Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.11.2023, Az.: 5 Sa 178/23
Feststellung des Vorliegens eines Arbeitsverhältnisses auf Basis einer möglicherweise bestehenden verdeckten Leiharbeit
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 09.11.2023
- Aktenzeichen
- 5 Sa 178/23
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2023, 50843
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LAGNI:2023:1109.5Sa178.23.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover - 19.01.2023 - AZ: 13 Ca 305/20
Rechtsgrundlage
- § 1 Abs. 3 AÜG
Amtlicher Leitsatz
Ob § 1 Abs. 3 AÜG europarechtswidrig ist, kann ausdrücklich dahingestellt bleiben
Tenor:
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 19.01.2023 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass das Versäumnisurteil vom 15.03.2022 unter Zurückweisung des Einspruches aufrechterhalten wird.
Die Kosten der Berufung hat der Kläger zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen auf Basis einer möglicherweise bestehenden verdeckten Leiharbeit ein Arbeitsverhältnis besteht.
Der Kläger war vom 00.00.2018 bis zum 00.00.2020 als Sitzefertiger bei der Firma S. (im Folgenden: S.) mit Sitz in Wolfsburg beschäftigt. Während seiner Tätigkeit war er in dem Werk der Beklagten in Hannover eingesetzt, wobei die Firma S. in diesem Werk der Beklagten einen Bereich hatte, in dem sie ihre unternehmerische Tätigkeit ausübte. Die näheren Einzelheiten sind zwischen den Parteien streitig. Die Voraussetzungen einer Arbeitnehmerüberlassung lagen nicht vor. Die Firma S. und die Beklagte waren jedenfalls in der Zeit vom 00.00.2018 bis zum 00.00.2020 konzernverbunden.
Die Parteien streiten darüber, ob der Einsatz - wie von der Beklagten behauptet - durch eine ordnungsgemäße Umsetzung eines Werk- bzw. Dienstvertrages erfolgte oder - so die Auffassung des Klägers - ein solcher nicht bestand und daher zwischen den Parteien dieses Rechtsstreits ein Arbeitsverhältnis begründet worden ist.
Der Kläger hat mit seiner Klage die Feststellung eines Arbeitsverhältnisses zu der Beklagten begehrt, hilfsweise für den Fall des Obsiegens die Beschäftigung als Sitzefertiger. Er hat behauptet, es habe eine Durchmischung und fehlende Abtrennbarkeit der verschiedenen Arbeitsaufgaben und -bereiche gegeben, auch habe er von Mitarbeitern der Beklagten Weisungen erhalten.
Im ersten Kammertermin am 15.03.2022 hat das Arbeitsgericht die Klage im Wege eines Versäumnisurteils abgewiesen. Hiergegen hat der Kläger mit einem am 23.03.2022 beim Arbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz Einspruch eingelegt, nachdem das Versäumnisurteil am 17.03.2022 zugestellt worden war.
Wegen weiterer Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils (dort Blatt 2 und 3 desselben, Blatt 270 und 271 der GA) verwiesen.
Mit Urteil vom 19.01.2023 hat das Arbeitsgericht die Klage abgewiesen. Wegen der genauen Einzelheiten der rechtlichen Würdigung wird auf die Entscheidungsgründe dieses Urteils (dort Blatt 3 und 4 desselben, Blatt 271 und 272 der GA) verwiesen.
Dieses Urteil ist dem Kläger am 08.02.2023 zugestellt worden. Mit einem am 08.03.2023 beim Landesarbeitsgericht eingegangenen Schriftsatz hat er Berufung eingelegt und diese mit einem am 11.04.2023 eingegangenen Schriftsatz begründet (Eingang: Dienstag nach Ostern).
Mit seiner Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen. Er rügt, das angefochtene Urteil habe zu seinen Lasten seine Vortragslast überspannt und die Grundsätze der sekundären Darlegungslast auf Seiten der Beklagten nicht ausreichend beachtet.
Er beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 19.01.2023, Az. 13 Ca 305/20, abzuändern und das Versäumnisurteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 15.03.2022 aufzuheben und festzustellen, dass zwischen den Parteien seit dem 01.06.2018 ein unbefristetes Arbeitsverhältnis zustande gekommen ist,
hilfsweise für den Fall der Stattgabe des Feststellungsantrages,
die Beklagte zu verurteilen, ihn als Sitzefertiger zu beschäftigen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil und beruft sich insbesondere auch auf das bei der Arbeitnehmerüberlassung geltende Konzernprivileg.
Wegen weiterer Einzelheiten des Vorbringens der Parteien in der Berufung wird auf ihre Schriftsätze vom 11.04., 12.07., 24.10., 01.11. und 06.11.2023 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
A.
Die Berufung ist zulässig. Sie ist statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 64, 66 ArbGG und §§ 519, 520 ZPO).
Insbesondere wahrt die Dienstag nach Ostern eingegangene Berufungsbegründung die Frist des § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG gem. §§ 193 BGB, 222 ZPO.
B.
Die Berufung ist unbegründet. Zutreffend hat das angefochtene Urteil ein Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien verneint. Deshalb konnten Klage und Berufung keinen Erfolg haben. Allerdings kommt es auf die Einzelheiten der Weisungsgebundenheit nicht an. Zu Gunsten der Beklagten streitet das Konzernprivileg gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG, so dass die Schutzvorschriften des AÜG, insbesondere die §§ 9 und 10 AÜG, keine Anwendung finden.
Im Einzelnen:
I.
Bei der Tenorierung des zweitinstanzlichen Urteils war, wie der Kläger zu Recht in der Berufung ausgeführt hat, das erstinstanzlich zu seinen Lasten ergangene Versäumnisurteil zu berücksichtigen.
1.
Der Einspruch gegen dieses Versäumnisurteil ist zulässig gewesen. Er ist statthaft sowie insgesamt form- und fristgerecht eingelegt worden. Durch ihn ist der Prozess in der Lage der Säumnis zurückversetzt worden (§§ 342, 338, 339, 340 ZPO).
2.
Gemäß § 343 Satz 1 ZPO war neben der Zurückweisung der Berufung auch auszusprechen, dass das ursprünglich ergangene klageabweisende Versäumnisurteil unter Zurückweisung des Einspruches aufrechtzuerhalten war.
II.
Zwischen den Parteien dieses Rechtsstreits ist unter keinem rechtlich denkbaren Gesichtspunkt ein Arbeitsverhältnis begründet worden. Dies führt dann dazu, dass der unechte Hilfsantrag dem Berufungsgericht nicht zur Entscheidung anfiel.
Ein Arbeitsverhältnis ist insbesondere nicht nach §§ 10 Abs. 1 i. V. m. 9 Abs. 1 Ziffer 1a AÜG, der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage, begründet worden. In diesem Zusammenhang kommt es auf die Problematik der Eingliederung bzw. Weisungsgebundenheit des Klägers gegenüber Arbeitnehmer der Beklagten nicht an.
Zu Gunsten der Beklagten streitet das Konzernprivileg gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG, so dass die Schutzvorschriften des AÜG keine Anwendung finden.
1.
Die Voraussetzungen des Konzernprivilegs sind gegeben. Insbesondere waren die Beklagte und die Firma S. im streitgegenständlich erheblichen Zeitpunkt konzernverbunden und der Kläger ist nicht von der Firma S. zum Zwecke der Überlassung eingestellt und (kumulativ) beschäftigt worden.
2.
§ 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG ist auch von der erkennenden Berufungskammer anzuwenden. In diesem Zusammenhang kann ausdrücklich auf sich beruhen, ob das in dieser Vorschrift genannte Konzernprivileg europarechtswidrig ist. Denn die Richtlinie 2008/104/EG über Leiharbeit findet keine unmittelbare Anwendung. Das Konzernprivileg des § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG ist vom Wortlaut und vom Sinn und Zweck, den der nationale Gesetzgeber mit dieser Vorschrift verbunden hat, klar und eindeutig, eine europarechtskonforme Auslegung, die dann eine Auslegung contra legem wäre, ist aus Rechtsgründen unzulässig.
Im Einzelnen:
a)
Ein nationales Gericht, das bei der Anwendung des nationales Rechts dieses Recht auszulegen hat, muss eine Auslegung so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einer einschlägigen Richtlinie ausrichten, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so Artikel 238 Abs. 3 AEUV nachzukommen. Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionskonformen Auslegung von nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden, alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht. Ermöglicht es das nationale Recht durch Anwendung seiner Auslegungsmethoden eine innerstaatliche Bestimmung so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, so sind die nationalen Gerichte gehalten, die gleichen Methoden anzuwenden, um das von der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen. Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts Schranken. Die Pflicht zur Verwirklichung eines Richtlinienziels im Auslegungsweg findet ihre Grenzen an dem nach innerstaatlicher Rechtstradition methodisch Erlaubten. Sie darf nicht als Grundlage für eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem dienen. Der Gehalt einer nach Wortlaut, Systematik und Sinn eindeutigen Regelung kann nicht im Wege der richtlinienkonformen Auslegung in sein Gegenteil verkehrt werden (BAG - 14. Oktober 2020 - 7 AZR 268/18 - Rn. 67 m. w. N.).
b)
Gemessen an diesen Vorgaben kann das Konzernprivileg gem. § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG nicht aus Gründen der Europakonformität in sein Gegenteil verkehrt werden. Insbesondere darf die Formulierung "nicht zum Zwecke der Überlassung eingestellt und beschäftigt" in § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG dahingehend ausgelegt werden, dass unabhängig von den Bedingungen der Einstellung jegliche Beschäftigung des in einem Konzern angehörigen Unternehmens eingestellten Arbeitnehmers als Leiharbeitnehmer in einem weiteren Konzern angehörigen Unternehmen eine Inanspruchnahme des Konzernprivilegs ausschließt. Denn bei einer solchen Auslegung bliebe für § 1 Abs. 3 Nr. 2 AÜG kein Raum, der Wille des nationalen Gesetzgebers würde vollständig ignoriert werden.
Deswegen wird auch die teilweise in der Literatur vertretene Auffassung, eine europarechtskonforme Auslegung ließe sich dadurch erreichen, dass das Wörtchen "und" durch ein "oder" ersetzt wird, nicht geteilt. Denn genau diese Formulierung führte zu dem Ergebnis, dass jedwede Überlassung das Konzernprivileg leerlaufen ließe. Dies hat der nationale Gesetzgeber nicht gewollt. Wie die erkennende Kammer bereits in ihrer Entscheidung am 12.01.2023 (5 Sa 212/22) erkannt hat, ist im vorliegenden Streitfall die nationale Rechtsordnung stärker als das Europarecht.
Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.
C.
Der Kläger hat als unterlegende Partei gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Berufung zu tragen. Gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Streitsache, insbesondere wegen der europarechtlichen Problematik des Konzernprivilegs, die Revision zum Bundesarbeitsgericht zuzulassen. In diesem Zusammenhang führt die Entscheidung des EuGH vom 22.06.2023 (Az.: C-427/21) nicht dazu, die grundsätzliche Bedeutung der europarechtlichen Frage zu verneinen. Denn die soeben zitierte Entscheidung des EuGH betrifft nicht die Frage des Konzernprivilegs und hat für den vorliegenden Streitfall keine unmittelbare Bedeutung.