens wird auf die im Beschwerdeverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll verwiesen. Die Kammer hat die Wahlvorstandsvorsitzende Lind informatorisch befragt und darüberhinaus Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin L. und des Zeugen N. mit dem aus der Sitzungsniederschrift vom 30.08.2023 (Bl. 618 - 626 d. A.) ersichtlichen Ergebnis.

II.

54

Die gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG statthaften Beschwerden des Betriebsrats und der Arbeitgeberin sind form- und fristgerecht im Sinne der §§ 87 Abs. 2, 66, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt und begründet worden und auch im Übrigen zulässig. Sie sind begründet. Der gemäß § 19 Abs. 1 BetrVG statthafte und gemäß § 2 a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, §§ 80 ff ArbGG richtigerweise im Beschlussverfahren geltend gemachte Antrag ist unbegründet. Zwar sind die formellen Anfechtungsvoraussetzungen gegeben, denn die neun Antragsteller sind unstreitig wahlberechtigte Arbeitnehmer der zu 11 beteiligten Arbeitgeberin und daher gemäß § 19 Abs. 2 S. 1 1. Var. BetrVG eine ausreichende Anzahl anfechtungsberechtigter Personen. Auch ist die Anfechtungsfrist gem. § 19 Abs. 2 S. 2 BetrVG gewahrt, denn mit dem am 11.04.2022 und damit innerhalb von 2 Wochen ab Bekanntgabe des Wahlergebnisses am 28.03.2022 bei dem Arbeitsgericht eingegangen Antrag haben die Antragsteller Tatsachen vorgetragen, die einen Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften möglich erscheinen lassen. Es fehlt jedoch an der materiellen Anfechtungsvoraussetzung, einem Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrVG.

1.

55

Durch die unaufgeforderte Übersendung von Briefwahlunterlagen an die in mobiler Arbeit sowie die in Kurzarbeit beschäftigten Arbeitnehmer hat der Wahlvorstand nicht gegen § 24 Abs. 2 WO BetrVG verstoßen.

a)

56

§ 24 Abs. 2 WO BetrVG eröffnet durch das Tatbestandsmerkmal "voraussichtlich" eine gewisse Spannbreite in der Anwendung der Norm. Eine enge Auslegung dieser Vorschrift verbietet sich, weil sie bei Arbeitnehmern zur Beschneidung der Wahlmöglichkeit und damit zum Verlust des Wahlrechts führen kann, während eine großzügige Auslegung lediglich eine Ausübungsmodalität des Wahlrechts beträfe. Die Möglichkeit der Teilnahme an der Wahl überhaupt ist im Verhältnis zum Vorrang der persönlichen Stimmabgabe das schützenswertere Rechtsgut. Die Vorschriften über die schriftliche Stimmabgabe dienen der Erleichterung der Abstimmungsbeteiligung für die Arbeitnehmer, die verhindert sind, ihre Stimme persönlich abzugeben. Dabei stellt § 24 Abs. 2 WO BetrVG nicht auf die positive Kenntnis des Wahlvorstandes von individuellen Umständen ab, sondern auf die Kenntnis davon, dass ein Arbeitnehmer nach der Eigenart seines Beschäftigungsverhältnisses zu einer Gruppe von Arbeitnehmern gehört, bei denen die ernsthaft in Betracht zu ziehende Möglichkeit besteht, dass sie zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Betrieb anwesend sein werden (BAG 20.02.1991 - 7 ABR 85/89 -, juris, Rn. 29f zu § 19 Abs. 2 3. WOMitbestG).

b)

57

Danach ist der Wahlvorstand am 18.01.2022 mit Recht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG in Bezug auf alle Beschäftigten ausgegangen, die mobil arbeiten können und deren Anwesenheit im Betrieb nicht zwingend erforderlich ist. In Tele- und Heimarbeit Beschäftigte sind beispielhaft im Rahmen der Vorschrift aufgeführt. Hierzu gehören nicht nur diejenigen, die regelmäßig mobil oder im Homeoffice arbeiten, sondern auch Arbeitnehmer, die z.B. aufgrund einer Pandemiesituation vorübergehend von zu Hause aus (Homeoffice) arbeiten müssen, wenn zu erwarten ist, dass diese vorübergehende Verpflichtung auch über den Zeitraum der Stimmabgabe andauern wird (vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, WO § 24 Rn. 10, m.w.N.). Aufgrund der verpflichtenden Anordnung mobiler Arbeit durch die Arbeitgeberin vom 14.01.2022 war zu erwarten, dass diese Personengruppe aufgrund der Eigenart des Beschäftigungsverhältnisses (auch) zum Zeitpunkt der Wahl vom 14. - 18.03.2022 voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend sein wird. Die Anordnung war ausdrücklich "vorerst analog der aktuell gültigen Corona-Arbeitsschutzverordnung bis zum 19. März 2022" befristet. Selbst bei denjenigen Beschäftigten, die seit der Anweisung vom 16.11.2021 teilweise mobil und teilweise im Betrieb gearbeitet haben, musste der Wahlvorstand am 18.01.2022 von einer voraussichtlichen Abwesenheit im Wahlzeitraum ausgehen. Denn eine Arbeit im Betrieb stand nicht im Belieben dieser Personen, sondern durfte nur ausnahmsweise in dem Umfang erfolgen, wie dies aufgrund der wahrgenommenen Funktion bzw. Aufgabe unerlässlich war. Das Vorliegen dieses Ausnahmegrundes ist ausweislich des Wahlvorstandbeschlusses regelmäßig nicht frühzeitig feststellbar, da die zwingend erforderliche Anwesenheit im Betrieb nicht personenbezogen, sondern funktions- und aufgabenbezogen ist. Dies ist im Verfahren unstreitig geblieben. Aufgrund des Tatbestandsmerkmals "voraussichtlich nicht im Betrieb anwesend" ist § 24 Abs. 2 WO aber für den dort genannten Personenkreis im Zweifel stets anzuwenden, denn die Möglichkeit der Teilnahme an der Wahl überhaupt ist jedenfalls im Verhältnis zum Vorrang der persönlichen Stimmabgabe das schützenswertere Rechtsgut (vgl. BAG 20.02.1991, a.a.O.; Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, WO § 24 Rn. 16).

58

Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Klärung, ob der Wahlvorstand am 24.01.2022 die Führungskräfte aufgefordert hat, bis 28.01.2022, später verlängert bis 31.01.2022, alle Beschäftigten zu melden, für die eine Anwesenheit an den Wahltagen geplant gewesen ist, und ob auf Basis der erhaltenen Informationen vom 07.02.2022 bis 11.02.2022 die entsprechenden Briefwahlunterlagen für die von mobiler Arbeit betroffenen Arbeitnehmer verpackt worden sind. Angesichts der im Beschluss vom 18.01.2022 berücksichtigten Umstände und der großen Zahl mobil arbeitender Beschäftigter bestand für den Wahlvorstand keine besondere Nachforschungspflicht um sich Kenntnis von einer ausnahmsweisen Anwesenheit Einzelner während des Wahlzeitraums im Betrieb zu verschaffen. Ein längeres Zuwarten verbunden mit einer Nachforschung zwecks Erlangung zuverlässigerer Kenntnis von einer Anwesenheit im Betrieb während des Zeitraums der Stimmabgabe barg das Risiko, dass eine größere Zahl während dieses Zeitraumes verhinderter Arbeitnehmer Briefwahlunterlagen überhaupt nicht oder verspätet erhält und deshalb nicht an der Wahl teilnehmen kann. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Wahlvorstand Briefwahlunterlagen an mobil Beschäftigte übersandt hat, bei denen er mit Sicherheit wusste, dass diese im Zeitraum der Stimmabgabe betriebsanwesend sein würden, sind hingegen weder vorgetragen noch erkennbar.

c)

59

Auch für die von Kurzarbeit im Zeitraum der Stimmabgabe Betroffenen hat der Wahlvorstand fehlerfrei die Briefwahl ermöglicht. Soweit für bestimmte Abteilungen für den Zeitraum der Stimmabgabe ein vollständiger Arbeitsausfall bekannt gemacht worden ist, liegen die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG ersichtlich vor (vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, WO § 24 Rn. 10). Hiervon gehen ersichtlich auch die Antragsteller aus (Antragschrift S. 19).

60

Soweit in der Bekanntmachung der Arbeitgeberin und des Betriebsrats vom 01.03.2022 von anteiligem Arbeitsausfall die Rede ist, gilt im Streitfall nichts Anderes. Der anteilige Arbeitsausfall bezieht sich hier nämlich nicht auf den einzelnen Mitarbeiter, sondern auf die jeweilige Organisationseinheit und bedeutet, dass in einer Unterabteilung oder mehreren Unterabteilungen der betreffenden Organisationseinheit (vollständig) nicht gearbeitet wird. Diese Unterabteilungen sind in den vom Wahlvorstand als Zuordnungskriterium festgelegten OE-Kürzeln aus einem nach einem Bindestrich angegebenen Buchstaben bzw. einer Zahl oder einer Kombination aus beidem ersichtlich. Dies haben die nachvollziehbaren und unbestritten gebliebenen Erläuterungen der informatorisch von der Kammer befragten Wahlvorstandsvorsitzenden und der Arbeitgeberin im Rahmen der Anhörung ergeben. Damit stand für die Beschäftigten dieser Unterabteilungen ebenfalls fest, dass sie während des Zeitraumes der Stimmabgabe voraussichtlich überhaupt nicht arbeiten. Entsprechendes gilt für die Beschäftigten des Bereiches COW, bei dem es sich nach den ebenfalls unbestritten gebliebenen Erläuterungen der Wahlvorstandsvorsitzenden um einen besonderen Bereich handelt. Unschädlich ist, dass bei den von anteiligem Arbeitsausfall betroffenen Organisationsuntereinheiten die Möglichkeit bestand, einzelne den betreffenden Unterabteilungen zugeordnete Arbeitnehmer aus der Kurzarbeit zurückzuholen. Dies war für den Wahlvorstand zum Zeitpunkt der Zuordnung zur Briefwahl aufgrund der OE-Kürzel nicht vorhersehbar und stellt das Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG auch in Bezug auf diese Arbeitnehmer nicht in Frage.

2.

61

Ein die Anfechtbarkeit der Wahl begründender Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften ist ferner nicht dadurch begründet, dass der Wahlvorstand eine ergänzende Übermittlung des Wahlausschreibens an die Briefwahlberechtigten unterlassen hat (§ 3 Abs. 4, S. 4 WO BetrVG).

a)

62

Mit der am 15.10.2021 in Kraft getretenen Verordnung zur Änderung der Wahlordnung, der Wahlordnung Seeschifffahrt und der Verordnung zur Durchführung der Betriebsratswahlen bei den Postunternehmen vom 8.10.2021 (BGBl. I S. 4640) wurde die ergänzende Verpflichtung des Wahlvorstandes neu eingeführt, dem in § 24 Abs. 2 WO benannten Personenkreis das Wahlausschreiben postalisch oder elektronisch zu übermitteln. Diese Wahlberechtigten sollen das Wahlausschreiben bereits unmittelbar nach seinem Erlass erhalten. Sie sollen damit schon vor der Zusendung der Wahlunterlagen, die erst erfolgt, wenn auch die Vorschlagslisten bekannt gemacht werden, die Möglichkeit haben, von der Durchführung der Betriebsratswahl Kenntnis zu erlangen und sich in das Verfahren einzubringen (vgl. Bundesrat Drucksache 666/21, S. 20). Die Regelung greift damit die vom Arbeitsgericht zitierte Rechtsprechung zu § 24 Abs. 2 WO BetrVG auf, wonach der Wahlvorstand bei den überwiegend außerhalb des Betriebs tätigen Beschäftigten das Wahlausschreiben frühzeitig, d.h. nicht erst mit Übersendung der Briefwahlunterlagen zur Kenntnis zu geben hat, wenn ihm bekannt ist, dass sie ansonsten hiervon keine Kenntnis erlangen können (vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, WO § 3 Rn. 31, m.w.N. aus der Rspr.; Düwell BetrVG, 6. Aufl. 2022, WahlO § 3 Rn. 12, 13,).

b)

63

Der Verpflichtung aus § 3 Abs. 4, S. 4 WO BetrVG hat der Wahlvorstand genügt.

aa)

64

Den von mobiler Arbeit betroffenen Mitarbeitern hat der Wahlvorstand per Personal Telegramm in Form einer E-Mail bereits am Tag der Bekanntmachung des Wahlausschreibens einen Link (Anlage B3, 115f d. A.) geschickt, über den sie sämtliche Bekanntmachungen des Wahlvorstandes - mithin auch das Wahlausschreiben - im Intranet der Arbeitgeberin einsehen konnten. Eine elektronische Übermittlung des Wahlausschreibens bereits zu einem Zeitpunkt bevor der Wahlvorstand sichere oder hinreichende Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 WO BetrVG hatte, erscheint mit Blick auf den mit § 3 Abs. 4 S. 4 WO BetrVG verfolgten Zweck unproblematisch. Gleichfalls für unschädlich erachtet die Kammer, dass der Wahlvorstand ausweislich des Inhalts der Anlage B3 das Wahlausschreiben nicht etwa unmittelbar als E-Mail-Anhang verschickt hat, sondern ein Informationsschreiben, das keinen ausdrücklichen Hinweis auf das Wahlausschreiben enthält. Denn zum einen ist im Betreff der E-Mail (Personal Telegramm) ausdrücklich angegeben "Information der Wahlvorstände der U.: Betriebsratswahlen 2022". Es ist im Text der Mail ferner ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die in mobiler Arbeit Beschäftigten über den angegebenen Link neben den Aushängen an den üblichen Stellen (schwarze Bretter) im Betrieb die ergänzende Möglichkeit erhalten, sich über die Bekanntmachungen des Wahlvorstandes im Wahlverfahren zu informieren. Dies erscheint mit Blick auf den verfolgten Gesetzeszweck ausreichend. Damit hatten die Betroffenen Zugang nicht nur zum Wahlausschreiben, sondern zu sämtlichen Bekanntmachungen des Wahlvorstandes in einer dem Aushang am schwarzen Brett entsprechenden Weise.

65

Soweit die Antragsteller mit Nichtwissen bestritten haben, dass auf der Nachrichtenseite im Intranet der Arbeitgeberin und in der 360 Grad Mitarbeiter-App das Wahlausschreiben verlinkt war, kann dies dahinstehen. Ausreichend ist die Übersendung der mit den aktuellen Bekanntmachungen verlinkten E-Mail des Wahlvorstandes vom 11.11.2022 an alle E-Mailempfänger der Arbeitgeberin. Dies schloss alle mobil arbeitenden Beschäftigten und damit den im Streitfall von § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG erfassten Personenkreis ein, da Voraussetzung für mobiles Arbeiten bei der Arbeitgeberin die Einbindung auch zu Hause in deren elektronischen Kommunikationssysteme, insbesondere der Zugang zum unternehmensinternen Intranet und die Erreichbarkeit per E-Mail ist. Die Übersendung des weiterführenden Links mittels E-Mail ist nicht bestritten. Die Voraussetzungen für ein zulässiges Bestreiten mit Nichtwissen wären insoweit auch angesichts der nachvollziehbaren und detaillierten Darlegungen mit den einzelnen Screenshots (Anlage B15, Bl. 438 - 441 d. A.) nicht dargetan. Anhaltspunkte dafür, dass etwa aus technischen Gründen der weiterführende Link nicht nutzbar oder das Wahlausschreiben nicht einsehbar war, sind nicht vorgebracht.

bb)

66

Ein Verstoß gegen § 3 Abs. 4 S. 4 WO BetrVG liegt auch nicht in Bezug auf die von Kurzarbeit betroffenen Arbeitnehmer vor. Zwar unterfielen diese Personen dem Kreis der Briefwahlberechtigten im Sinne des § 24 Abs. 2 WO BetrVG, ohne dass ihnen das Wahlausschreiben vor Übersendung der Wahlunterlagen gesondert postalisch oder elektronisch übersandt worden ist. Der damit formal gegebene Verstoß gegen § 3 Abs. 4 S. 4 WO BetrVG ist jedoch unschädlich, weil zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des Wahlausschreibens die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 Nr. 1 WO BetrVG in Bezug auf diesen Personenkreis noch nicht vorgelegen haben und die betroffenen Produktionsmitarbeiter bis Ende Februar 2022 aufgrund ihrer Anwesenheit im Betrieb grundsätzlich von den dortigen Aushängen des Wahlvorstandes Kenntnis nehmen und ihre sich daraus ergebenden Rechte wahrnehmen konnten. Mit Eintritt der Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 WO BetrVG ab Ende Februar 2022 waren die Fristen für einen Einspruch gegen die Wählerliste (§ 4 Abs. 1 WO BetrVG) und die Einreichung von Wahlvorschlägen (§ 6 Abs. 1 S. 2 WO BetrVG) bereits abgelaufen und die Vorschlagslisten gem. § 10 Abs. 2 WO BetrVG waren seit 09.12.2021 ausgehängt, weshalb sich die von Kurzarbeit Betroffenen zu diesem Zeitpunkt über die Ausübung des aktiven Wahlrechts hinaus nicht mehr weiter in die Wahl hätten einbringen konnten. Der gesetzgeberisch mit § 3 Abs. 4 S. 4 WO BetrVG verfolgte Zweck war bei diesen Personen nicht mehr zu erreichen. Wollte man in Fällen dieser Art einen Verstoß gegen eine wesentliche Wahlvorschrift annehmen, wäre jedenfalls ausgeschlossen, dass dieser das Wahlergebnis im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrVG geändert oder beeinflusst hätte.

3.

67

Der Wahlvorstand hat ferner nicht durch eine verspätete Übersendung der Briefwahlunterlagen gegen eine wesentliche Wahlvorschrift verstoßen.

a)

68

§ 24 WO BetrVG selbst enthält keine Frist für die Übersendung der Briefwahlunterlagen gem. § 24 Abs. 1 WO BetrVG. Werden die Wahlunterlagen übersandt, muss dies allerdings so zeitig im Vorfeld der Wahl erfolgen, dass den Wahlberechtigten eine Entscheidung über die aktive Wahlteilnahme noch möglich ist. Maßgeblich soll insoweit der Zeitpunkt des Zugangs, nicht der Zeitpunkt der Absendung sein (vgl. Richardi BetrVG/Forst, BetrVG, 17. Aufl. 2022, WO § 24 Rn. 17).

b)

69

Danach ist ein Verstoß gegen eine wesentliche Wahlvorschrift im Streitfall nicht feststellbar.

aa)

70

Die Antragsteller haben insoweit geltend gemacht, aufgrund der zeitversetzten Versendung hätten etwa 700 Wahlberechtigte die Wahlunterlagen erneut anfordern müssen, was "teilweise" zur Folge gehabt habe, dass Wahlberechtigte die vollständigen Wahlunterlagen erst am 15.03.2022 erhalten hätten. Abgesehen davon, dass nach dem 15.03.2022 noch an 3 Tagen eine Stimmabgabe möglich war, ist der Vortrag der Antragsteller streitig geblieben. Er hat mangels näherer Substantiierung auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten Amtsermittlungsgrundsatzes im Beschlussverfahren keinen hinreichenden Ansatz für weitere Nachforschungen geboten. Soweit die Antragsteller einen Zugang der vollständigen Wahlunterlagen erst am 15.03.2022 unter Beweis des Zeugen Breit gestellt haben, war dem nicht nachzugehen. Nach dem nachfolgenden und unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Betriebsrats sind dem Mitarbeiter Breit die Briefwahlunterlagen am 11.03.2022 wegen der erst zu diesem Zeitpunkt erfolgten Nachmeldung - mithin aufgrund der angeordneten Kurzarbeit - zugeschickt und am 17.03.2022 ordnungsgemäß zurückgesandt worden. Angesichts der erst am 11.03.2022 erfolgten Nachmeldung kann insoweit schon kein Verstoß gegen eine wesentliche Wahlvorschrift angenommen werden. Wollte man dies anders sehen, hätte sich ein solcher bei dem Mitarbeiter Breit jedenfalls nicht auf das Wahlergebnis ausgewirkt.

bb)

71

Für die Annahme des Arbeitsgerichts, dass die Briefwahlunterlagen die betreffenden Arbeitnehmer spätestens eine Woche vor Beginn der Stimmabgabe erreicht haben müssen, fehlt eine Rechtsgrundlage. Eine solche ergibt sich nicht aus § 24 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 10 Abs. 2 WO BetrVG. Zwar sind die Vorschlagslisten gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 2 WO Bestandteil der Briefwahlunterlagen. Regelungsgegenstand der Fristbestimmung in § 10 Abs. 2 WO BetrVG sind aber allein die als gültig anerkannten Vorschlagslisten, die spätestens eine Woche vor Beginn der Stimmabgabe bekannt gemacht werden müssen. Da die als gültig anerkannten Vorschlagslisten unstreitig bereits ab 09.12.2021 im Betrieb ausgehängt waren, war dem Erfordernis des § 10 Abs. 2 WO BetrVG in Verbindung mit § 3 Abs. 4 S. 1 bis 3 WO BetrVG genügt. Die von Kurzarbeit betroffenen Produktionsmitarbeiter konnten bis Ende Februar 2022 aufgrund ihrer Anwesenheit im Betrieb auch grundsätzlich von den dortigen Aushängen des Wahlvorstandes, mithin auch dem Aushang der Vorschlagslisten, Kenntnis nehmen. Die in mobiler Arbeit Beschäftigten hatten über den in der E-Mail vom 11.11.2021 angegebenen Link die Möglichkeit, sämtliche Bekanntmachungen des Wahlvorstandes einzusehen.

4.

72

Bei der Durchführung der Briefwahl ist auch nicht dadurch gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen worden, dass die Briefwahlrückläufer nicht ausreichend vor Wegnahme bzw. Manipulationen geschützt gewesen wären.

a)

73

Weder das BetrVG noch die Wahlordnung enthalten ausdrückliche Regelungen zur Sicherung zurückgesendeter Briefwahlunterlagen. § 26 Abs. 1 S. 1 WO BetrVG ist lediglich zu entnehmen, dass die Freiumschläge erst zu Beginn der öffentlichen Sitzung zur Stimmauszählung geöffnet werden dürfen. Allerdings enthalten BetrVG und Wahlordnung verschiedene Vorschriften, die der Verhinderung von Wahlmanipulationen dienen, wozu insbesondere die Öffentlichkeit der Stimmauszählung (§ 18 Abs. 3 BetrVG, hierzu BAG 15.11.2000 - 7 ABR 53/99 -, juris, Rn. 13), die Anforderungen an die Wahlurne (§ 12 Abs. 1 S. 2 WO BetrVG), das Vier-Augen-Prinzip im Wahlraum (§ 12 Abs. 2 WO BetrVG) und in Bezug auf die Briefwahl die Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 und 3 WO BetrVG gehören, wonach die Anordnung schriftlicher Stimmabgabe nur in den dort aufgeführten Fällen möglich ist (hierzu BAG 16.03.2022 - 7 ABR 29/20 -, Rn. 29, juris). Daraus wird abgeleitet, dass es zum Wesensgehalt der Vorschriften des BetrVG über das Wahlverfahren gehört, dass der Wahlvorstand solchen Gefahren der Einflussnahme auf das Wahlverhalten und das Wahlergebnis, die gemessen an der allgemeinen Lebenserfahrung und den konkreten Umständen des Einzelfalles nicht ganz unwahrscheinlich erscheinen, mit wirksamen Mitteln begegnet (vgl. LAG Düsseldorf 16.09.2011 - 10 TaBV 33/11 -, Rn. 63, juris, m.w.N.).

b)

74

Diesen Anforderungen ist im Streitfall genügt.

aa)

75

Die Art der verwendeten Frei- und Wahlumschläge begründet keinen Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften.

(1)

76

Bei der Briefwahl dient der Wahlumschlag der Wahrung des Wahlgeheimnisses. Er muss deshalb bis zum Einlegen in die Wahlurne (§ 26 WO BetrVG) die Sicht auf den Stimmzettel nach dessen Ausfüllung verdecken.

77

Der Freiumschlag dient dem Rücktransport des Wahlumschlages und der Registrierung der Stimmabgabe. § 24 Abs. 1 Nr. 5 WO BetrVG bestimmt zu ihm lediglich, dass er größer als der Wahlumschlag sein muss. Darüberhinaus ist aus Art. 10 Abs. 1 GG, § 202 StGB abzuleiten, dass der Wahlvorstand den briefwahlberechtigten Personen einen Freiumschlag zur Verfügung stellt muss, der geeignet ist, das gesetzlich geschützte Briefgeheimnis zu wahren. Der Freiumschlag muss mithin verschließbar sein und ebenfalls die Sicht auf den Inhalt verdecken.

(2)

78

Den vorstehenden Anforderungen genügen die verwendeten Umschläge. Der fensterlose Wahlumschlag (Anlage KBM3, Bl. 30 d. A.) ist in roter Farbe gehalten und nicht transparent. Er lässt nicht ohne weiteres die Sicht auf den Stimmzettel zu. Gleiches gilt für den weißen Freiumschlag. Es ist unschädlich, dass dieser mit einem Adressfenster versehen ist. Zwar lässt dieser Ausschnitt einen Blick auf den Inhalt zu. Dies betrifft jedoch bestimmungsgemäß allein die Adressierung. Hinzu kommt, dass ausweislich der Anlage KBM4 (Bl. 31 d. A.) mindestens der Adressbereich auf der Rückseite des Umschlages mit einer dunkleren Musterung versehen ist, die ein bloßes "Durchschauen" des Umschlags, um Rückschlüsse auf den Inhalt zu erhalten, erschwert. Weitere Vorkehrungen zum Schutz des Wahl- bzw. Briefgeheimnisses waren vom Wahlvorstand im Streitfall nicht zu treffen. Mit der Einlegung in den Freiumschlag war der Inhalt des Wahlumschlages zusätzlich gegen Kenntnisnahme geschützt. Eine solche war durch die im Freiumschlag befindliche unterschriebene Erklärung gem. § 25 S. 1 WO BetrVG, die Anzahl der auf dem Wahlzettel ankreuzbaren Listen und durch die Art der Faltung bzw. Einlegung des Stimmzettels in den Wahlumschlag weiter erschwert. Abgesehen davon, dass die vollständige oder teilweise Kenntniserlangung des Briefinhalts unter Verwendung von "Hilfsmitteln" kaum sicher auszuschließen sein dürfte, lässt das von den Antragstellern dargelegte Ergebnis der Durchleuchtung des Freiumschlags im Adressfeldbereich (Fotos Anlagen KBM 5 und 6, Bl. 32f d. A.) nach Auffassung der Kammer weder einen zuverlässigen Rückschluss auf die Wahl einer bestimmten Liste noch eine zuverlässige Eingrenzung der Stimmabgabe zu.

bb)

79

Eine Registrierung der eingehenden Briefwahlrückläufer bereits bei deren Eingang in der Poststelle der Arbeitgeberin und eine Bereitstellung in verschlossenen Boxen war im Streitfall nicht geboten. Der Wahlvorstand durfte mangels gegenteiliger tatsächlicher Anhaltspunkte davon ausgehen, dass die Mitarbeiter, die in der Poststelle der Arbeitgeberin aufgrund der ihnen übertragenen Arbeit mit der Sortierung und Bereitstellung der Post für den Wahlvorstand betraut waren, zuverlässig und vertrauenswürdig sind. Anhaltspunkte für ein unaufgeklärtes regelmäßiges oder gar systematisches Verschwinden von Posteingängen in diesem Bereich bestanden mangels vorgetragener Anhaltspunkte nicht. Vor anderen Personen waren die Briefwahlrückläufer in der Poststelle hinreichend geschützt. Unstreitig hat diese einen abgetrennten Sortierbereich, dessen Tür von einem Unbefugten nicht geöffnet werden kann und zu dem eine gesonderte Anmeldung erforderlich ist (Anlagen C7, C8, Bl. 482 - 484 d. A.). Bei dieser Sachlage gebietet die Wahlordnung kein Vier-Augen-Prinzip ab Postanlieferung unter Beteiligung mindestens eines Wahlvorstandsmitglieds und eine Registrierung noch innerhalb der Poststelle unmittelbar nach der Sortierung.

cc)

80

Der Transport der an den Wahlvorstand adressierten Post in offenen Boxen durch ein einzelnes Mitglied des Wahlvorstandes über das Werksgelände begründete keinen Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften. Der Wahlvorstand darf grundsätzlich davon ausgehen, dass seine Mitglieder zuverlässig und vertrauenswürdig sind (vgl. LAG Düsseldorf 16.09.2011, a.a.O. Rn. 63, juris). Tatsächliche Anhaltspunkte, die im Streitfall Anlass zu Zweifeln gaben, sind nicht ersichtlich. Insbesondere besteht kein Grund für die Annahme, dass das betreffende Mitglied die Boxen im Rahmen eines Transports unbeaufsichtigt gelassen hätte. Zwar mag auch ein unbemerkter Zugriff durch einen Dritten trotz der Aufsicht durch das betreffende Wahlvorstandsmitglied theoretisch nicht ausgeschlossen sein. Diese Möglichkeit erscheint aber angesichts des Umstandes, dass die Briefe in den Kisten jedenfalls nicht auf den ersten Blick als Briefwahlrückläufer zu erkennen sind und ein in Entwendungsabsicht handelnder Dritter gerade in einem solchen - nicht planbaren - günstigen Moment anwesend sein müsste, nach aller Lebenserfahrung sehr unwahrscheinlich. Etwas Anderes könnte gelten, wenn dergleichen im Betrieb bei vorangegangenen Wahlen bereits vorgekommen wäre oder aufgrund konkreter Umstände Manipulationen zu befürchten waren. Ebenso fernliegend ist es, dass etwa das abholende Wahlvorstandmitglied, ggf. in kollusivem Zusammenwirken mit einem Dritten, im Rahmen des Transports Freiumschläge undifferenziert oder gezielt nach Durchleuchtung mit einer Taschenlampe o.ä. verschwinden lässt oder durch andere Stimmzettel ausgetauscht hat. Die Antragsteller tragen in diesem Zusammenhang rein abstrakte und hypothetische Möglichkeiten vor, die keinen Anlass für weitere Aufklärung des Sachverhalts bieten. Würde das rein hypothetische Vorbringen der Antragsteller genügen, könnte theoretisch mit jeder abstrakten Möglichkeit eines Verstoßes gegen Wahlvorschriften eine Betriebsratswahl für anfechtbar erklärt werden (zutr. LAG Niedersachsen 16.06.2008 - 9 TaBV 14/07 -, Rn. 49, juris; LAG Hamm 27.10.2015 - 7 TaBV 19/15 -, Rn. 79, juris). Auch in dem von der Offizialmaxime beherrschten Beschlussverfahren hat der Antragsteller die Tatsachen vorzutragen, aus denen er das mit dem Antrag verfolgte Begehren herleitet (vgl. BAG 09.09.1975 - 1 ABR 21/74 -, AP ArbGG 1953 § 83 Nr. 6).

dd)

81

Dementsprechend begründet die vom Wahlvorstand eröffnete Möglichkeit, die Freiumschläge mit der Briefwahlstimme auch in den Briefkasten vor dem Wahlvorstandsbüro einzuwerfen keine Anfechtbarkeit, selbst wenn es - ggf. in Abhängigkeit vom Befüllungsstand - möglich gewesen sein sollte, einzelne Briefe über den Einwurfschlitz wieder herauszuziehen. Der Einwurf in einen Briefkasten ist ein üblicher Bestandteil des Postweges. Mit dem Herausziehen und Entwenden eingeworfener Post muss der Wahlvorstand nicht rechnen. Sollten im Einzelfall Briefe herausgeschaut haben, deutet dies auch nicht zwingend auf eine nicht kontinuierliche Leerung, wie die Antragsteller pauschal behaupten, sondern kann auch mit dem kaum vorhersehbaren Abgabeverhalten der Wähler zusammenhängen. Insbesondere ist kein konkreter Anhaltspunkt dafür vorgetragen, dass an Öffnungstagen des Wahlvorstandsbüros der Briefkasten nicht mindestens einmal täglich geleert worden ist bzw. sich Briefwahlrückläufer aufgrund Überfüllung außerhalb des Briefkastens befunden hätten.

ee)

82

Die Registrierung der Briefwahlrückläufer durch ein einzelnes Wahlvorstandsmitglied verletzt keine wesentlichen Wahlvorschriften. Ein Vieraugenprinzip schreibt die Wahlordnung insoweit nicht vor. Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere zu berücksichtigen, dass sich der jeweilige Wahlumschlag in der gesamten Zeit dieses Vorgangs in dem verschlossenen Freiumschlag befindet und dem einzelnen Wahlvorstandsmitglied diesbezüglich nicht ohne Weiteres Unredlichkeit unterstellt werden kann.

ff)

83

Es ist auch nicht durch die Form der Aufbewahrung während der Registrierung der Briefwahlrückläufer in einem Raum des Wahlvorstandsbüros gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen worden. Während der Registrierung befanden sich die Unterlagen unter der Aufsicht des hiermit befassten Wahlvorstandsmitgliedes, von dessen Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit der Wahlvorstand grundsätzlich ausgehen darf. Deshalb erachtet es die Kammer als unproblematisch, dass es während dieses Vorganges Dritten innerhalb der Öffnungszeiten des Wahlvorstandsbüros grundsätzlich möglich war, auch den Registrierungsraum zu betreten, etwa um Briefwahlunterlagen persönlich abzugeben oder Fragen an den Wahlvorstand zu richten. Weder war das registrierende Wahlvorstandsmitglied zum Schutz der Briefwahlrückläufer gehalten die Tür während seiner Tätigkeit verschlossen zu halten noch Dritte sofort des Raumes zu verweisen oder die zu registrierenden bzw. bereits bearbeiteten Briefwahlrückläufer während der Anwesenheit eines Dritten innerhalb des Raumes unter Verschluss zu nehmen um einen theoretisch möglichen Zugriff in einem unbemerkten Moment zu verhindern.

84

Darüberhinaus steht aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme durch Vernehmung der Wahlvorstandsvorsitzenden L. und des Wahlvorstandsmitglieds N. zur Überzeugung der Kammer fest (§ 286 ZPO), dass die grundsätzliche Praxis bestand, nicht nur den Aufbewahrungsraum, sondern auch den Registrierungsraum abzuschließen, wenn niemand dort zugegen war. Zwar konnte sich der Zeuge N., anders als die Zeugin L., die dies zuvor bekundet hatte, nicht an eine dahingehende ausdrückliche Absprache bezüglich des Registrierungsraumes erinnern. Er hat jedoch bekundet, dass er seit 2013 bei Betriebsratswahlen zunächst als Helfer und bei späteren Wahlen als Wahlvorstand tätig war und dies nach seiner Wahrnehmung stets so gehandhabt worden ist. Beide Zeugen haben bestätigt, dass alle Wahlvorstandsmitglieder einen Schlüssel besaßen, der für sämtliche Räume des Büros passte und dass bei der streitgegenständlichen Wahl immer dasselbe Wahlvorstandsmitglied die Registrierung durchgeführt hat. Beide Zeugen haben ferner Begebenheiten geschildert, aus denen sich ergibt, dass das registrierende Wahlvorstandsmitglied bei zwischenzeitlicher Abwesenheit die Tür zu seinem Büroraum abgeschlossen hat. Die Kammer erachtet die Aussagen für glaubhaft. Insbesondere der Zeuge N. vermochte konkret eine Begebenheit im Zusammengang mit einer Raucherpause des registrierenden Wahlvorstandsmitglieds zu schildern. Letztlich sprechen für die Richtigkeit der Aussagen auch unstreitige Begleitumstände. Unbestritten wurden die registrierten Briefwahlrückläufer vor Beendigung der täglichen Arbeitszeit von zwei Wahlvorstandsmitgliedern in zwei Schiebetheken in einen anderen Raum des Wahlvorstandbüros verbracht, die Griffe der Schiebetheken mit einer Stahlkette und zwei verschiedenen Vorhängeschlössern gesichert (Fotos Anlage B11, Bl. 248f d. A.), wobei die beiden Schlüssel an die unterschiedlichen im Betrieb vertretenen Gewerkschaftsmitglieder des Wahlvorstandes aufgeteilt wurden. Angesichts dieser Praxis und aufgrund seiner Stellung als Wahlvorstand muss es sich für jedes Mitglied dieses Wahlorgans geradezu aufdrängen, dass Briefwahlrückläufer bei erheblichen Abwesenheitszeiten während des Registrierungsvorgangs nicht ungesichert bleiben dürfen, solange der Bereich betriebsöffentlich zugänglich ist. Die Kammer verkennt nicht, dass damit nicht bewiesen ist, dass das registrierende Wahlvorstandsmitglied die fragliche Tür bei zwischenzeitlicher Abwesenheit tatsächlich stets abgeschlossen hat. Der Wahlvorstand darf jedoch bis zum Vorliegen gegenteiliger Anhaltspunkte darauf vertrauen, dass das registrierende Wahlvorstandsmitglied sich an die ihm bekannte Praxis des Abschließens grundsätzlich hält. Anhaltspunkte dafür, dass es dies nicht getan hat und es infolgedessen zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist, ergeben sich weder aus der Befragung der Zeugen, noch aus konkretem Tatsachenvorbringen der Antragsteller.

5.

85

Auch in Bezug auf Wahlwerbung ist nicht gegen wesentliche Wahlvorschriften verstoßen worden.

a)

86

Das - dem Grunde nach unstreitige - Zerstören, Entfernen oder Überkleben von Wahlplakaten, Postern und Flyern der Listen 1, 2, 3 und 8 begründet keine Anfechtbarkeit der Wahl wegen Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 BetrVG.

aa)

87

Es kann zugunsten der Antragsteller davon ausgegangen werden, dass zur Wahl im Sinne des § 20 Abs. 1 BetrVG auch die Wahlwerbung gehört und dass das Zerstören, Entfernen oder Überkleben von Wahlwerbung eine unzulässige Wahlbehinderung darstellt. Ferner wird zugunsten der Antragsteller davon ausgegangen, dass dieses gesetzliche Verbot zugleich eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrVG beinhaltet und ein Verstoß hiergegen grundsätzlich eine Anfechtbarkeit der Wahl begründen kann.

(bb)

88

Der Verstoß begründet im Streitfall gleichwohl keine Anfechtbarkeit der Wahl. Von den Antragstellern sind keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorgetragen worden, dass die Zerstörungen oder Überplakatierungen von der Arbeitgeberin vorgenommen oder veranlasst worden sind. Gleiches gilt in Bezug auf die Wahlorgane. Ist somit davon auszugehen, dass der Verstoß gegen § 20 Abs. 1 BetrVG durch Dritte begangen worden ist - etwa, wie von den Antragstellern in den Raum gestellt, von Mitgliedern oder Sympathisanten der im Betrieb vertretenen Mehrheitsgewerkschaft - reicht dies aus Gründen des Bestandsschutzes gewählter Betriebsvertretungen allein noch nicht aus, um eine Anfechtbarkeit der Wahl zu begründen. Vielmehr muss zu dem Normenverstoß des Dritten ein Handlungsfehler des Wahlvorstandes oder des Arbeitgebers hinzukommen. Insoweit ist nach Auffassung der Kammer die entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa BVerfG 20.10.1993 - 2 BvC 2/91 -, BVerfGE 89, 243-265) und der Länderverfassungsgerichte (etwa Hamburgisches Verfassungsgericht 26.11.1998 - 4/98 -, juris Rn. 29) zu den Wahlen der Volksvertretungen übertragbar, da eine vergleichbare Situation besteht.

cc)

89

Im Streitfall sind weder Handlungsfehler des Wahlvorstandes noch der Arbeitgeberin erkennbar. Der Wahlvorstand hat Hinweise auf Zerstörungen und Überplakatierungen von Wahlplakaten ausweislich des Anlagenkonvoluts B1 (Bl. 105ff d. A.), an die Arbeitgeberin als Inhaberin des Hausrechts weitergeleitet. Diese hat daraufhin entsprechende Informationen an die Arbeitnehmer verfasst (Bl. 110 d. A.) und die Hinweise an die Werksicherheit weitergeleitet (Bl. 106 d. A.). Unstreitig hat die Arbeitgeberin die Zahl der durch den Werkschutz abgehaltenen Streifen nach der Meldung entsprechender Vorfälle sowohl in der Tages- als auch der Nachtzeit im gesamten Werk aufgestockt. Insbesondere am 15., 16. und 17.03.2022 hat sie im Werkschutz gezielt Streifen im gesamten Werk zur Verhinderung weiterer Vorfälle eingesetzt. Soweit die Antragsteller vortragen, durch die ergriffenen Maßnahmen seien die Zerstörungen nicht effektiv unterbunden worden, zeigen sie nicht auf, durch welche zumutbaren weiteren Maßnahmen dies hätte erfolgen können. Solche Maßnahmen sind auch nicht ersichtlich.

90

Darüberhinaus lässt sich auch bei Richtigunterstellung des von den Antragstellern behaupteten Ausmaßes der Zerstörungen und Überplakatierungen nicht feststellen, dass die Wahl infolgedessen nicht mehr demokratischen Prinzipien entsprochen hätte. Es ist unstreitig, dass die Zerstörungen und Überplakatierungen die Wahlwerbung verschiedener Listen betroffen hat. Es ist aber nichts dafür ersichtlich, dass eine oder mehrere zugelassene Listen infolgedessen während des gesamten oder erheblicher Zeiten des Wahlkampfes bei der Wahlwerbung nicht mehr wahrnehmbar gewesen wäre. Vielmehr wird in Bezug auf die angeblich besonders betroffene Liste 2 behauptet, 2.500 zerstörte bzw. überklebte Plakate seien nachplakatiert worden. Lediglich bei 100 von 120 aufgehängten, kurz vor der Stimmabgabe entfernten bzw. beschädigten Großplakaten sei ein Nachplakatieren nicht mehr möglich gewesen.

b)

91

Die Arbeitgeberin hat nicht gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber bei der Zurverfügungstellung des unternehmenseigenen Intranets zum Zwecke der Wahlwerbung verstoßen.

aa)

92

Bei dem ungeschriebenen Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber handelt es sich um ein notwendiges Element einer demokratischen Wahl und damit um eine wesentliche Verfahrensvorschrift, die verletzt wird, wenn der der Arbeitgeber bzw. der Wahlvorstand einzelnen Bewerbern Vorrechte gegenüber anderen einräumt (vgl. etwa Hessisches LAG 15.06.2020 - 16 TaBV 116/19 -, Rn. 61, juris; LAG Baden-Württemberg 28.11.2017 -9 TaBV 4/17- Rn. 30; Richardi-Thüsing, BetrVG, 16. Aufl., § 14 Rn. 18).

bb)

93

Im Streitfall haben Arbeitgeberin und Wahlvorstand den Grundsatz der Chancengleichheit der Wahlbewerber bei dem Zugang zum Intranet zum Zwecke der Wahlwerbung beachtet. Ausweislich der E-Mail vom 22.02.2022 (Anlage C3, Bl. 92 d. A.) hat die Arbeitgeberin den Vertretern aller Wahlvorschlagslisten mitgeteilt, dass sich diese im Intranet den Beschäftigten vorstellen und hierzu bis zu drei weiterführende externe Links zu ihrer Wahlwerbung eintragen lassen könnten. Entsprechend hat sie die Beschäftigten mit E-Mail vom 24.02.2022 (Anlage B2, Bl. 114 d. A.) informiert. Es ist kein Anhaltspunkt dafür aufgezeigt, dass die Ankündigung vom 22.02.2022 nachfolgend in Bezug auf einzelne Listen nicht umgesetzt worden ist.

94

Soweit die Antragsteller darüberhinaus behaupten, nur die Liste der IG Metall habe im Intranet eine eigene Homepage betreiben können, liegt kein Tatsachenvortrag vor, der Anlass zu weiteren Ermittlungen der Kammer geben könnte. Insbesondere wird nicht dargelegt, unter welcher Adresse eine - bestrittene - Homepage der IG Metall im Intranet der Arbeitgeberin erreichbar gewesen sein soll. Sollte - wie die Arbeitgeberin vermutet - die Adresse des Betriebsrats gemeint sein, der in Intranet unstreitig eine eigene Seite hat, verbietet sich eine Gleichsetzung mit der IG-Metall, auch wenn letztere aufgrund der vorangegangenen Betriebsratswahl bereits die meisten Betriebsratsmitglieder gestellt haben sollte. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass eine IG-Metall-Mehrheit im vorangegangenen Betriebsrat die Intranetseite des Betriebsrats mit Wissen der Arbeitgeberin und des Wahlvorstandes für Wahlkampf der IG-Metall missbraucht hätte, sind von den Antragstellern nicht vorgetragen worden.

c)

95

Nach den vorstehenden Grundsätzen begründet auch die unstreitig verkürzte Redezeit des Antragstellers zu 6 auf der digitalen Betriebsversammlung keine Anfechtbarkeit der Wahl wegen einer Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit der Wahlbewerber. Nach Auffassung der Kammer kann nicht schon jeder geringfügige Verstoß gegen diesen Grundsatz eine Wahlanfechtung begründen. Im Streitfall lässt sich auch nicht feststellen, dass die Liste 2, welcher der Antragsteller zu 6 angehört, infolge einer Verkürzung der fünfminütigen Redezeit um 45 oder 75 Sekunden auf der Betriebsversammlung nicht mehr wahrnehmbar war. Es ist vielmehr insgesamt zu berücksichtigen, dass es sich um eine Listenwahl gehandelt hat und die Liste 2 die Möglichkeit hatte, 5 weitere Listenvertreter reden zu lassen, hiervon aber unstreitig keinen Gebrauch gemacht hat.

d)

96

Das Facebook-Profilbild der Betriebsrätin S. (Anlage KBM24, Bl. 62 d. A) stellt keine Verletzung wesentlicher Wahlvorschriften dar. Die Propaganda für und/oder gegen eine bestimmte Liste stellt insbesondere keine Behinderung der Wahl im Sinn des § 20 Abs. 1 BetrVG dar (vgl. Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, BetrVG § 20 Rn. 11). Ungeachtet dessen ist auch nicht ersichtlich, inwieweit Arbeitgeberin oder Wahlvorstand insoweit Handlungspflichten verletzt haben könnten.

e)

97

Es begründet auch keine Wahlanfechtung, wenn die Kandidaten der Liste 8 öffentlich mit der auf S. 12 der Antragschrift beschriebenen Äußerung konfrontiert worden sein sollten, wie die Antragsteller ohne Schilderung von Begleitumständen behaupten. Wollte man in dieser Äußerung eine Drohung erblicken käme zwar eine Wahlbehinderung in Betracht. Es ist jedoch nicht behauptet, dass auch nur einer der Angesprochenen infolgedessen seine Kandidatur aufgegeben hat. Ferner ist nicht ersichtlich, inwieweit Arbeitgeberin oder Wahlvorstand insoweit Handlungspflichten verletzt hätten.

6.

98

Es kann dahinstehen, ob aufgrund der Anfechtung die Wahl im Ganzen wiederholt werden müsste, wenn bei einer - wie hier gegebenen - Listenwahl (Verhältniswahl) unter Verstoß gegen § 9 BetrVG ein zu kleiner Betriebsrat gewählt worden ist, oder ob in einem solchen Fall lediglich eine Berichtigung des Wahlergebnisses zu erfolgen hätte (so mit beachtlichen Gründen: GK-Jacobs, BetrVG, 12. Aufl. [2022] § 9, Rn. 36; GK-Kreutz, a.a.O., § 19 Rn. 133; Fitting/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier/Schelz, 31. Aufl. 2022, BetrVG § 9 Rn. 53). Im Streitfall ist kein zu kleiner Betriebsrat gewählt worden.

a)

99

§ 9 Satz 1 BetrVG ist eine wesentliche Vorschrift des Wahlverfahrens. Danach richtet sich die Zahl der Mitglieder des Betriebsrats nach der Anzahl der im Betrieb in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer (BAG 13.03.2013 - 7 ABR 69/11 -, juris, Rn. 18). Dabei kommt es nicht auf die Belegschaftsstärke an einem bestimmten Stichtag, z.B. am Tag der Betriebsratswahl oder am Tag des Erlasses des Wahlausschreibens, an, sondern auf die Anzahl der "in der Regel" Beschäftigten (BAG 12.09.2012 - 7 ABR 37/11 -, Rn. 12, juris). Dabei hat der Wahlvorstand nicht nur den Personalbestand in der Vergangenheit zugrunde zu legen, sondern auch die künftige, auf Grund konkreter Unternehmerentscheidungen zu erwartende Entwicklung des Beschäftigtenstands einzubeziehen. Künftige Veränderungen der Arbeitnehmerzahl, die nicht unmittelbar bevorstehen, können allenfalls eine spätere Anpassung der Zahl der Freizustellenden bedingen. Die Feststellung der maßgeblichen Betriebsgröße erfordert daher sowohl eine rückblickende Betrachtung, für die ein Zeitraum zwischen sechs Monaten bis zwei Jahren als angemessen erachtet wird, als auch eine Prognose, bei der konkrete Veränderungen zu berücksichtigen sind (BAG 02.08.2017 - 7 ABR 51/15 -, Rn. 25, juris). Maßgebend sind die Verhältnisse im Zeitpunkt des Erlasses des Wahlausschreibens (BAG 15.03.2006 - 7 ABR 39/05 -, Rn. 13, juris; BAG 07.05. 2008 - 7 ABR 17/07 -, juris Rn. 17).

b)

100

Hiervon ausgehend erweist sich die Prognose des Wahlvorstandes, kennzeichnend für die neue Wahlperiode werde ein regelmäßiger Beschäftigtenstand von weniger als 66.001 Arbeitnehmern sein, für den sich nach der gesetzlichen Staffelung ein 73-köpfiger Betriebsrat ergibt, als vertretbar.

aa)

101

Soweit die Berechnungen des Wahlvorstandes auf der zum Stichtag 30.09.2021 ermittelten Arbeitnehmerzahl im Betrieb W-Stadt beruhen, und nicht exakt auf der zum Stichtag der Bekanntmachung des Wahlausschreibens (11.11.2021), begegnet dies keinen durchgreifenden Bedenken. Bei dem Betrieb der vorliegenden Größe war zu erwarten, dass die Zusammenstellung der exakten Zahlen eine gewisse Zeit in Anspruch nimmt. Im Streitfall lagen die Unterlagen dem Wahlvorstand 18 Tage nach dem Stichtag vor, wie die informatorische Befragung der Wahlvorstandsvorsitzenden im Rahmen der Anhörung durch die Kammer ergeben hat. Zudem wird sich auch rein praktisch die Zahl der Arbeitnehmer zum Monatswechsel regelmäßig einfacher feststellen lassen. Der gewählte Stichtag lag unter Berücksichtigung dieser Umstände nächstmöglich zum Tag der Bekanntmachung des Wahlausschreibens.

bb)

102

Der Wahlvorstand durfte im Streitfall ferner von der Richtigkeit und Vollständigkeit der von der Arbeitgeberin übermittelten Zahlen ausgehen.

(1)

103

Die Feststellung der Arbeitnehmerzahl ist Aufgabe des Wahlvorstands. Das folgt daraus, dass dieser die Zahl der zu wählenden Betriebsratsmitglieder nach § 3 Abs. 2 Nr. 4 WO BetrVG im Wahlausschreiben anzugeben hat. Der Wahlvorstand ist u.a. zur Ermittlung der Zahl regelmäßig beschäftigter Arbeitnehmer auf Angaben der Arbeitgeberin angewiesen. Diesem Umstand trägt § 2 Abs. 2 WO BetrVG Rechnung. Der Wahlvorstand darf die ihm übermittelten Zahlen nicht unbesehen übernehmen, sondern hat eine eigenständige Prüfungspflicht. Diese geht jedoch nicht so weit, dass er ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit der Aufstellungen und Einzelwerte die Richtigkeit jeder Einzelposition überprüfen müsste. Vielmehr darf er sich insoweit auf eine Plausibilitätskontrolle beschränken und muss dort weitere Nachforschungen anstellen, wo aufgeführte Positionen unvollständig bzw. die zu einzelnen Positionen angegebenen Zahlen zweifelhaft erscheinen.

(2)

104

Seiner Prüfungspflicht hat der Wahlvorstand im vorliegenden Fall genügt, indem er die Zahlen zu einzelnen Positionen (altersbedingtes Ausscheiden, Kündigungen, Aufhebungsverträge) mit den hierzu im Personalsystem hinterlegten Zahlen abgeglichen hat. Zu dem angegebenen Abbau von Zeitarbeitnehmern hat er Erkundigungen beim Betriebsrat eingezogen. Ferner hat er die Angaben zu geplanten Einstellungen von Auszubildenden mit den Vorgaben des bestehenden Ausbildungstarifvertrages und den Zahlen des Vorjahres abgeglichen. All dies ergibt sich aus den unbestritten gebliebenen Erläuterungen der zu diesem Punkt befragten Wahlvorstandsvorsitzenden L. im Rahmen der Anhörung vor der Beschwerdekammer. Aufgrund welcher konkreten Umstände der Wahlvorstand gleichwohl Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der aufgeführten Positionen bzw. Zahlen haben musste und somit seiner Prüfungspflicht nicht genügt haben soll, ist nicht ersichtlich. Das pauschale Bestreiten der aufgeführten Einzelwerte bietet bei dieser Sachlage keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen der Beschwerdekammer.

105

Soweit der Antragsteller zu 5 im Rahmen der Anhörung die betriebliche Möglichkeit der Inanspruchnahme sogen. Zeitwertpapiere in der Aufstellung nicht berücksichtigt sieht, vermochte die Kammer dem nicht zu folgen. Unstreitig kann ein aus dem Zeitwertpapier resultierendes Guthaben unmittelbar vor einem Ausscheiden aufgrund des Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze oder unmittelbar vor Eintritt in die Passivphase der Altersteilzeit in Anspruch genommen werden. Es verlagert damit den lediglich Zeitpunkt des tatsächlichen Ausscheidens vor. Die beiden Positionen "Ausscheiden aufgrund Altersrente" und "Übergang von aktiver in passive Phase der Altersteilzeit" sind in der vom Wahlvorstand zugrunde gelegten Aufstellung enthalten, wobei nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen der Wahlvorstandsvorsitzenden Lind im Personalsystem jeweils der spätestmögliche Zeitpunkt des Ausscheidens berücksichtigt ist.

cc)

106

Der Wahlvorstand hat unter Zugrundelegung der erhaltenen Zahlen im Ergebnis vertretbar eine Zahl regelmäßig Beschäftigter von weniger als 66.001 angenommen.

(1)

107

Da insbesondere in größeren Betrieben wie dem der Arbeitgeberin eine genaue Bestimmung der regelmäßigen Beschäftigtenzahl kaum möglich ist, weil sie nicht durch einfaches Abzählen der zufälligen Beschäftigtenzahl am Tag des Erlasses des Wahlausschreibens ermittelt werden kann, sondern es eines Rückblicks auf die bisherige personelle Stärke des Betriebes und einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung bedarf, ist dem Wahlvorstand bei der Feststellung ein gewisser Beurteilungsspielraum im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens eingeräumt (vgl. BAG 12.10.1976 - 1 ABR 1/76 -, BAGE 28, 203-212, Rn. 30).

(2)

108

Hiervon ausgehend war zwar in den letzten Jahren bis zum Erlass des Wahlausschreibens mit nur leicht rückläufiger Tendenz ein regelmäßiger Beschäftigtenstand von mehr als 67.000 Arbeitnehmern im Sinne des § 9 BetrVG für den Betrieb der Arbeitgeberin kennzeichnend. Da der Betriebsrat für die Zukunft gewählt wird, nicht für die Vergangenheit, durfte der Wahlvorstand der erwarteten Entwicklung allerdings eine maßgebliche Bedeutung beimessen (vgl. Richardi BetrVG/Thüsing, 17. Aufl. 2022, BetrVG § 9 Rn. 11a). Unter Berücksichtigung der unbestritten gebliebenen Angaben der hierzu befragten Wahlvorstandsvorsitzenden im Rahmen der Anhörung vor dem Beschwerdegericht erscheint die Bestimmung der Betriebsratsgröße durch den Wahlvorstand vertretbar. Danach befand sich die Arbeitgeberin im Personalabbau, der im Wesentlichen durch das Auslaufen des Einsatzes von Zeitarbeitnehmern sowie den Wegfall von Arbeitsplätzen altersbedingt ausscheidender Arbeitnehmer erfolgen sollte. Die Beendigung der betroffenen Arbeitsverhältnisse und der Wegfall er Arbeitsplätze stand bei Erlass des Wahlausschreibens fest. Dabei ist es nicht ermessensfehlerhaft bei den altersbedingt ausscheidenden Mitarbeitern auch diejenigen mitzuzählen, die von der aktiven Phase ihrer Altersteilzeit in die Freistellungsphase wechseln, obwohl sich aus deren fortbestehenden Arbeitsverhältnissen weiterhin Ansprüche ergeben. Mit dem Wechsel in die Freistellungsphase sind diese Arbeitnehmer nicht mehr in die Betriebsorganisation eingegliedert, ohne dass eine Rückkehr in den Betrieb vorgesehen ist. Im Anschluss an die Freistellungsphase treten sie unmittelbar in den Ruhestand. Damit endet die erforderliche tatsächliche Beziehung zum Betrieb und mit ihr die Betriebszugehörigkeit (BAG 16.04.2003 - 7 ABR 53/02 -, BAGE 106, 64-71, Rn. 22). Nichts Anderes gilt bei vorgeschalteter Inanspruchnahme von Zeitwertguthaben. Die Kammer hat Zweifel, ob darüberhinaus die in der Aufstellung enthaltenen Positionen "Geplante Einstellungen von Auszubildenden 2022 und 2023", "Zeitarbeitnehmer für Konzern-IT gemäß PR 70" sowie "Veränderungen gemäß PR 70" zu berücksichtigen sind, weil nicht erkennbar ist, dass diesen Zu- und Abgängen mehr als eine bloße Planung der sogen. Planungsrunde 70 bzw. tarifliche Vorgaben zugrunde liegen. Allerdings ergibt sich unter Außerachtlassung dieser Positionen mit rund 64.400 Arbeitnehmern eine noch geringere als die vom Wahlvorstand angenommene Zahl, für die sich nach der Staffelung des § 9 BetrVG ebenfalls ein 73-köpfiger Betriebsrat errechnen würde. Aber auch wenn man den vom Wahlvorstand zugrunde gelegten Prognosezeitraum für zu groß halten und auf das Jahr 2022 begrenzen wollte, war auf Grundlage der übermittelten Angaben mit einer Arbeitnehmerzahl im Grenzbereich von 66.000 zu rechnen, bei der sich die Einschätzung, es sei ein 73-köpfiger Betriebsrat zu wählen, als vertretbar erweisen würde.

III.

109

Die Kammer hat die Rechtsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen (§§ 92 Abs. 1, 72 Abs. 2 ArbGG).