Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 08.02.2019, Az.: 8 B 201/18

Abschiebungsverbot; aufschiebende Wirkung; Behinderung; Beistandsgemeinschaft; Hirnschädigung; Lebensgemeinschaft; Schwangerschaft; Vater

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
08.02.2019
Aktenzeichen
8 B 201/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70056
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Recht auf familiäres Zusammenleben kann der Rücküberstellung einer schwangeren Frau nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, wenn die Abschiebung ihres Ehemannes derzeit nicht möglich ist.

Gründe

I.

Die Antragsteller sind pakistanische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1. ist die Mutter der siebenjährigen Antragstellerin zu 2. Die Antragsteller verließen im Februar 2018 ihr Heimatland und reisten Anfang Juli 2018 über unter anderem die Türkei und Griechenland in die Bundesrepublik Deutschland ein. Der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und Vater der Antragstellerin zu 2., der sich bereits seit dem Jahr 2013 an wechselnden Orten innerhalb Europas aufhält und in Italien den Flüchtlingsstatus erhalten hat (Bl. 210 VV), reiste daraufhin von Italien aus ebenfalls in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo alle drei am 5. Juli 2018 Asyl beantragten.

Bei der Antragstellerin zu 2. besteht seit dem Kleinkindalter eine schwere Gehirnschädigung ohne Aussicht auf Heilung. Die untersuchenden Fachärzte empfahlen eine Weiterführung der Anfallsschutz-Medikation und Physiotherapie zur Verbesserung der Lebensqualität. Die Antragstellerin zu 1. ist schwanger, als Entbindungstermin wurde 30. April 2019 errechnet.

Am 3. August 2018 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gegenüber den italienischen Behörden ein Aufnahmeersuchen.

Nachdem diese nicht reagierten, lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 26. Oktober 2018 den Asylantrag der Antragsteller als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete ihre Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4).

Zur Begründung wird in dem Bescheid ausgeführt, dass nach der Dublin III-Verordnung Italien für die Asylanträge der Antragsteller zuständig sei. Auch bestünden keine Abschiebungsverbote, weil in Italien keine systemischen Mängel vorlägen, welche die Vermutung der zuverlässigen Einhaltung der europäischen Menschenrechtskonvention in Italien widerlegen würden. Die Schwangerschaft der Antragstellerin zu 1. und die Erkrankung der Antragstellerin zu 2. würden zu keiner anderen Beurteilung führen.

Gegen diesen Bescheid haben die Antragsteller am 13. November 2018 Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

Zur Begründung führen sie aus, dass seit Inkrafttreten des Salvini-Dekrets zum 4. Dezember 2018 nicht mehr sichergestellt sei, dass Asylbewerber in Italien auch tatsächlich menschenwürdig behandelt würden.

Der Asylantrag des Ehemannes der Antragstellerin wurde mit Bescheid vom 5. Oktober 2018 als unzulässig abgelehnt, weil ihm in Italien der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei. Zugleich wurde er in dem Bescheid unter Androhung seiner Abschiebung nach Italien aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen.

II.

Der gegen die Abschiebungsanordnung gerichtete Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz (§ 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG) ist zulässig und begründet.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache in den Fällen, in denen das Entfallen der grundsätzlich gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwGO gegebenen aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage - wie hier gem. § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG - durch Bundesgesetz vorgeschriebenen ist (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO), auf Antrag die aufschiebende Wirkung anordnen, wenn die im Rahmen des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass das Interesse des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung überwiegt. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass das öffentliche Vollzugsinteresse bereits durch den gesetzlich angeordneten Ausschluss der aufschiebenden Wirkung erhebliches Gewicht erhält (vgl. BVerwG, Beschl. v. 07.08.2014 - 9 VR 2.14 -, juris Rn. 3, und Beschl. v. 13.06.2007 - 6 VR 5.07 -, NVwZ 2007, 1207 [1209]; Bay. VGH, Beschl. v. 09.08.2018 - 15 CS 18.1285 -, juris Rn. 33; Sächs. OVG, Beschl. v. 27.10.2010 - 5 B 286/10 -, juris Rn. 12; vgl. auch Saarl. VerfGH, Beschl. v. 08.10.2013 - Lv 1/13 -, NVwZ 2014, 147 [149 f.] m.w.N.; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.02.2018 - OVG 10 S 74.17 -, juris Rn. 15; OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 23.04.2015 - 1 M 45/15 -, juris Rn. 4). Insbesondere wenn die mit dem Hauptantrag erhobene Anfechtungsklage voraussichtlich keinen Erfolg haben wird, besteht kein Anlass von der gesetzlich bestimmten Regel der sofortigen Vollziehbarkeit abzugehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 30.09.2008 - 7 VR 1.08 -, juris Rn. 6). Ist hingegen die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Verfügung offensichtlich, weil sie sich schon bei summarischer Prüfung ergibt, kann das Gericht die aufschiebende Wirkung anordnen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 06.09.2007 - 5 ME 236/07 -, juris Rn. 11; vgl. zu alledem auch Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 Rn. 146 ff.).

Bei Anwendung dieser Maßstäbe überwiegt derzeit das Interesse der Antragsteller an einem Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung, da ihre Klage nach der insoweit maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG; vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 05.03.2018 - 1 B 155.17 -, juris Rn. 13 zu OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 13.10.2017 - 11 A 78/17.A -, juris Rn. 48) bei summarischer Prüfung Aussicht auf Erfolg bietet.

Das Bundesamt hat in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheides aller Voraussicht nach rechtswidrig die Abschiebung der Antragsteller angeordnet.

Rechtsgrundlage für die Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG (i.d.F.v. 31.07.2016). Hiernach ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Derzeit steht nicht fest, dass die Abschiebung der Antragsteller durchgeführt werden kann.

Eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt voraus, dass „fest-steht“, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Das Bundesamt hat deshalb in den Fällen, in denen der Schutzsuchende in einem für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, vor Erlass einer Abschiebungsanordnung auch zu prüfen, ob Abschiebungsverbote oder Duldungsgründe vorliegen. Damit sind sowohl zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse als auch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse gemeint (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 02.01.2019 - 13 A 4599/18.A -, juris Rn. 8 m.w.N.).

Eine Abschiebung der Antragsteller wäre derzeit wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage des Ehemannes der Antragstellerin zu 1. (vgl. § 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG) lediglich ohne ihn möglich, was jedoch eine Verletzung ihres Rechts auf familiäres bzw. eheliches Zusammenleben zur Folge hätte und deshalb rechtlich unmöglich ist im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. auch Beschl. des Gerichts v. 01.02.2019 - 8 B 207/18 -, zur Veröffentlichung vorgesehen; VG Berlin, Beschl. v. 07.05.2018 - 34 L73.18 A -, juris Rn. 12).

Inwieweit Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK und Art. 7 GRC i.V.m. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG einen Ausländer vor einer Abschiebung schützen, hängt von den familiären Bindungen und den weiteren Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7; vgl. auch VG Düsseldorf, Beschl. v. 21.11.2017 - 22 L 4581/17.A -, juris Rn. 11; VG Sigmaringen, Urt. v. 16.11.2017 - A 7 K 2246/17 -, juris Rn. 35). Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben und knüpft an die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern, mithin eine tatsächlich bestehende familiäre Lebensgemeinschaft an (Nds. OVG, Beschl. v. 02.02.2011 - 8 ME 305/10 -, juris Rn. 4, und v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 7). Bei einer Familie mit Kindern ist insoweit einerseits maßgeblich, ob die Eltern im Rahmen des individuell Möglichen die ihnen zugemessene Elternverantwortung wahrnehmen und eine Eltern-Kind-Gemeinschaft tatsächlich gelebt wird und andererseits welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die gelebte Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte (Nds. OVG, Beschl. v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 7). Danach schutzwürdige Belange können einer (zwangsweisen) Beendigung des Aufenthalts des Ausländers entgegenstehen, wenn es ihm nicht zuzumuten ist, seine familiären Bindungen durch Ausreise auch nur kurzfristig zu unterbrechen (Nds. OVG, Beschl. v. 02.02.2011 - 8 ME 305/10 -, juris Rn. 4). Kann etwa die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und einem von ihm als Vater anerkannten deutschen Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, weil dem Kind wegen dessen Beziehung zu seiner Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 7; Nds. OVG, Beschl. v. 02.03.2011 - 11 ME 551/10 -, juris Rn. 10).

Dies gilt im Ergebnis auch in der vorliegenden Konstellation. Denn der Ehemann der Antragstellerin zu 1. und Vater der Antragstellerin zu 2. kann derzeit nicht abgeschoben werden, so dass jedenfalls bis zur Entscheidung über seine Klage die Antragsteller eine Lebensgemeinschaft mit ihm nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklichen können.

Den Antragstellern ist eine Trennung auch nicht unter dem Gesichtspunkt zuzumuten, dass sie nur für eine kurze Zeit erfolgen würde. Denn zum einen ist noch nicht abschließend zu beurteilen, ob der Ehemann der Antragstellerin zu 1. bereits unmittelbar nach der (rechtskräftigen) Entscheidung über seine Klage nach Italien überstellt werden kann. Zum anderen ist insbesondere die Antragstellerin zu 1. in besonderem Maße auf seinen Beistand angewiesen. Denn sie betreut ihre aufgrund einer Hirnschädigung schwer beeinträchtigte gemeinsame Tochter und erwartet im April zudem ein weiteres Kind, für das auch der Kontakt zu beiden Elternteilen in aller Regel förderlich ist. Dies gilt gerade auch für die frühkindliche Zeit (Beschl. des Gerichts v. 01.02.2019 - 8 B 207/18 -, zur Veröffentlichung vorgesehen).

Demgegenüber sind keine weiteren öffentlichen Interessen an einer Beendigung des Aufenthalts der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland ersichtlich, die ihr Interesse an einem (vorübergehenden) Verbleib überwiegen könnten (vgl. etwa BVerfG, Kammerbeschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, juris Rn. 9).

Sofern nach der Entscheidung über die Klage des Ehemannes der Antragstellerin zu 1. eine gemeinsame Abschiebung der Antragsteller und ihm in Betracht kommt, bleibt es der Antragsgegnerin unbenommen, dann einen Antrag gem. § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.