Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 01.02.2019, Az.: 8 B 207/18

familiäre Lebensgemeinschaft; familiäres Zusammenleben; gemeinsames Sorgerecht; Mutterschutz; Sorgerechtserklärung; Vater; Vaterschaftsanerkennung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
01.02.2019
Aktenzeichen
8 B 207/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70060
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Der Abschiebung eines Ausländers kann nach den Umständen des Einzelfalls die damit verbundene Trennung von seinem Kind als Abschiebungshindernis entgegenstehen.

Gründe

I.

Der Antragsteller ist nigerianischer Staatsgehöriger, reiste Anfang September 2018 über Italien, wo er bereits einen Asylantrag gestellt hatte, in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 4. September 2019 einen weiteren Asylantrag.

Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) legte er eine Urkunde über die Anerkennung seiner Vaterschaft für das Kind, das seine Lebensgefährtin am 5. Februar 2019 erwartete sowie über die gemeinsame elterliche Sorge vor.

Die Antragsgegnerin ersuchte die italienischen Behörden am 18. Oktober 2018 um Wiederaufnahme des Antragstellers. Nachdem die italienischen Behörden hierauf nicht reagierten, lehnte sie den Asylantrag des Antragstellers mit Bescheid vom 12. November 2018 ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Italien sei für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig und dort bestünden auch keine systemischen Mängel im Asylverfahren oder den Aufnahmebedingungen. Eine Vaterschaftsanerkennung für ein ungeborenes Kind reiche nicht aus, ein Abschiebungsverbot zu begründen. Zudem sei ihm zuzumuten, eine beabsichtigte Eheschließung und Herstellung der Lebensgemeinschaft mit dem Kind von Italien aus zu betreiben.

Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller am 21. November 2018 Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. In Italien bestünden für Dublin-Rückkehrer systemische Mängel. Auch habe er einen Anspruch auf familiäres Zusammenleben.

Das gemeinsame Kind des Antragstellers und seiner Lebensgefährtin kam am 31. Januar 2019 zur Welt.

II.

Dem Antragsteller, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, ist auf seinen Antrag hin Prozesskostenhilfe zu bewilligen. Die Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig, § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 ZPO.

Der gegen die Abschiebungsanordnung gerichtete Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) ist zulässig und begründet.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen das Entfallen der grundsätzlich gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO gegebenen aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage - wie hier gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG - durch Bundesgesetz vorgeschriebenen ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO), auf Antrag die aufschiebende Wirkung anordnen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit ver-schont zu bleiben, das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung überwiegt. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass das öffentliche Vollzugsinteresse bereits durch den gesetzlich angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erhebli-ches Gewicht erhält (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.08.2014 - 9 VR 2.14 -, juris Rn. 3, und Beschl. v. 13.06.2007 - 6 VR 5.07 -, NVwZ 2007, 1207 [1209]; Bay. VGH, Beschl. v. 09.08.2018 - 15 CS 18.1285 -, juris Rn. 33). Insbesondere wenn die mit dem Hauptan-trag erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, besteht kein Anlass von der gesetzlich bestimmten Regel der sofortigen Vollziehbarkeit abzugehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.09.2008 - 7 VR 1.08 -, juris Rn. 6). Ist hingegen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verfügung offensichtlich, weil sie sich schon bei summarischer Prüfung ergibt, kann das Gericht die aufschiebende Wirkung anordnen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 06.09.2007 - 5 ME 236/07 -, juris Rn. 11; vgl. zu alledem auch Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 146 ff.).

Bei Anwendung dieser Maßstäbe überwiegt derzeit das Interesse des Antragstellers an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung, da seine Klage nach der insoweit maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 05.03.2018 - 1 B 155.17 -, juris Rn. 13 zu OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 13.10.2017 - 11 A 78/17.A -, juris Rn. 48) bei summarischer Prüfung Aussicht auf Erfolg bietet.

Das Bundesamt hat in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids aller Voraussicht nach rechtswidrig die Abschiebung des Antragstellers angeordnet.

Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (i.d.F.v. 31.07.2016). Hiernach ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Derzeit steht nicht fest, dass die Abschiebung des Antragstellers durchgeführt werden kann.

Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt voraus, dass „fest-steht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat deshalb in den Fällen, in denen der Schutzsuchende in einem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, vor Erlass einer Abschiebungsanordnung auch zu prüfen, ob Abschiebungsverbote oder Duldungsgründe vorliegen. Damit sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse gemeint.

Eine Abschiebung des Antragstellers wäre derzeit wegen des für seine Lebensgefährtin bestehenden Vollzugshindernisses (vgl. Gerichtsbeschl. v. 31.01.2019 - 8 B 206/18 -, zur Veröffentlichung vorgesehen) lediglich ohne seine Familie möglich, was jedoch eine Verletzung seines Rechts auf familiäres Zusammenleben zur Folge hätte und deshalb rechtlich unmöglich ist.

Die Lebensgefährtin des Antragstellers hat nach der am 31. Januar 2019 vorgelegten Geburtsbescheinigung am gleichen Tag ein Kind zur Welt gebracht, so dass sie sich aktuell in der gesetzlichen Mutterschutzzeit befindet. Damit besteht derzeit für sie ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Denn auch wenn eine Risikoschwangerschaft nicht vorliegt, ist eine Frau unter Berücksichtigung der gesetzlichen Schutzvorschriften der §§ 3, 6 Mutterschutzgesetz (MuSchG) sechs Wochen vor der Entbindung und acht bzw. bei Früh- und Mehrlingsgeburten zwölf Wochen nach der Entbindung als reiseunfähig anzusehen (vgl. VG München, Beschl. v. 23.08.2018 - M 26 S 18.52227 -, juris Rn. 8; VG Würzburg, Urt. v. 13.09.2017 - W 8 K 17.50316 -, juris Rn. 20; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, AufenthG § 60a Rn. 23; vgl. auch Bay. VGH, Beschl. v. 10.08.2015 - 10 CE 15.1341 -, juris Rn. 8; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 10.12.2014 - 2 M 127/14 -, juris Rn. 10).

Eine Abschiebung des Antragstellers ist damit derzeit ebenfalls rechtlich unmöglich, weil sie das Recht des Antragstellers und auch das seiner Lebensgefährtin sowie seines Kindes auf eine familiäre Lebensgemeinschaft verletzen würde (vgl. auch VG Berlin, Beschl. v. 07.05.2018 - 34 L73.18 A -, juris Rn. 12).

Inwieweit Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC i.V.m. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen Ausländer vor einer Abschiebung schützen, hängt von den familiären Bindungen und den weiteren Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7; vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 21.11.2017 - 22 L 4581/17.A -, juris Rn. 11; VG Sigmaringen, Urt. v. 16.11.2017 - A 7 K 2246/17 -, juris Rn. 35). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben und knüpft an die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft an (Nds. OVG, Beschl. v. 02.02.2011 - 8 ME 305/10 -, juris Rn. 4, und v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 7). Maßgeblich ist insoweit einerseits, ob die Eltern im Rahmen des individuell Möglichen die ihnen zugemessene Elternverantwortung wahrnehmen und eine Eltern-Kind-Gemeinschaft tatsächlich gelebt wird und andererseits welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (Nds. OVG, Beschl. v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 7). Danach schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers entgegenstehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Nds. OVG, Beschl. v. 02.02.2011 - 8 ME 305/10 -, juris Rn. 4). Kann etwa die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem von ihm als Vater anerkannten deutschen Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil dem Kind wegen dessen Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7; Nds. OVG, Beschl. v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 10).

Dies gilt im Ergebnis auch in der vorliegenden Konstellation. Denn das Kind des Antragstellers und seine Mutter können aufgrund der für sie im Nachgang zu der Geburt bestehenden Reiseunfähigkeit nicht aus der Bundesrepublik Deutschland abgeschoben werden, so dass jedenfalls für die Dauer der Mutterschutzfristen der Antragsteller eine Lebensgemeinschaft mit ihnen nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklichen kann. Der Antragsteller hat seine Vaterschaft anerkannt und er und seine Lebensgefährtin haben erklärt, die elterliche Sorge gemeinsam ausüben zu wollen. Das Gericht hat demgegenüber keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller entgegen seinen Erklärungen die Verantwortung für das Kind neben der Mutter nicht übernehmen wird.

Dem kann nicht erfolgreich entgegenhalten werden, dass eine Betreuung des neugeborenen Kindes in ausreichender Weise durch die Mutter erfolgen kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7). Denn durch eine Betreuung des Kindes durch die Mutter wird der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht entbehrlich. Vielmehr kann der Vater - allein oder gemeinsam mit der Mutter - wesentliche elterliche Betreuungsleistungen erbringen, die gegebenenfalls, wie im vorliegenden Fall, auch als Beistandsgemeinschaft aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen aus Art. 6 Abs. 1 GG entfalten (BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7). Grundsätzlich ist die Beziehung jedes Elternteils zu seinem Kind schutz- und förderungswürdig. Der Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter dienen in aller Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, weshalb ein Kontakt des Kindes mit beiden Eltern in der Regel förderlich ist (vgl. BVerfG, Abl. eA v. 22.05.2018 - 2 BvR 941/18 -, juris Rn. 7).

Dem Antragsteller und seiner Familie ist eine Trennung auch nicht unter dem Gesichtspunkt zuzumuten, dass sie nur für eine kurze Zeit erfolgen würde. Denn zum einen ist noch nicht abschließend zu beurteilen, ob seine Lebensgefährtin mit ihrem Kind bereits unmittelbar nach dem Ablauf der Mutterschutzfrist nach Italien überstellt werden kann. Zum anderen hat die Zeit unmittelbar nach der Geburt auch für den Vater besondere Bedeutung, so etwa im Hinblick auf eine aufzubauende Bindung zu dem Kind. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass gerade bei einem kleinen Kind die Entwicklung sehr schnell voranschreitet, so dass hier auch eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG schon unzumutbar lang sein kann (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 10; vgl. auch Nds. OVG, Beschl. v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 9; VG Dresden, Urt. v. 19.01.2018 - 3 K 5791/17.A -, juris Rn. 24).

Demgegenüber sind keine weiteren öffentlichen Interessen an einer Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland ersichtlich, die sein Interesse an einem (vorübergehenden) Verbleib überwiegen könnten (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 9).

Sofern nach Ablauf der gesetzlichen Mutterschutzfristen eine gemeinsame Abschiebung des Antragstellers, seiner Lebensgefährtin und ihres gemeinsamen Kindes in Betracht kommt, bleibt es der Antragsgegnerin unbenommen, dann einen Antrag gem. § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.