Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 06.12.2023, Az.: 2 Sa 142/23

Mindestlohnvergütung für die Zeit der Rufbereitschaft; Ausübung der Rufbereitschaft in der eigenen Wohnung

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
06.12.2023
Aktenzeichen
2 Sa 142/23
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 54581
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2023:1206.2Sa142.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Celle - 18.01.2023 - AZ: 2 Ca 160/22

Amtlicher Leitsatz

Mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeit ist nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Bereitschaft. Dem gegenüber sind Zeiten der Rufbereitschaft als solche (anders die Inanspruchnahme während der Rufbereitschaft) keine vergütungspflichtige Arbeitszeit. Wenn der Arbeitsplatz die Wohnung des Arbeitnehmers einschließt oder mit ihr identisch ist, reicht der bloße Umstand, dass der Arbeitnehmer während der vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem Arbeitgeber erforderlichenfalls zur Verfügung stehen zu können, nicht aus, um diesen Zeitraum als Arbeitszeit im Sinne der RL 2003/88/EG einzustufen. In diesem Fall bedeutet das Verbot für den Arbeitnehmer, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, nämlich nicht zwangsläufig, dass er sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss. Außerdem ist ein solches Verbot für sich genommen weniger geeignet, diesem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu nehmen, während der Bereitschaftszeit über die Zeit, in der er nicht in Anspruch genommen wird, frei zu verfügen (vgl. EuGH, 9. September 2003 C 151/02 Rn. 65; EuGH, 9. März 2021 C 344/19 Rn. 43). Eine Bereitschaftszeit, die von Montag bis Donnerstag den Zeitraum von 16.15 Uhr bis 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages umfasst, betrifft einen Zeitraum, in dem ein Arbeitnehmer sich regelmäßig innerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhält und er infolge der Ortsbeschränkung kaum Einschränkungen bezüglich seines Freizeitverhaltens unterliegt. Da das von dem Arbeitnehmer im Streitfall zu betreuende Telefon auf den zuständigen Meister umsprang, sofern er den Anruf nicht bis zum 4. Klingelzeichen an genommen hatte, unterlag er keiner relevanten Einschränkung bezüglich seines Aufenthaltsortes während der eingeteilten Dienstzeit. Wenn ein Arbeitnehmer in einem Bereitschaftszeitraum vom Januar bis Mai 2022 lediglich 20 Anrufe entgegennimmt, stellt sich die Bereitschaftszeit auch unter Berücksichtigung der Kriterien Häufigkeit und Dauer des Einsatzes als Rufbereitschaft dar.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird das Teil-Urteil des Arbeitsgerichts Celle vom 18. Januar 2023 - 2 Ca 160/22 - abgeändert.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 63.579,12 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Vergütungsansprüche der Klägerin.

Die Klägerin war nach Maßgabe des Arbeitsvertrages vom 16. Juli 2012 mit Wirkung ab dem 1. Juli 2012 bei der Beklagten beschäftigt (Bl. 7 ff. d. A.). Die Parteien vereinbarten in § 1 des Arbeitsvertrages eine geringfügig entlohnte Beschäftigung "für die Tätigkeit als Meldestelle gemäß GW 1200".

Das Arbeitsblatt "GW 1200" befasst sich mit "Grundsätzen und Organisation des Entstörungsmanagements für Gasnetzbetreiber und Wasserversorgungsunternehmen". Vorgesehen ist darin, dass Vertreter des Versorgungsunternehmens binnen 30 Minuten nach der Störungsmeldung am Störungsort erscheinen.

Bei der Beklagten existiert eine Arbeitsanweisung "Rufbereitschaft und Meldestelle". Darin heißt es u.a. (Bl. 59 ff d. A.).

"...

3.1 Meldestelle

Die Störungs-Nummer ... der Meldestelle ist veröffentlicht. Während der Dienstzeit ist technische Verwaltung/Meldestelle der Stadtwerke A-Stadt GmbH, Meldestelle. Außerhalb der Dienstzeit wird die Meldestelle, gemäß dem aktuellen Rufbereitschaftsplan, durch Externe abgesichert.

...

Meldestelle außerhalb der Dienstzeit

Die Dienstzeiten der externen Meldestelle

Montag - Donnerstag 16:15 Uhr - 7:00 Uhr des darauffolgenden Tages

Freitag 12:15 Uhr bis Montag 07:00 Uhr der folgenden Woche und an gesetzlichen Feiertagen.

...

Störungsweitergabe

...

Ab 16:15 Uhr informiert die Meldestelle die Rufbereitschaft über das "Bereitschaftshandy" und ggf. bei Nichterreichbarkeit den "Cityruf-Empfänger Rufbereitschaft". Der Mitarbeiter hat sich nach Benachrichtigung unverzüglich an die Störungsstelle zu begeben.

Dokumentation der Störungs- bzw. Schadensmeldung

Das vollständig ausgefüllte Störungsprotokoll ist unverzüglich am nächsten Arbeitstag dem Vorgesetzten vorzulegen.

..."

Für die Tätigkeit der externen Meldestelle erstellte die Beklagte jeweils einen jährlichen "Rufbereitschaftsplan Meldestelle nach Dienstschluss" (vgl. Bl. 57, 58 d. A.). Neben der Klägerin beschäftigte die Beklagte drei weitere Mitarbeiter für die externe Meldestelle. Die Beklagte stellte der Klägerin für ihre Meldedienste einen auf die Beklagte laufenden Telefonanschluss in der Wohnung der Klägerin zur Verfügung sowie eine kleine Telefonanlage, bestehend aus zwei Festnetztelefonen, einem Telefon mit Basisstation und einem Mobilteil mit einer Reichweite von 300 m sowie einem Faxgerät. Konnte die Klägerin in Zeiten ihrer Einteilung die Tätigkeit nicht verrichten, stellte sie ihr Telefon nach Absprache auf dasjenige eines anderen der drei Kollegen um, die ebenfalls als Meldestelle fungierten. Einer Abstimmung mit der Beklagten hierzu bedurfte es nicht. Sofern die Klägerin einen Anruf spätestens bis zum 4. Klingelton nicht annahm, sprang das Telefon aufgrund einer entsprechenden technischen Vorrichtung auf den diensthabenden Meister im Betrieb um. Die Klägerin erzielte zuletzt eine monatliche Bruttovergütung in Höhe von 100,00 €.

Ab dem 1. Juni 2022 hat die Beklagte die Störungsannahme außerhalb der Geschäftszeit an einen externen Dienstleister vergeben. Das Arbeitsverhältnis der Parteien endete mit Ablauf des 28. Februar 2023.

Die Klägerin leistete im Jahr 2019 insgesamt 17 Bereitschaftswochen, im Jahr 2020 18 Bereitschaftswochen, im Jahr 2021 18 Bereitschaftswochen und im Jahr 2022 7 Bereitschaftswochen.

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin für jeweils 119,74 Arbeitsstunden wöchentlich den jeweiligen Mindestlohn unter Anrechnung der bezogenen Vergütung. Sie hat die Ansicht vertreten, bei den geleisteten Tätigkeiten habe es sich um Bereitschaftsdienst gehandelt.

Wegen des unstreitigen Sachverhaltes, der streitigen erstinstanzlichen Behauptungen, der konträren Rechtsauffassungen, der geltend gemachten Ansprüche sowie des gesamten erstinstanzlichen Sachverhaltes im Übrigen wird auf den Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils, S. 2 - 3 desselben, Bl. 127 - 128 d. A. Bezug genommen.

Mit Teil-Urteil vom 18. Januar 2023 hat das Arbeitsgericht Celle - soweit für das Berufungsverfahren von Interesse - der Klage stattgegeben. Der Klägerin stehe gemäß § 611 a Abs. 2 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag und i.V.m. mit §§ 20, § 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 MiLoG ein Anspruch gegen die Beklagte in Höhe von 63.519,12 € brutto zu. Die Anspruchshöhe bestimme sich gemäß § 11 Abs. 2 MiLoG in Verbindung mit den entsprechenden Mindestlohnanpassungsverordnungen in der von der Klägerin im Rechenwerk zutreffend zu Grunde gelegten Höhe, und zwar "je Zeitstunde" im Sinne von § 1 Abs. 2 MiLoG.

Entgegen der Ansicht der Beklagten habe es sich bei den von der Klägerin geleisteten Diensten nicht um Rufbereitschaft gehandelt. Die Beklagte habe nicht dargelegt, dass für die Klägerin eine Zeitvorgabe von 20 Minuten oder mehr bestanden habe, nach deren Ablauf sie erst den Anruf mit einer Störungsmeldung habe annehmen müssen. Ohne einen solchen Vortrag der Beklagten zu einer derart großzügigen Zeitvorgabe könne nicht davon ausgegangen werden, dass es sich um Rufbereitschaft gehandelt habe. Für die Frage der Einordnung der Arbeitspflicht der Klägerin als (voll vergütungspflichtige) Arbeitsbereitschaft bei Vollarbeit oder Rufbereitschaft komme es auch nicht darauf an, ob eine Anweisung bestanden habe, dass das Telefon spätestens beim 4. Klingelton habe abgenommen werden müssen oder nicht. Unerheblich sei auch, ob nach dem 4. Klingeln das Telefon auf einen Meister übergegangen sei oder nicht. Anhand der vom Beklagtenvertreter im Kammertermin zu Recht angesprochenen technischen Zeitbegrenzung eines Anrufes ergebe sich, dass der Anruf weit vor Ablauf von acht, erst recht weit vor Ablauf von 20 Minuten durch Besetztzeichen beendet werde, wenn niemand das Telefon abhebe. Bei genauer Betrachtung habe die Tätigkeit der Klägerin nichts Anderes als Vollarbeit dargestellt. Vereinbart sei eine Tätigkeit der Klägerin "als Meldestelle". Dies sei wie bei einem Pförtner, der einen offenen oder verschlossenen Werkseingang betreue. Vollarbeit liege bei diesen auch nicht nur dann vor, wenn ein Besucher Einlass begehre, sondern auch dann, wenn der Pförtner schlicht sitze und warte. Komme kein Besucher, leiste der Pförtner nicht etwa Rufbereitschaft oder Bereitschaftsdienst, sondern eben auch Vollarbeit. Zumindest habe es sich bei der Tätigkeit der Klägerin um Bereitschaftsdienst gehandelt. Dieser sei mit dem Mindestlohn zu vergüten. Der Höhe nach sei das Rechenwerk der Klägerin nicht zu beanstanden. Die Ansprüche der Klägerin seien auch nicht verfallen.

Das Teil-Urteil ist der Beklagten am 24. Januar 2023 zugestellt worden. Hiergegen hat sie mit einem am 24. Februar 2023 beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt und diese mit einem am 24. April 2023 eingegangenen Schriftsatz begründet, nachdem zuvor auf ihren Antrag vom 14. März 2023 durch Beschluss vom 15. März 2023 die Berufungsbegründungsfrist bis zum 24. April 2023 verlängert worden war.

Mit ihrer Berufung verfolgt die Beklagte ihr erstinstanzliches Ziel der Klagabweisung weiter. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen. Die Klägerin sei nicht als Meldestelle gemäß GW 1200 tätig geworden. Richtig sei, dass die Beklagte die Verpflichtung habe, die in der GW 1200 beschriebenen Anforderungen an den Betrieb einer Meldestelle zu erfüllen. Die weitreichendste aller Anforderungen an die Meldestelle sei dabei, dass zur Beseitigung einer Störung binnen 30 Minuten nach der Meldung die Störungsbeseitigung am Störungsort beginnen müsse. Die Klägerin habe aber keine Mechaniker zum Dienst eingeteilt und irgendwohin geschickt. Sie habe weder selbst irgendeine Störung beseitigt noch sei sie mit der Einschätzung der Störungsmeldung befasst gewesen. Ihre Aufgabe habe nur darin bestanden, in ihrer häuslichen Umgebung nach Verfügbarkeit für die Entlastung des diensthabenden zuständigen Meisters der Fachabteilung zu sorgen, indem sie das Telefon abgenommen habe, wenn sie zu Hause gewesen sei und das Klingeln des Telefons rechtzeitig gehört habe. Diese lediglich der Entlastung des diensthabenden Meisters dienende Einrichtung zeige sich schon durch den Umstand, dass die ihr zur Verfügung gestellten Telefone aufhörten zu klingeln, wenn die Klägerin nicht innerhalb von vier Klingelzeichen das Telefon erreicht habe. Die Klägerin habe nicht die von ihr behaupteten 119,75 Arbeitsstunden wöchentlich geleistet. In dem Zeitraum von Januar bis Mai 2022 habe sie lediglich 20 Anrufe angenommen, bei denen vielleicht 100 Arbeitsminuten angefallen seien. Richtig sei, dass den für die Entgegennahme von Anrufen zuständigen Personen ein Rufbereitschaftsplan zur Verfügung gestellt worden sei. Anhand dieses Planes hätten die einzelnen Personen erkennen können, bei wem das Telefon im Falle eines Anrufes zunächst klingeln werde. Dabei hätten die vier Personen das Telefon nach freiem Belieben auf eine andere Person umstellen können, wenn sie aus beliebigen privaten Gründen das Telefon nicht hätten abnehmen können oder wollen.

Bei der Tätigkeit der Klägerin habe es sich nicht um Bereitschaftsdienst, sondern lediglich um Rufbereitschaft gehandelt. Entgegen der Ansicht des Arbeitsgerichtes habe es sich nicht um Vollarbeit gehandelt. Das Arbeitsgericht habe den Beginn der Arbeit nicht dort gesehen, wo ein Anruf entgegengenommen werde, sondern bereits in den Umstand hineingedeutet, dass die Klägerin Anrufe habe entgegennehmen müssen. Rufbereitschaft bedeute, sich für einen Ruf bereit zu halten. Nach keiner Betrachtungsweise könne die Rufbereitschaft ohne ein wie auch immer geartetes Signal an den Betroffenen enden. Der Wechsel von der Rufbereitschaft in die Arbeit erfordere eine Mitteilung an den Arbeitnehmer. Sich zuhause für einen Anruf bereit zu halten, soweit man dies möchte und nicht gerade aus beliebigen Gründen dies durch jemand anders erledigen lasse, sei keine Vollarbeit. Unzutreffend gehe das Arbeitsgericht in der angefochtenen Entscheidung davon aus, dass sich die Klägerin in der Nähe des Arbeitsplatzes habe aufhalten müssen. Die Klägerin habe sich jederzeit nach Belieben von ihrem Zuhause entfernen dürfen und selbst, wenn sie zuhause gewesen sei, habe sie Anrufe dann nicht entgegengenommen, wenn sie spätestens nach dem vierten Klingelzeichen das Telefon (also etwa nach 12 Sekunden) nicht abgenommen habe.

Die Beklagte beantragt,

das Teil-Urteil des Arbeitsgerichtes Celle vom 18. Januar 2023 - 2 Ca 160/22 - abzuändern, soweit es der Klage stattgegeben hat und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerin verweist darauf, dass sie nach dem Arbeitsvertrag für die Tätigkeit als Meldestelle gemäß GW 1200 eingestellt worden sei. Ihre Arbeitszeiten hätten sich aus der Arbeitsanweisung ergeben: Montag bis Donnerstag 16.15 Uhr bis 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages, freitags 12.15 Uhr bis montags 7.00 Uhr der folgenden Woche und an gesetzlichen Feiertagen. Wenn sie durch die Pläne als Meldestelle nach Dienstschluss eingeteilt worden sei, habe sie diese Tätigkeiten auch durchgeführt. In der Arbeitsanweisung werde sehr sorgfältig zwischen der Meldestelle, der Rufbereitschaft und der Meisterbereitschaft unterschieden. Jede dieser Tätigkeiten werde einer anderen Aufgabe zugeordnet. Sie und ihre Kollegen seien diejenigen gewesen, die den Anruf bei Störungen hätten entgegennehmen müssen und hierfür eine Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit in der Zeit, in der sie als Meldestelle tätig gewesen seien, hätten hinnehmen müssen. Es habe nicht in ihrer Entscheidungsgewalt gelegen, ob sie einen eingehenden Anruf angenommen habe oder nicht. Das Annehmen der Telefonate bis zum

4.Klingelzeichen gehöre zu der vertraglichen Verpflichtung, die sie durch den Arbeitsvertrag mit der Beklagten übernommen habe. Daher sei sie auch immer verpflichtet gewesen, sich in Hörweite des Telefons bzw. des Handys aufzuhalten, selbst im Badezimmer. Es habe auch mehr als die von der Beklagten behaupteten fünf Anrufe pro Monat gegeben. Selbstverständlich habe sie auch häufiger das Unternehmen aufsuchen müssen, beispielsweise für Dienstbesprechungen. Zudem habe sie Formulare abgeben müssen, in denen die während der Meldestelle angefallenen Störungen dokumentiert worden seien. Änderungen im Dienstplan seien äußerst selten vorgenommen worden und hätten gegenüber der Beklagten angemeldet werden müssen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst den zu Akten gereichten Anlagen sowie auf das Protokoll der Kammerverhandlung vom 6. Dezember 2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

A.

Die gemäß § 64 Abs. 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und damit zulässig (§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519, 520 ZPO). Die Berufungsbegründung genügt den Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 - 4 ZPO. Sie lässt erkennen, in welchen Punkten tatsächlicher und rechtlicher Art nach Ansicht der Beklagten das angefochtene Urteil unrichtig ist und worauf dies im Einzelnen beruht.

B.

Die Berufung ist begründet. Die Klage ist unbegründet.

I.

Der Klägerin steht gegen der Beklagten kein Anspruch gemäß § 611 a Abs. 2 BGB i.V.m. dem Arbeitsvertrag und i.V.m. mit §§ 20, § 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 MiLoG in Höhe von 63.519,12 € brutto zu. Bei der streitbefangenen Tätigkeit der Klägerin handelte es sich nicht um Bereitschaftsdienst, sondern um Rufbereitschaft.

1.

Nach deutschem Mindestlohnrecht schuldet der Arbeitgeber den gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde. Der Mindestlohn ist für alle Stunden, während derer der Arbeitnehmer die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeit erbringt, zu zahlen. Mit dem Mindestlohn zu vergütende Arbeit ist nicht nur die Vollarbeit, sondern auch die Bereitschaft.

Der Arbeitnehmer kann während des Bereitschaftsdienstes nicht frei über die Nutzung dieses Zeitraums bestimmen, sondern muss sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort bereithalten, um im Bedarfsfalle die Arbeit von sich aus (Arbeitsbereitschaft) oder "auf Anforderung" (Bereitschaftsdienst) aufzunehmen. Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst sind nicht nur arbeitsschutzrechtlich Arbeitszeit, sondern nach inländischem Recht vergütungspflichtige Arbeit. Denn zu dieser zählt auch die vom Arbeitgeber veranlasste Untätigkeit, während der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz oder einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle anwesend sein muss und nicht frei über die Nutzung des Zeitraumes bestimmen kann, er also weder eine Pause

(§ 4 ArbZG) noch Freizeit hat (BAG, 24. Juni 2021 - 5 AZR 505/20 - Rn. 34, 35).

2.

Dem gegenüber stellen Zeiten der Rufbereitschaft als solche (anders die Inanspruchnahme während der Rufbereitschaft) keine Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes dar. Unter Rufbereitschaft wird eine besondere Form des Bereithaltens zur Arbeit verstanden. Der Arbeitnehmer hat, ohne am Arbeitsplatz anwesend sein zu müssen, ständig für den Arbeitgeber erreichbar zu sein, um auf Abruf die Arbeit aufnehmen zu können. Im Gegensatz zum Bereitschaftsdienst, der im Bedarfsfall die sofortige Arbeitsaufnahme ermöglichen soll und bei der sich deshalb der Arbeitnehmer an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufzuhalten hat, erlaubt Rufbereitschaft dem Arbeitnehmer grundsätzlich die Gestaltung seiner an sich arbeitsfreien Zeit. Er kann sich während der Rufbereitschaft um persönliche und familiäre Angelegenheiten kümmern, an sportlichen und kulturellen Veranstaltungen teilnehmen, sich mit Freunden treffen etc. Während der Rufbereitschaft darf der Arbeitnehmer deshalb seinen Aufenthaltsort grundsätzlich selbst bestimmen. Völlig frei ist er dabei aber nicht. Der Zweck der Rufbereitschaft besteht gerade darin, dass der Arbeitnehmer in der Lage sein muss, die Arbeit innerhalb einer angemessenen Zeitspanne auf Abruf aufnehmen zu können. Kennzeichnend für Rufbereitschaft ist daher, dass zwischen dem Abruf und der Arbeitsaufnahme nur eine solche Zeitspanne liegen darf, deren Dauer den Einsatz nicht gefährdet und die Arbeitsaufnahme im Bedarfsfall gewährleistet. Der Arbeitnehmer darf sich nicht mit einer Entfernung vom Arbeitsort aufhalten, die dem Zweck der Rufbereitschaft zuwiderläuft. Die Eingrenzung der freien Wahl des Aufenthaltsortes und damit einhergehend die Möglichkeit zur Gestaltung der Zeit der Rufbereitschaft ist vielmehr ein Wesensmerkmal dieses Dienstes (BAG, 25. März 2021 - 6 AZR 264/20 - Rn. 14; BAG, 27. Juli 2021 - 9 AZR 448/20 - Rn. 46). Erhebliche Einschränkungen durch die konkrete Ausgestaltung der Rufbereitschaft und besondere Vorgaben (z. B. kurze Reaktionszeiten) sind mit dem Wesen der Rufbereitschaft jedoch nicht vereinbar. Dies ergibt die unionsrechtskonforme Auslegung des Arbeitszeitgesetzes, welches der Umsetzung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben der RL 2003/88/EG dient. Nach deren Artikel 2 Abs. 1 ist Arbeitszeit jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt. Demgegenüber ist Ruhezeit nach Artikel 2 Abs. 2 RL 2003/88/EG jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit. Die Begriffe "Arbeitszeit" und "Ruhezeit" schließen einander aus. Die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers ist deshalb arbeitszeitrechtlich entweder als Arbeitszeit oder als Ruhezeit einzustufen, weil die RL 2003/88/EG keine Zwischenkategorie vorsieht (vgl. EuGH, 9. März 2021 - C - 344/19 - Rn. 29 m. w. N.).

Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft, bei der der Arbeitnehmer während dieser Zeit nicht an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, ist insgesamt als Arbeitszeit einzustufen, wenn dem Arbeitnehmer Einschränkungen auferlegt werden, die ihn bei objektiver Betrachtung ganz erheblich darin beeinträchtigen, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen in Anspruch genommen werden können, frei gestalten und sich eigenen Interessen widmen zu können. Erreichen dagegen die dem Arbeitnehmer während einer bestimmten Bereitschaftszeit auferlegten Einschränkungen nicht diesen Intensitätsgrad und erlauben sie es ihm, über seine Zeit zu verfügen und sich ohne größere Einschränkungen seinen eigenen Interessen zu widmen, stellen nur die Zeiten tatsächlich erbrachter Arbeitsleistung Arbeitszeit dar (vgl. EuGH, 9. März 2021 - C - 344/19 - Rn. 36 ff. m. w. N.; BAG, 27. Juli 2021 - 9 AZR 448/20 - Rn. 47).

Die ständige Erreichbarkeit während der Bereitschaftszeit ist aber dann als Arbeitszeit im arbeitsrechtlichen Sinne zu bewerten, wenn der Arbeitnehmer in Anbetracht der ihm eingeräumten sachgerechten Frist für die Wiederaufnahme seiner beruflichen Tätigkeit seine persönlichen sozialen Aktivitäten nicht planen kann. Dem gegenüber ist Bereitschaftszeit, in der die Arbeit in nur wenigen Minuten aufzunehmen ist, grundsätzlich in vollem Umfang als Arbeitszeit anzunehmen, da der Arbeitnehmer in diesem Fall in der Praxis weitgehend davon abgehalten wird, irgendeine auch nur kurzzeitige Freizeitaktivität zu planen. Bereitschaftszeit, die ein Arbeitnehmer zuhause verbringt und während der er verpflichtet ist, einem Ruf des Arbeitgebers zum Einsatz innerhalb von 8 Minuten Folge zu leisten, schränkt beispielsweise in erheblichem Maße seine Möglichkeit ein, anderen Tätigkeiten nachzugehen, und ist als Arbeitszeit anzusehen. Das Bundesarbeitsgericht hat auch Reaktionszeiten von 10 Minuten (BAG, 19. Dezember 1991 - 6 AZR 592/89 - zu II 2 der Gründe) und 20 Minuten (BAG, 31. Januar 2002 - 6 AZR 214/00 - zu B I 2 der Gründe) zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme für zu kurz befunden. Ein Zeitraum von ca. 25 - 30 Minuten stehe einer Rufbereitschaft hingegen nicht entgegen (BAG, 31. Januar 2002 - 6 AZR 214/00 - zu B I 2 der Gründe).

3.

Bei der Beurteilung, ob die Bereitschaftszeit als Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne zu qualifizieren ist, fällt außerdem die durchschnittliche Häufigkeit der tatsächlichen Inanspruchnahme während der Bereitschaftszeiten ins Gewicht. Ein Arbeitnehmer, der während seiner Bereitschaftszeit im Durchschnitt zahlreiche Einsätze zu leisten hat, verfügt über einen nur geringen Spielraum, um seine Zeit während der Perioden der Inaktivität frei zu gestalten, weil diese häufig unterbrochen werden. Dies gilt umso mehr, wenn die Einsätze von nicht unerheblicher Dauer sind. Wird der Arbeitnehmer während seiner Bereitschaftszeiten im Durchschnitt nur selten in Anspruch genommen, liegt gleichwohl Arbeitszeit im arbeitszeitrechtlichen Sinne vor, wenn die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist hinreichende Auswirkungen hat, um seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen erheblich einschränken (vgl. EuGH, 9. März 2021 C - 344/19 - Rn. 51 ff.; BAG, 27. Juli 2021 - 9 AZR 448/20 - Rn. 49 - 50).

4.

Bei der gebotenen Anwendung vorstehender Grundsätze handelt es sich bei der streitbefangenen Tätigkeit der Klägerin nicht um Bereitschaftsdienst, sondern um Rufbereitschaft.

Wenn der Arbeitsplatz die Wohnung des Arbeitnehmers einschließt oder - wie vorliegend - mit ihr identisch ist, reicht der bloße Umstand, dass der Arbeitnehmer während der vorgegebenen Bereitschaftszeit an seinem Arbeitsplatz bleiben muss, um dem Arbeitgeber erforderlichenfalls zur Verfügung stehen zu können, nicht aus, um diesen Zeitraum als "Arbeitszeit" im Sinne der RL 2003/88/EG einzustufen. In diesem Fall bedeutet das Verbot für den Arbeitnehmer, seinen Arbeitsplatz zu verlassen, nämlich nicht zwangsläufig, dass er sich außerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhalten muss. Außerdem ist ein solches Verbot für sich genommen weniger geeignet, diesem Arbeitnehmer die Möglichkeit zu nehmen, während der Bereitschaftszeit über die Zeit, in der er nicht in Anspruch genommen wird, frei zu verfügen (vgl. EuGH, 9. September 2003 - C - 151/02 - Rn. 65; EuGH, 9. März 2021 - C - 344/19 - Rn. 43). Hinzu kommt vorliegend, dass die Bereitschaftszeit der Klägerin von Montag bis Donnerstag den Zeitraum von 16.15 Uhr bis 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages umfasste, mithin einen Zeitraum, in dem ein Arbeitnehmer sich regelmäßig innerhalb seines familiären und sozialen Umfelds aufhält und er infolge der Ortsbeschränkung kaum Einschränkungen bezüglich seines Freizeitverhaltens unterliegen dürfte. Ferner ist zu berücksichtigen, dass die der Klägerin von der Beklagten zur Verfügung gestellte Telefonanlage ein Mobilteil mit einer Reichweite von 300 m umfasste. Insoweit unterlag die Klägerin während der Dienstzeit keiner Einschränkung des Aufenthaltsortes. Sie konnte in dem Rahmen von 300 m in ihrem familiären und sozialen Umfeld ihre Freizeit frei gestalten. Der Zeitraum von 16.15 Uhr bis 7.00 Uhr des darauffolgenden Tages umfasst zudem einen Zeitraum, in dem die Geschäfte überwiegend geschlossen sind. Von Montag bis Donnerstag verblieb der Klägerin von 7.01 Uhr bis 16.14 Uhr ein großer Zeitraum, in dem sie keine Einschränkungen ihres Freizeitverhaltens hinnehmen müsste. Auch soweit die Klägerin darauf abstellt, dass sie vorhersehbare Termine, wie z. B. Arztbesuche außerhalb des Zeitraumes des Bereitschaftsdienstes gelegt habe, zeigt dies, dass mit der Übernahme des Bereitschaftsdienstes keine wesentlichen Einschränkungen ihres Freizeitverhaltens verbunden war. Die Klägerin hat nicht dargelegt, dass sie aufgrund der Zeiten des Bereitschaftsdienstes nur unter erheblichen Schwierigkeiten Arztbesuche wahrnehmen konnte. Die Klägerin hat auch nicht dargelegt, dass sie im Falle der Einteilung an den Wochenenden erhebliche Einschränkungen bei ihrem Freizeitverhalten hinnehmen musste. Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass sie Familienfeiern nicht besucht habe, hat sie mit dem Polterabend ihrer Tochter lediglich einen Einzelfall benannt.

Bezüglich des Kriteriums "Reaktionszeit" ist zu berücksichtigen, dass das Telefon auf den zuständigen Meister umsprang, sofern die Klägerin den Anruf nicht bis zum 4. Klingelzeichen angenommen hatte. Unter Berücksichtigung dieses Umstandes unterlag die Klägerin keiner relevanten Einschränkung bezüglich ihres Aufenthaltsortes während der eingeteilten Dienstzeit.

Bei der Beurteilung des Sachverhaltes ist ferner zu berücksichtigen, dass es der Klägerin möglich war, das Telefon auf einen der drei anderen Mitarbeiter umzustellen, die neben der Klägerin den Bereitschaftsdienst wahrgenommen haben.

Auch bei Anwendung der Kriterien Häufigkeit und Dauer eines Einsatzes stellt sich die von der Klägerin wahrgenommene Bereitschaftszeit als Rufbereitschaft dar. Die von der Beklagten vorgetragenen 20 Anrufe in dem Zeitraum Januar bis Mai 2022 stellen durchschnittlich vier Anrufe monatlich dar, entsprechend einem Anruf pro Woche. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang geltend macht, sie habe viel mehr Anrufe entgegengenommen und habe zu Dienstbesprechungen die Beklagte persönlich aufsuchen müssen, hat sie dieses Vorbringen nicht weiter vertieft und auch nicht unter Beweis gestellt. Auch soweit die Beklagte vorgetragen hat, dass bei der Entgegennahme der 20 Anrufe im Zeitraum vom Januar bis Mai 2022 etwa 100 Arbeitsminuten angefallen sind, hat die Klägerin nicht dargelegt, dass die Entgegennahme eines Anrufes durchschnittlich mehr als 5 Minuten Zeit in Anspruch genommen hat.

Im Hinblick darauf, dass die Klägerin in dem Zeitraum vom Januar bis Mai 2022 lediglich 20 Anrufe entgegengenommen hat, kann auch nicht festgestellt werden, dass die Dauer der Bereitschaftszeit eine Gefahr für die Sicherheit oder die Gesundheit der Klägerin dargestellt haben.

Unter Berücksichtigung sämtlicher Kriterien unterlag die Klägerin während ihrer Bereitschaftszeit in Form von Rufbereitschaft objektiv gesehen nicht so erheblichen Einschränkungen, dass sie ihre Zeit, in der ihre beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen wurden, nicht hinreichend frei gestalten und sich eigenen Interessen widmen konnte. Die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Klägerin hat auch nicht dargelegt, dass die während der Rufbereitschaft erbrachten Arbeitsleistungen nicht mit dem gesetzlichen Mindestlohn für jede tatsächlich geleistete Arbeitsstunde vergütet worden sind.

II.

Auch das weitere Vorbringen der Parteien, auf das in diesem Urteil nicht mehr besonders eingegangen wird, weil die Entscheidungsgründe gemäß § 313 Abs. 3 ZPO lediglich eine kurze Zusammenfassung der tragenden Erwägungen enthalten sollen, führt nicht zu einem abweichenden Ergebnis.

Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das angefochtene Urteil abzuändern und die Klage abzuweisen.

C.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO. Dabei war nur über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden. Die erstinstanzlichen Kosten hat das Arbeitsgericht Celle mit rechtskräftigem Beschluss vom 14. März 2023 der Beklagten auferlegt.

Die Festsetzung des Streitwertes für das Berufungsverfahren beruht auf § 3 ff. ZPO und entspricht dem Wert der bezifferten Klagforderung.

Gründe, die Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG zuzulassen, liegen nicht vor. Gegen dieses Urteil ist kein Rechtsmittel gegeben. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72 a ArbGG wird hingewiesen).