Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.11.2016, Az.: 8 LB 92/15

Rücküberstellung eines Asylbewerbers nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens; Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit Verweis auf die Zuständigkeit Ungarns; Systemische Mängel der Ausgestaltung und der Aufnahmebedingungen des Asylverfahrens in Ungarn im November 2016; Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung für Dublin Rückkehrer; Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) zum Gebrauch ihres Selbsteintrittsrechts

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.11.2016
Aktenzeichen
8 LB 92/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 29739
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2016:1115.8LB92.15.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BVerwG - 10.04.2017 - AZ: BVerwG 1 B 11.17

Fundstellen

  • DÖV 2017, 216
  • InfAuslR 2017, 81

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Zugang zum Asylverfahren in Ungarn, dessen Ausgestaltung und die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens weisen im November 2016 systemische Mängel auf, die auch für Dublin Rückkehrer die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK begründen.

  2. 2.

    Besteht keine realistische Möglichkeit einer Rücküberstellung innerhalb der Frist von sechs Monaten nach Art. 20 Abs. 1 d) Dublin II VO, ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin II VO Gebrauch zu machen.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 12. Kammer - vom 19. März 2015 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rücküberstellung nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens.

Der Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger. Nachdem er im Jahr 2011 erfolglos einen Asylantrag gestellt hatte, reiste er nach eigenen Angaben am 24. Juli 2013 über Serbien, Ungarn und Österreich erneut in das Bundesgebiet ein und stellte am 26. Juli 2013 einen Asylfolgeantrag. Am 2. August 2013 wurde der Beklagten ein EURODAC-Treffer bezüglich Ungarns mitgeteilt. Die Beklagte stellte am 4. Dezember 2013 ein Wiederaufnahmegesuch bei der ungarischen Asylbehörde. Diese erklärte mit Schreiben vom 16. Dezember 2013, dass sie den Transfer des Klägers nach Ungarn akzeptiere. Der Kläger habe am 15. Juni 2013 in Ungarn einen Asylantrag gestellt, diesen aber am 22. Juni 2013 zurückgezogen und sei daraufhin verschwunden. Das Asylverfahren sei am 1. Juli 2013 eingestellt worden.

Mit Bescheid vom 28. Januar 2014 lehnte die Beklagte die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Ungarn mit der Begründung an, dass Ungarn nach der Dublin II-Verordnung für das Asylverfahren zuständig sei, da er dort vor der Einreise in das Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt und zurückgenommen habe. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die sie veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Der Kläger hat am 7. Februar 2014 beim Verwaltungsgericht Hannover Klage erhoben und zugleich einen vorläufigen Rechtsschutzantrag (12 B 1153/14) gestellt. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass das Übernahmeersuchen nicht innerhalb von drei Monaten nach Mitteilung des EURODAC-Treffers gestellt worden sei, so dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf die Beklagte übergegangen sei. Auch könne er im Falle der Überstellung nach Ungarn keinen den europaweit vereinbarten Mindeststandards genügenden Schutz erlangen. In Ungarn finde kein geregeltes Asylverfahren statt. Er würde dort keine Unterkunft und keine Unterstützung erhalten.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 28. Januar 2014 zu verpflichten, in seinem Fall ein Asylverfahren durchzuführen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, dass für Wiederaufnahmegesuche nach Art. 20 Abs. 1 c) Dublin II-Verordnung in den Fällen des Art. 16 Abs. 1 c) bis e) keine Frist vorgesehen sei. Die Überstellungsfrist beginne im vorliegenden Fall erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung. Das in ihrem Ermessen stehende Selbsteintrittsrecht habe sich hier nicht zu einer entsprechenden Verpflichtung verdichtet. In Ungarn bestehe weder die Gefahr einer menschenunwürdigen Existenzgefährdung noch einer unmenschlichen Behandlung oder einer Inhaftierung und auch keine Gefahr für Leib und Leben. Es liege dort keine systemische Störung des Asylsystems vor. Auch die fünf vom Bundesverfassungsgericht aufgelisteten Fallgruppen, die außerhalb der Grenzen einer normativen Vergewisserung anzusiedeln seien, seien nicht gegeben. Nach aktuellen Erkenntnissen stünden Flüchtlingen in Ungarn hinsichtlich Aufenthalt, Freizügigkeit, Zugang zu Arbeit und medizinischer Versorgung dieselben Rechte wie ungarischen Staatsangehörigen zu. Das Asylverfahren in Ungarn weise keine landesweiten und dauerhaften Mängel auf, die nicht mit den Erfordernissen von Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta (EUGrCh) in Einklang stünden. Die bis Ende 2012 kritisierten Missstände seien durch eine Gesetzesreform ab 2013 behoben worden, wonach Asylgründe von Asylsuchenden nunmehr auch inhaltlich geprüft werden sollten und die Praxis, Dublin-Rückkehrer in Haft zu nehmen, eingestellt werden solle. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) habe seine im Oktober 2012 geäußerte Forderung, keine Asylbewerber nach den Dublin II-Regularien nach Ungarn zu überstellen, wenn diese vor ihrer Ankunft in Ungarn durch Serbien gereist seien, im Dezember 2012 wieder aufgehoben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe in seinem Urteil vom 6. Juni 2013 bestätigt, dass in Ungarn (nunmehr) keine unionsrechtswidrige Asylpraxis mehr zu befürchten sei. Dies werde auch durch eine Entscheidung des Österreichischen Asylgerichtshofs vom 9. Juni 2013 sowie eine Stellungnahme des Helsinki-Komitees vom 1. Juli 2013 gestützt. Der Einschätzung der Flüchtlingsorganisation "bordermonitoring.eu", dass mit einer Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern unter nicht verhältnismäßiger Auslegung des Haftgrunds "Behinderung des Asylverfahrens durch den Asylbewerber" zu rechnen sei, sei nicht zu folgen, da die aktuelle Praxis der Ermessensausübung nicht bekannt sei. Es sei auch nicht ersichtlich, dass in Ungarn Haftbedingungen bestünden, durch welche Asylbewerber einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt würden. Selbst wenn unterstellt werde, dass bei Erlangung eines Schutzstatus in Ungarn längerfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit Obdachlosigkeit und das Ausscheiden aus dem Sozialleistungssystem drohten, sei nicht erkennbar, dass derart eklatante Missstände gegeben seien, dass die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu erwarten sei. Weiterhin existiere im Falle einer Haftanordnung eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit. Zwar sei einer Stellungnahme des UNHCR zufolge die Mandatierung eines Rechtsanwalts schwierig und werde manchmal auch von der Polizei vereitelt, jedoch habe der UNHCR keine Angaben zur Häufigkeit dieses Polizeiverhaltens gemacht. Soweit und solange sich keine gegenteiligen Anhaltspunkte ergeben würden, sei davon auszugehen, dass auch für Ungarn die Vermutung bestehe, dass Asylsuchende jedenfalls seit November 2012 (wieder) in Einklang mit den Vorgaben der EUGrCh, der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) behandelt würden. Im Übrigen sei auch nach einem Bericht ihres Liaisonbeamten beim Ungarischen Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft vom 7. März 2014 seit Anfang 2014 wieder ein normaler Betrieb der ungarischen Aufnahmeeinrichtungen sichergestellt. Von der zum 1. Juli 2013 eingeführten Asylhaft würden neben unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern auch solche aus Ländern ausgenommen, für die die Wahrscheinlichkeit der Schutzbedürftigkeit sehr hoch eingeschätzt werde. Die maximale Dauer der Asylhaft betrage sechs Monate. Von der Asylhaft sei die Abschiebehaft zu unterscheiden, die durch die ungarische Polizei und in anderen Einrichtungen durchgeführt werde. Anerkannte Flüchtlinge und Personen mit Schutzstatus seien in Hinsicht auf Rechte und Pflichten grundsätzlich ungarischen Staatsbürgern gleichgestellt. Integrationsunterstützung werde im Rahmen von Integrationsverträgen gewährt. Darin sei für einen Zeitraum von zwei Jahren ein Grundeinkommen und Unterstützung durch Sozialarbeiter beispielweise bei der Beschaffung von Wohnraum und bei der Integration in den Arbeitsmarkt vorgesehen. In der Regel erfolge eine dezentrale Unterbringung Schutzberechtigter nach zwei Monaten.

Das Verwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 17. März 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet sowie durch Urteil vom 19. März 2015 den Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2014 aufgehoben und die Klage im Übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, dass die Klage hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten zur Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens unzulässig sei, weil mit der Aufhebung des Bescheids das Verfahrenshindernis beseitigt sei und das Asylverfahren in dem Stadium, in dem es zu Unrecht beendet worden sei, durch die Beklagte fortzuführen sei. Im Übrigen sei die Klage zulässig und begründet, weil der angegriffene Bescheid rechtswidrig sei. Zwar sei grundsätzlich Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, jedoch sei davon auszugehen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Vermutung, dass das Asylverfahren und die Aufnahme von Asylbewerbern in jedem Mitgliedstaat mit den Anforderungen der EUGrCh, der GFK und der EMRK in Einklang stehe, bezüglich Ungarns widerlegt sei. Zwar hätten sich, nachdem der UNHCR im April 2012 festgestellt habe, dass die Aufnahmebedingungen und Dienstleistungen in Ungarn weiterhin nicht den internationalen und EU-Standards entsprechen würden, ferner die häufige Inhaftierung von Asylsuchenden den Zugang zum Flüchtlingsschutz erschwere und sich der Zugang zum Anerkennungsverfahren für Dublin-Rückkehrer als problematisch erwiesen habe, in rechtlicher Hinsicht Verbesserungen dadurch ergeben, dass die viel kritisierte Haftpraxis 2013 beendet worden sei und neue, speziell auf Asylbewerber bezogene Haftgründe eingeführt worden seien. Jedoch seien die Auswirkungen und systemischen Mängel der Asylhaft derjenigen der früheren Internierungshaft sehr ähnlich. Es bestünden Anhaltspunkte, dass die Asylhaft nicht ausnahmsweise, sondern in einer Vielzahl von Fällen und systematisch verhängt werde. Dabei werde gewöhnlich schematisch ohne Berücksichtigung individueller Besonderheiten entschieden. Zwar sei nicht bekannt, in welchem Ausmaß Dublin-Rückkehrer von der Asylhaft betroffen seien, jedoch sei zu vermuten, dass diese in zahlreichen Fällen inhaftiert würden, denn die Tatbestände der bis zu sechs Monate zulässigen Haft seien ungewöhnlich offen gehalten. Auch die Haftbedingungen würden vom UNHCR weiterhin als kritisch betrachtet. Es bestünden Mängel in der medizinischen Versorgung, teilweise seien hygienische Mindeststandards nicht gewährleistet und Asylbewerber würden systematisch zu Terminen außerhalb der Einrichtung gefesselt und in Handschellen aus- bzw. vorgeführt. Trotz Verbesserungen sei die grobe Behandlung der Inhaftierten durch das Wachpersonal weiterhin problematisch, Missbrauch und Quälereien seien nicht ungewöhnlich. Zudem beklagten die meisten Inhaftierten Hunger und Gewichtsverlust. Effektive Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Anordnung der Asylhaft bestünden nicht. Diese Erkenntnisse ließen nur den Schluss zu, dass die Behandlung von Asylsuchenden in Ungarn gegen Art. 3 EMRK verstoße. Die gegenteiligen Schlussfolgerungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Urteil vom 3. Juli 2014 überzeugten nicht, weil sie allein darauf gestützt seien, dass das ungarische Recht nunmehr Alternativen zur früheren Praxis der flächendeckenden Inhaftierungen Asylsuchender vorsehe, die maximale Haftdauer auf sechs Monate begrenzt sei, bei den Haftbedingungen scheinbar Verbesserungen stattgefunden hätten und der UNHCR bisher nicht von der Rücküberstellung von Asylsuchenden im Rahmen der Dublin III-VO abgeraten habe.

Gegen dieses Urteil, soweit damit der Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2014 aufgehoben worden ist, richtet sich die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung durch Beschluss vom 15. Mai 2015 (8 LA 85/15) zugelassene Berufung der Beklagten.

Die Beklagte nimmt zur Begründung der Berufung Bezug auf den angegriffenen Bescheid, ihr erstinstanzliches Vorbringen und ihren Berufungszulassungsantrag.

Vertiefend führt sie aus, dass sich eine Gleichgültigkeit der ungarischen Behörden im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte weder den bisherigen Auskünften und Erkenntnisquellen entnehmen lasse, noch den im Sommer 2015 von Ungarn ergriffenen Maßnahmen zugemessen werden könne. Die wirksame Kontrolle der EU-Außengrenzen ziele auf die Erfüllung unionsrechtlicher Verpflichtungen. Auch das Unionsrecht sehe Ausnahmekonstellationen vor, in denen Mindestnormen zeitweise oder gänzlich in Fällen eines Massenzustroms keine Anwendung zu finden hätten. Der Bau des Grenzzauns zu Serbien betreffe Dublin-Rückkehrer nicht. Die materielle Verschärfung des Asylrechts, dass Asylanträge abgelehnt werden dürften, wenn Asylsuchende über sichere Transitstaaten (Serbien) eingereist seien, führe nicht per se zum Vorliegen systemischer Mängel. Der UNHCR sehe die Situation in Ungarn derzeit zwar kritisch, gehe jedoch nicht davon aus, dass die neuen gesetzlichen Regelungen als solche einen Verstoß gegen internationales oder europäisches Recht darstellten. Im Jahr 2014 sei kein Fall bekannt geworden, in dem ein Asylantragsteller wegen Überbesetzung der Unterbringungseinrichtungen von Obdachlosigkeit betroffen gewesen sei. Im Jahr 2014 bzw. im Zeitraum von Januar bis September 2015 habe sie 3.913 bzw. 10.825 Übernahmeersuchen an Ungarn gestellt, Ungarn habe in 3.282 bzw. 7.530 Fällen zugestimmt und in 178 bzw. 144 Fällen hätten Überstellungen tatsächlich stattgefunden. Gerade in Hinblick auf Asylfolgeanträge kosovarischer Staatsangehöriger beabsichtige sie nicht, von ihrem Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen.

In dem von ihr im Berufungsbegründungsschriftsatz in Bezug genommenen Schriftsatz vom 27. April 2015 beantragt die Beklagte neben der Zulassung der Berufung,

die Klage unter Abänderung der Entscheidung abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er trägt vor, dass die Berufung mangels eines bestimmten Antrags im Berufungsbegründungsschriftsatz bereits unzulässig sei. Zudem werde in dem in Bezug genommenen Schriftsatz der Beklagten die Berufung nicht begründet.

Der UNHCR habe in einer Stellungnahme vom 30. September 2014 darauf hingewiesen, dass praktisch alle Dublin-Rückkehrer inhaftiert würden. Auch Pro Asyl führe in einer Stellungnahme vom 31. Oktober 2014 aus, dass Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert würden. Die Inhaftierungspraxis lasse auf eine extrem weite und in Hinblick auf Art. 3 EMRK problematische Auslegung des ungarischen Rechts schließen. Zudem sei die gerichtliche Überprüfung der Haftgründe mangelhaft. Eine effektive rechtliche Beratung sei für die Mehrheit der Asylsuchenden nicht verfügbar. Weiterhin habe der UNHCR in einer Auskunft vom 30. September 2014 erklärt, dass aus der Tatsache, dass in einem UNHCR-Papier keine Äußerungen dazu enthalten seien, ob bestimmte Mängel einer Überstellung entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, dass der UNHCR die Auffassung vertrete, dass keine einer solchen Überstellung entgegenstehenden Umstände vorliegen würden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die Beiakten A und B verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.

I.

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (vgl. §§ 125 Abs. 1 Satz 1, 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig. Insbesondere enthält die fristgemäß eingegangene Berufungsbegründung vom 17. Juni 2015 durch die Bezugnahme auf den Berufungszulassungsantrag vom 27. April 2015, in der die Beklagte die Abweisung der Klage unter Abänderung der Entscheidung (des Verwaltungsgerichts) beantragt, einen bestimmten Berufungsantrag i.S.d. § 124a Abs. 6 Satz 3, Abs. 3 Satz 4 VwGO.

Auch die Berufungsbegründung entspricht (noch) den Anforderungen dieser Vorschrift. Die im Einzelnen anzuführenden Berufungsgründe müssen substantiiert und konkret auf den zu entscheidenden Fall bezogen sein und haben in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzelnen auszuführen, weshalb das angefochtene Urteil nach der Auffassung des Berufungsführers unrichtig ist und geändert werden muss. Erfolgt die Berufungsbegründung durch Bezugnahme auf den Zulassungsantrag, was grundsätzlich zulässig ist, muss dieser den genannten Anforderungen genügen. In asylrechtlichen Streitigkeiten genügt eine Berufungsbegründung regelmäßig etwa dann dem Berufungsbegründungserfordernis, wenn sie eine entscheidungserhebliche Frage zu den tatsächlichen Verhältnissen im Heimatstaat des Asylbewerbers konkret bezeichnet und ihre hierzu von der Vorinstanz abweichende Beurteilung deutlich macht (BVerwG, Bechl. v. 3.8.2016 - 1 B 79/16 -, Rn. 3). Die Beklagte hat durch die Bezugnahme auf die Schriftsätze vom 26. Februar 2015 und 27. April 2015 hinreichend dargelegt, wie sie die tatsächlichen und rechtlichen Asylverfahrensverhältnisse in Ungarn einschätzt und dass sie diese von der Auffassung des Verwaltungsgerichts abweichend bewertet.

II.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Soweit die Klage Gegenstand des Berufungsverfahrens ist, hat das Verwaltungsgericht ihr zu Recht stattgegeben.

Insoweit ist die Klage zulässig. Insbesondere ist die Anfechtungsklage die statthafte Klageart, weil das Dublin-Regelungswerk fordert, dass im Fall einer vom Gericht für fehlerhaft erachteten Verpflichtung eines anderen Staats die für das Dublin-Verfahren zuständige Behörde die Möglichkeit erhält, einen anderen Mitglied- oder Vertragsstaat, der nachrangig zuständig ist, um die Aufnahme oder Wiederaufnahme des Asylantragstellers zu ersuchen. Dabei handelt es sich um eine dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zugewiesene Aufgabe, die das Gericht im Fall des Durchentscheidens nicht erfüllen könnte (BVerwG, Urt. v. 27.10.2015 - 1 C 32/14 -, Rn .14; im Ergebnis ebenso: Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 - 11 LB 248/14 -, Rn. 28-29).

Soweit die Klage zulässig ist, ist sie auch begründet. Der angegriffene Bescheid der Beklagten vom 28. Januar 2014 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit Verweis auf die Zuständigkeit Ungarns ist rechtswidrig.

Maßgeblich für die Beurteilung der der Sach- und Rechtslage ist - wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht - der Zeitpunkt der Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG), so dass hier § 29 Abs. 1 Nr. 1 b) AsylG in der seit dem 6. August 2016 gültigen Fassung (vgl. BGBl. I 2016, 1939, 1946) anzuwenden ist. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union - als der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Abl. 2013 L 180/31 [Dublin III-VO]) - oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Im vorliegenden Fall findet noch die Verordnung (EG) 343/2003 (Abl. 2003 L 50/1 [Dublin II-VO]) Anwendung, weil die Beklagte das Wiederaufnahmegesuch an Ungarn am 4. Dezember 2013 und damit vor dem 1. Januar 2014 gestellt hat (vgl. Art. 49 Abs. 2 Dublin III-VO).

Die Zuständigkeit eines anderen Staats besteht hier nicht. Eine solche ergibt sich insbesondere nicht aus der Dublin II-VO.

a. Zwar wäre nach Art. 5 Abs. 1 i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO an sich Ungarn für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig, da kein anderes vorrangiges Kriterium gemäß Art. 6 bis 9 Dublin II-VO erfüllt ist und Ungarn der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze der Kläger aus einem Drittstaat kommend - ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal - überschritten hat. Der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben über Serbien, Ungarn und Österreich am 24. Juli 2013 in das Bundesgebiet eingereist; die zuständige ungarische Asylbehörde hat durch Schreiben vom 16. Dezember 2013 mitgeteilt, dass der Kläger dort am 15. Juni 2013 Asyl beantragt habe. Diese Zuständigkeit wäre auch zwischenzeitlich nicht nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO, wonach die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts endet, wieder entfallen, weil sie nur dann erlischt, wenn der Asylbewerber innerhalb von zwölf Monaten nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts keinen Asylantrag stellt. Diese einschränkende Auslegung des Wortlauts ergibt sich daraus, dass Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO als maßgeblichen Zeitpunkt für die Zuständigkeitsbestimmung den Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat festlegt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, Rn. 47).

Die Zuständigkeit ist auch nicht nach Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO auf die Beklagte übergegangen, weil diese Vorschrift nur auf Aufnahmegesuche gemäß Art. 16 Abs. 1 a) Dublin II-VO (Aufnahme ohne vorherige Asylantragstellung im aufnehmenden Mitgliedstaat) und nicht auf Wiederaufnahmegesuche i.S.d. Art. 16 Abs. 1 d) Dublin-VO (Wiederaufnahme bei vorheriger Asylantragstellung im aufnehmenden Mitgliedstaat) Anwendung findet. Im letzteren Fall ist Art. 20 Dublin II-VO, der keine Frist für das Wiederaufnahmegesuch enthält, anzuwenden.

b. Jedoch ist die Zuständigkeit Ungarns wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens sowie der dortigen Aufnahmebedingungen ausgeschlossen. Zugleich kommt keine Zuständigkeit der Republik Österreich, durch die der Kläger nach eigenen Angaben von Ungarn auf dem Wege in das Bundesgebiet gereist ist, in Betracht, weil die Dreimonatsfrist zur Stellung eines Aufnahmeantrags gemäß Art. 16 Abs. 1 a) i.V.m. Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin II-VO lange abgelaufen ist.

Aus dem Fehlen der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats folgt die Zuständigkeit der Beklagten gemäß Art. 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 Dublin II-VO im Wege der Ermessensreduzierung auf Null. Danach kann jeder Mitgliedstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Art. 5 ff. Dublin II-VO einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist; der betreffende Mitgliedstaat wird dadurch zum zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin II-VO und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen (sog. Selbsteintrittsrecht).

aa. Das den Mitgliedstaaten durch Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO verliehene Ermessen stellt ein Element des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dar; bei der Ermessensausübung führen die Mitgliedstaaten Unionsrecht i.S.d. Art. 51 Abs. 1 der EUGrCh (Abl. 2012, C 326/391) durch (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 -, [...] Rn. 68). Die Dublin II-VO beruht auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens. Sie bezweckt, die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen. Zugleich dient die Dublin II-VO dazu, die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem "forum shopping" zuvorzukommen (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 79). Auf dieser Grundlage gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EUGrCh, der GFK und der EMRK steht (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 80). Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernstzunehmende Gefahr besteht, dass Asylbewerber bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 81). Allerdings berührt nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedstaaten zur Beachtung der Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin II-VO (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 82). Ansonsten würde der Daseinsgrund der Union und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, konkret des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, das auf gegenseitigem Vertrauen und einer Vermutung der Beachtung des Unionsrechts, genauer der Grundrechte, durch die anderen Mitgliedstaaten gründet, auf dem Spiel stehen (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 83). Ebenso wenig wäre es nicht mit den Zielen und dem System der Dublin II-VO vereinbar, wenn der geringste Verstoß gegen die europäischen Asyl(verfahrens)Richtlinien genügen würde, um die Überstellung eines Asylbewerbers an den normalerweise zuständigen Mitgliedstaat zu vereiteln (vgl. EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 84). Dies würde die Verpflichtungen aus der Dublin II-VO in ihrem Kern aushöhlen und die Verwirklichung des Ziels gefährden, rasch den Mitgliedstaat zu bestimmen, der für die Entscheidung über einen in der Union gestellten Asylantrag zuständig ist (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 85). Falls dagegen ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 EUGrCh implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 86). Daher obliegt es den Mitgliedstaaten, einen Asylbewerber nicht an einen nach der Dublin II-VO an sich zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Bedingungen für die Aufnahme von Asylbewerbern in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrCh ausgesetzt zu werden (EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O, Rn. 106; EuGH, Urt. v. 14.11.2013 - C-4/11 -, Rn. 30). Diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist in den - auf den vorliegenden Fall (noch) nicht anwendbaren - Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO übernommen worden.

Systemische Mängel sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem - aus welchen Gründen auch immer - faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird (Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 , a.a.O., Rn. 42 m.w.N.)

Zur Bestimmung der wesentlichen Kriterien für das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wird auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu dem mit Art. 4 EUGrCh übereinstimmenden Art. 3 EMRK zurückgegriffen (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015, a.a.O., Rn. 43; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 , a.a.O., Rn. 112). Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen (EGMR, Urt. v. 21.1.2011 - 30696/09 -, M.S.S. v. Belgium and Greece, Rn. 220). Die Behandlung bzw. Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 219).

Zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EUGrCh sowie mit der GFK und der EMRK, muss sich das Gericht die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 - 10 B 6/14 -, Rn. 9), was dem Maßstab des "real risk" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 -, Rn. 32).

Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschl. v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 -, Rn. 11; vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., [...] Rn. 90-91). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 - C-528/11 -, Rn. 44).

Dabei ist auf die Situation abzustellen, die der betreffende Asylbewerber bei einer Rücküberstellung in den an sich zuständigen Staat nach der Dublin II-VO voraussichtlich vorfinden würde, d.h. es kommt auf die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung des Asylverfahrens und die Aufnahmebedingungen an, die Dublin-Rückkehrer in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage antreffen, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Lagen keine unmittelbare Rolle spielt, sondern allenfalls ergänzend herangezogen werden kann, sofern sich diese Verhältnisse auch auf die Situation des betreffenden Asylbewerbers auswirken (können) (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 , a.a.O., Rn. 49).

Maßgeblich für die Bewertung der rechtlichen und tatsächlichen Situation des Asylsystems des Mitgliedstaats, in den der Asylbewerber überstellt werden soll, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. EGMR, Urt. v. 6.6.2013 - 2283/12 -, Mohammed v. Austria, Rn. 96 ["If the applicant has not yet been removed when the Court examines the case, the relevant time will be that of the proceedings before the Court".]; EGMR, Urt. v. 3.4.2014 - 71932/12 -, Mohammadi v. Austria, Rn. 63; BVerfG, Beschl. v. 21.4.2016, a.a.O., [...] Rn. 11; aA: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016 - A 11 S 974/16 -, Rn. 26, 24 [Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet]). Das ergibt sich nicht nur aus der Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern auch aus der Überlegung, dass ein Asylbewerber ansonsten in einen zuvor nicht, jedoch mittlerweile mit systemischen Mängeln des Asylverfahrens behafteten Mitgliedstaat (rück)überstellt werden könnte. Zwar regelt Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO (gleichlautend: Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO), dass bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen ist, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Jedoch bezieht sich diese Vorschrift nur auf die Bestimmung des regulär zuständigen Mitgliedstaats. Im Falle systemischer Mängel des Asylverfahrens ist in Hinblick auf die nunmehr auch in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und 3 Dublin III-VO übernommene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schutz des Asylbewerbers eine Ausnahme zu machen. Dabei wird an die Unmöglichkeit der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat angeknüpft, so dass maßgeblich der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, der der potentiellen Überstellung zeitlich am nächsten kommt, sein muss.

Zusammenfassend liegt eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK (insbesondere) vor, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO "zuständigen" Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, Rn. 126; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015, a.a.O., Rn. 46).

bb. Nach diesen Maßstäben bestehen in Ungarn aktuell grundlegende Defizite sowohl hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren als auch in Bezug auf dessen Ausgestaltung sowie in Hinblick auf die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens, die in ihrer Gesamtheit betrachtet, zur Überzeugung des Senats die Annahme rechtfertigen, dass dem Kläger bei einer Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK droht (ebenfalls systemische Mängel annehmend: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, [auf die Lage im Oktober 2016 abstellend]; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., [auf die Lage im Jahr 2014 abstellend]; Englischer High Court of Justice, Urt. v. 5.8.2016 - [2016] EWHC 2049 [Admin] -, Ibrahimi & Abasi v. Secretary of State for the Home Department; Finnisches Oberstes Verwaltungsgericht, Urt. v. 20.4.2016 - KHO:2016:53 - [keine sichere Feststellung möglich, dass Ungarn keine systemischen Mängel aufweist]; VG Arnsberg, Urt. v. 16.9.2016 - 7 K 2918/15.A -, ; VG Münster, Beschl. v. 23.8.2016 - 2 L 1277/16.A -, ; VG Köln, Beschl. v. 16.8.2016 - 20 L 1609/16.A -, ; VG München, Beschl. v. 4.8.2016 - M 24 S 16.50492 -, ; VG München, Beschl. v. 19.7.2016 - M 12 S 16.50456 -, ; VG München, Beschl. v. 8.7.2016 - M 8 S 16.50302 -, ; VG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 31.5.2016 - 7 L 14/16.A -, ; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 31.5.2016 - 18a K 5911/14.A -, ; VG Berlin, Beschl. v. 27.5.2016 - 6 L 276.16 A -, ; VG Braunschweig, Urt. v. 25.5.2016 - 1 A 49/16 -, n.v.; VG Dresden, Urt. v. 18.3.2016 - 7 K 1935/15.A -, ; VG Potsdam, Urt. v. 11.3.2016 - VG 12 K 216/15.A -, [...]; VG Aachen, Urt. v. 10.3.2016 - 5 K 1049/15.A -, ; VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 9.3.2016 - 7 L 353/16.F.A -, ; VG Köln, Urt. v. 7.3.2016 - 16 K 3587/15.A -, ; VG Göttingen, Beschl. v. 12.1.2016 - 2 B 295/15 -, [...]; VG Freiburg, Urt. v. 4.1.2016 - A 5 K 1838/13 -, ; VG Oldenburg, Urt. v. 2.11.2015 - 12 A 2572/15 -, [...]; systemische Mängel verneinend: EGMR, Urt. v. 3.7.2014, a.a.O. [verbleibende Mängel, jedoch Verbesserung hinsichtlich Asylhaft, nunmehr inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs nach Rücküberstellung und keine Anwendung der sicheren Drittstaatenregelung mehr]; EGMR, Urt. v. 6.6.2013, a.a.O. [Mängel vorhanden, jedoch keine Empfehlung des UNHCR zur Unterlassung von Rücküberstellungen, geplante Gesetzesänderungen hinsichtlich Asylhaft und Verringerung der Haftzahlen]; VG Cottbus, Beschl. v. 13.9.2016 - 5 L 308/16.A -, ; VG München, Urt. v. 31.8.2016 - M 7 K 15.50718 -, ; VG München, Beschl. v. 5.8.2016 - M 1 S 16.50383 -, ; VG Ansbach, Beschl. v. 28.6.2016 - AN 3 S 16.50214 -, ; VG München, Urt. v. 10.6.2016 - M 12 K 16.50103 -, ; VG Osnabrück, Urt. v. 18.5.2016 - 5 A 68/16 -, [...]; VG Würzburg, Urt. v. 30.3.2016 - W 2 K 14.50204 -, ; VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 7.3.2016 - 5 L 432/16.F.A -, ; VG Berlin, Urt. v. 4.3.2016 - 23 K 323.14 A -, [...]; VG Gießen, Urt. v. 15.2.2016 - 2 K 4455/15.GI.A -, ; VG Augsburg, Beschl. v. 27.1.2016 - Au 4 S 16.50004 -, ; VG Dresden, Urt. v. 12.1.2016 - 2 K 1695/15.A -, [...]; VG Stade, Beschl. v. 4.11.2015 - 1 B 1749/15 -, ; offen gelassen: Österreichischer VGH, Entscheidung v. 8.9.2015 - Ra 2015/18/0113 -).

(1) Bei einer Rücküberstellung nach Ungarn droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung ohne individualisierte Prüfung von Haftgründen.

Nach den auf die Jahre 2013 und 2014 bezogenen Auskünften des UNHCR wurden in diesem Zeitraum Dublin-Rückkehrer grundsätzlich - mit Ausnahme von Familien und besonders "verletzlichen" Asylbewerbern - in Haft genommen (Stellungnahmen an das VG Düsseldorf vom 9.5.2014 [UNHCR 2014/I] und 30.9.2014 [UNHCR 2014/II]; ebenso: Auskunft von Pro Asyl an VG Düsseldorf vom 31.10.2014 [Pro Asyl 2014]).

Hinsichtlich des Zeitraums Anfang Januar 2015 bis Ende November 2015 hat die ungarische Asylbehörde gegenüber dem Menschenrechtskommissar des Europarats angegeben, dass 332 von 1.338 Dublin-Rückkehrern in Haft genommen worden seien (Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 and No. 44944/15, 17.12.2015, Rn. 41 [CoECfHR 2015]). Ob vor diesem Hintergrund die Auskünfte des Auswärtigen Amts zutreffen, dass es keine offiziellen statistischen Informationen darüber gebe, ob Dublin-Rückkehrer regelmäßig oder ausnahmsweise inhaftiert werden (Auskunft an das VG Regensburg vom 27.1.2016 [AA 2016]; Auskunft an das VG Potsdam vom 21.6.2016) kann letztlich nicht geklärt werden. Jedenfalls lässt die Auskunft der ungarischen Asylbehörde darauf schließen, dass der Anteil der inhaftierten Dublin-Rückkehrer im Jahr 2015 zwar gesunken, das Risiko der Inhaftierung jedoch beachtlich geblieben ist, zumal offenbar insbesondere männliche, alleinstehende Dublin-Rückkehrer - wie der Kläger - betroffen sind (vgl. CoECfHR 2015, Rn. 41).

Hinsichtlich des Jahres 2016 lassen sich den vorhandenen Erkenntnismitteln nur Angaben zum Verhältnis der inhaftierten Asylbewerber zur Gesamtheit aller in Ungarn befindlichen Asylbewerber (d.h. nicht nur der Dublin-Rückkehrer) entnehmen, was nur bedingt einen Rückschluss auf die Inhaftierungsquote von Dublin-Rückkehrern zulässt, zumal die Zahlen nicht den Eindruck vollständiger Kohärenz vermitteln, zumindest jedoch erheblich variieren. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge (Hungary: Key Asylum Figures as of 1 September 2016 [HHC 2016/I]) befanden sich unter Bezugnahme auf Angaben des UNHCR am 29. August 2016 233 von insgesamt 707 Asylbewerbern in Asylhaft, während nach einem früheren Bericht des Hungarian Helsinki Committee (The Reception Infrastructure for Asylum-Seekers in Hungary, Juni 2016 [HHC 2016/II]) am 30. Mai 2016 702 Asylbewerber inhaftiert und 1583 in offenen Einrichtungen untergebracht waren. Laut Angaben von Amnesty International (Stranded hope, Hungary's sustained attack on the rights of refugees and migrants, September 2016, S. 24 [AI 2016/I]) befanden sich unter Verweis auf das Hungarian Helsinki Committee am 1. August 2016 700 der insgesamt 1.200 registrierten Asylbewerber in Asylhaft. Unabhängig von der Divergenz dieser Inhaftierungszahlen legen deren beachtliche Höhen auch für das Jahr 2016 den Schluss nahe, dass nach wie vor ein wesentlicher Anteil der Dublin-Rückkehrer in Haft genommen wird.

Die Asylhaft kann bis zu einer Dauer von 72 Stunden durch die ungarische Asylbehörde angeordnet werden und bis zu einer Dauer von 6 Monaten gerichtlich verlängert werden, wobei (spätestens) alle 60 Tage eine Haftprüfung stattzufinden hat (aida, Country Report: Hungary, November 2015, S. 63 [aida 2015]; bordermonitoring.eu / Pro Asyl, Gänzlich unerwünscht - Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn, Juli 2016, S. 26 [BM-PA 2016]).

Die Entscheidung, ob ein Asylbewerber in Asylhaft genommen oder einer offenen Aufnahmeeinrichtung zugewiesen wird, wird nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln regelmäßig ohne nachvollziehbare Gründe, mithin willkürlich, vorgenommen (CoECfHR 2015, Rn. 22; HHC 2016/II; Human Rights Watch, Hungary: Locked Up for Seeking Asylum, 1.12.2015 [HRW 2015]; diplomatisch zurückhaltend: United Nations - General Assembly - Human Rights Council, Report of the Working Group on Arbitrary Detention - Mission to Hungary, 3.7.2014, Rn. 105). Zwar dürfte das ungarische Asylhaftrecht nach dessen Neuregelung im Jahr 2015 nunmehr im Wesentlichen in Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2013/33/EU (Abl. 2013, L 180/96; AufnahmeRL) stehen (ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., Rn. 36). Nach Art. 8 AufnahmeRL darf Haft nicht allein wegen der Beantragung internationalen Schutzes, sondern nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung aus bestimmten Haftgründen angeordnet werden, wenn dies erforderlich und keine weniger einschneidende Maßnahme wirksam ist. Jedoch sind die Haftgründe "Vermutung der ausschließlichen Asylantragstellung zur Verzögerung oder Verhinderung der Abschiebung", "Fluchtgefahr" und "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" sehr weit gefasst und gestatten dadurch eine - oftmals willkürliche - praktische Auslegung, die faktisch die Inhaftierung jedes Asylbewerbers ermöglicht (vgl. BM-PA 2016, S. 24; aida 2015, S. 60-61).

Behördliche und gerichtliche Haftanordnungen und -prüfungen erfolgen im Regelfall schematisch ohne Prüfung des Einzelfalls und ohne Abwägung milderer Mittel (aida 2015, S. 61-62; UNHCR comments and recommendations on the draft modification of certain migration, asylum-related and other legal acts for the purpose of legal harmonisation, 7.1.2015, S. 12; UNHCR 2014/I; UNHCR 2014/II). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 5. Juli 2016 (9912/15, O.M. v. Hungary, Rn. 52, 54) hinsichtlich einer gerichtlichen Haftanordnung aus dem Jahr 2014 festgestellt, dass der Fall nicht hinreichend individualisiert bewertet worden ist und sich die Haft am Rande der Willkür bewegte ("the applicant's detention verged on arbitrariness"). Selbst eine Arbeitsgruppe des ungarischen Obersten Gerichtshofs (Kuriá) ist in einem "Report on the courts' refugee law-related jurisprudence" vom 13. Dezember 2014 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Rechtsschutz in Zusammenhang mit der Asylhaft ineffizient ist; die von der Arbeitsgruppe abgegebenen Empfehlungen haben jedoch an der Rechtspraxis wohl nichts geändert (aida 2015, S. 69). Dabei leidet der Rechtsschutz unter anderem daran, dass die von Amts wegen beigeordneten Rechtsanwälte regelmäßig eine passive Rolle während der gerichtlichen Haftprüfung einnehmen, ohne sich ernsthaft für ihre Mandanten einzusetzen (aida 2015, S. 70; BM-PA 2016, S. 26). Hinzu kommt, dass Alternativen zur Asylhaft zwar im ungarischen Asylgesetz in Gestalt der Hinterlegung einer Sicherheitsleistung, der Zuweisung eines Aufenthaltsorts sowie der Verfügung einer Meldeauflage vorgesehen sind, jedoch sich deren Einsatz in der Praxis auf die Anordnung von Sicherheitsleistungen in seltenen Fällen und meist nur auf Initiative des Asylbewerbers beschränkt (CoECfHR 2015, Rn. 18; aida 2015, S. 61; BM-PA 2016, S. 25).

(2) Die Haftbedingungen in den ungarischen Asylhaftanstalten lassen nach der bestehenden Auskunftslage ebenfalls zum Teil erhebliche Mängel erkennen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., Rn. 39). Die ausgelasteten, allerdings nicht (mehr) überfüllten Asylhaftanstalten (aida 2015, S. 59) weisen den Erkenntnismitteln zufolge zahlreiche Missstände auf.

Inhaftierte Asylbewerber werden wie Strafgefangene behandelt, indem sie zu gerichtlichen Anhörungen oder anderen Terminen außerhalb der Haftanstalt mit Handschellen und angeleint gebracht werden (UNHCR 2014/I; aida 2015, S. 65; HRW 2015). Hygienische Mindeststandards (Duschen, Toiletten) werden teilweise nicht eingehalten und Häftlinge beklagen sich über einen zu geringen Nährwert der Mahlzeiten und den daraus resultierenden Gewichtsverlust (UNHCR 2014/I). Zudem wird auch über Beschimpfungen, Schikanierungen und Gewaltanwendungen seitens des Wachpersonals berichtet (UNHCR 2014/I; Pro Asyl 2014; AI 2016/I, S. 25-26). Im Herbst 2015 stellte die Nichtregierungsorganisation "Human Rights Watch" bei einem Besuch von fünf Haftanstalten fest, dass dort Schwangere, begleitete und unbegleitete Kinder sowie Menschen mit Behinderungen für lange Zeit festgehalten wurden, wobei Frauen und Familien mit kleinen Kindern die Einrichtungen teilweise mit alleinstehenden Männern teilen mussten. In der Haftanstalt "Nyirbator" wurde die Organisation darauf aufmerksam, dass die dort inhaftierten Asylbewerber Hautausschlag und Stiche von Bettwanzen aufwiesen und bei Temperaturen von um die 5° C mit unzureichender Kleidung ausgestattet waren (HRW 2015).

Eine grundlegende medizinische Versorgung wird in den Asylhaftanstalten zwar angeboten (AA 2016), jedoch wird nach den zur Verfügung stehenden Berichten mit den unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen nicht in einer auf den Einzelfall abstellenden Weise umgegangen. So werden immer wieder die gleichen Tabletten für unterschiedliche Krankheiten verabreicht (UNHCR 2014/I; aida 2015, S. 65; AI 2016/I, S. 25). Zudem bestehen eine adäquate Behandlung regelmäßig erschwerende Kommunikationsprobleme auf Grund fehlender Dolmetscher (CoECfHR 2015, Rn. 20). So berichtet die Nichtregierungsorganisation "Cordelia Foundation" über einen im Rahmen eines Besuchs in einer Haftanstalt wahrgenommenen Fall, in dem einem syrischen Flüchtling bei der Ankunft dessen Diabetesmedikamente abgenommen worden waren und im Rahmen der medizinischen Eingangsuntersuchung die daraufhin einsetzende Unterzuckerung nicht wahrgenommen wurde. Nachdem die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation das medizinische Personal darauf aufmerksam gemacht hatten, begründeten diese den Vorfall mit dem Fehlen eines Dolmetschers für die arabische Sprache bei der Untersuchung (Cordelia Foundation, From torture to detention, 2016, S. 25).

(3) Ein weiterer systemischer Mangel besteht darin, dass sich nicht ausschließen lässt, dass Ungarn Dublin-Rückkehrer ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge weiter nach Serbien als "sicheren Drittstaat" abschiebt, was einen indirekten Verstoß gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK zur Folge hätte, weil Serbien seinerseits kein Asylverfahren aufweist, das eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe garantiert. Als sichere Drittstaaten können solche Staaten anerkannt werden, in denen die Bestimmungen der GFK und EMRK eingehalten werden und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren gesetzlich gewährleistet ist (vgl. Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU [Abl. 2013, L 180/60]; Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG), während als sichere Herkunftsstaaten solche Staaten deklariert werden können, in denen generell weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung noch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts droht (vgl. Anhang I Satz 1 zur RL 2013/32/EU; Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG).

Nachdem Ungarn zwischen Januar 2013 und Juli 2015 die Anwendung der Regelung über sichere Drittstaaten in Bezug auf Serbien ausgesetzt hatte, ist Serbien im Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung durch Regierungserlass wieder zu einem sicheren Drittstaat erklärt worden (CoECfHR 2015, Rn. 34; UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Mai 2016, S. 14-16 [UNHCR 2016/I]). Seitdem werden auch Abschiebungen von Ungarn nach Serbien vollzogen. Nach auf der Auskunft der ungarischen Asylbehörde beruhenden Angaben des UNHCR hat Ungarn im Zeitraum vom 15. September 2015 bis zum 31. März 2016 298 Personen, davon 220 Drittstaatsangehörige (ohne in den Transitzonen Zurückgewiesene), nach Serbien unter Anwendung des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Serbien über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (Abl. 2007, L 334/46; Rücknahmeabkommen) abgeschoben (UNHCR 2016/I, Rn. 68-69).

Die Anerkennung Serbiens als sicherer Drittstaat durch Ungarn stellt einen Verstoß gegen das europarechtliche Konzept des sicheren europäischen Drittstaats dar, wonach ein Drittstaat von den Mitgliedstaaten nur dann als sicherer Drittstaat betrachtet werden darf, wenn er die GFK ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen einhält, über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügt sowie die EMRK ratifiziert hat und die darin enthaltenen Bestimmungen, einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe, einhält (Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU). Diesen Anforderungen genügt Serbien nicht. Der UNHCR empfiehlt seit 2012, Serbien wegen grundlegender Mängel des Asylsystems nicht als sicheren Drittstaat einzustufen und Asylbewerber nicht dorthin abzuschieben (Serbia as a Country of Asylum, August 2012, Rn. 81; UNHCR 2016/I, Rn. 71); diese Bewertung des serbischen Asylsystems als mangelhaft wird auch von der Europäischen Kommission geteilt (Serbia Progress Report, Oktober 2014, S. 52).

Die in Ungarn gegen die Asylantragsablehnung auf der Grundlage der sicheren Drittstaatenregelung vorgesehene gerichtliche Überprüfung erweist sich nicht als Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die ungarische Asylbehörde hat dem aus einem sicheren Drittstaat eingereisten Asylbewerber eine Anhörungsfrist von drei Tagen einzuräumen, innerhalb derer er geltend machen kann, weshalb der Drittstaat in seinem Einzelfall nicht als sicherer Drittstatt zu qualifizieren ist, bevor sie den Antrag als unzulässig ablehnen kann (aida 2015, S. 27). Dagegen hat der Asylbewerber lediglich eine Klagefrist von sieben Tagen (UNHCR 2016/I, S. 16). Im gerichtlichen Verfahren muss er den vollen Beweis erbringen, dass er in Serbien nicht die Möglichkeit hatte, sein Asylgesuch anzubringen (aida 2015, S. 45), was in der Praxis schon wegen der gesetzlich vorgegebenen Entscheidungsfrist des Gerichts von acht Tagen, des faktisch eingeschränkten Zugangs zu rechtlichem Beistand und des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags nahezu unmöglich sein dürfte (UNHCR 2016/I, S. 16; BM-PA 2016, S. 18-19; aida 2015, S. 28). Unter anderem wegen des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet (Kommission leitet gegen Ungarn Vertragsverletzungsverfahren wegen asylrechtlicher Verstöße ein, Pressemitteilung vom 10.12.2015 [Kommission 2015]). Selbst in Fällen, in denen die ungarischen Gerichte Rechtsschutz gegen die Asylantragsablehnung gewährt haben, folgt die ungarische Asylbehörde der gerichtlichen Entscheidung offenbar nicht und lehnt die Anträge ein zweites Mal als unzulässig mit der Folge ab, dass erneut Rechtsschutz in Anspruch genommen werden muss (UNHCR 2016/I, S. 17; BM-PA 2016, S. 19)

Im Falle des Klägers ist eine weitere Abschiebung nach Serbien nicht sehr wahrscheinlich, allerdings auch nicht von vornherein ausgeschlossen. Zwar scheint Serbien lediglich Flüchtlinge mit gültigen Personaldokumenten zurückzunehmen (UNHCR 2016/I, S. 17), über die der Kläger nach seinen Angaben nicht verfügt (vgl. Bl. 38 Beiakte A). Auch hat das Auswärtige Amt in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 27. Januar 2016 erläutert, dass eine Übernahme durch Serbien ohnehin ausgeschlossen sei, wenn zwischen dem Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn und dem Antrag auf Rückübernahme mehr als ein Jahr verstrichen sei (ebenso: aida 2015, S. 25). Jedoch knüpft der Beginn dieser Jahresfrist nicht an den Grenzübertritt, sondern an die Kenntnis davon, dass der Drittstaatsangehörige bzw. der Staatenlose die geltenden Voraussetzungen für die Einreise, die Anwesenheit oder den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt (Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Rückübernahmeabkommen). Zudem ist diese Frist verlängerbar, wenn rechtliche oder tatsächliche Hindernisse für die rechtzeitige Übermittlung des Ersuchens bestehen (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Rückübernahmeabkommen). Ebenfalls kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass Ungarn den für die Überstellung nach Serbien erforderlichen Nachweis erbringen kann, dass sich der Kläger in Serbien aufgehalten hat oder dort durchgereist ist. Zwar ist insofern nach Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Anhang 3 Rückübernahmeabkommen grundsätzlich ein Nachweis insbesondere durch Ein- bzw. Ausreisestempel bzw. Reisedokumente wie Hotelrechnungen oder mit Namen versehenen Tickets erforderlich. Ein solcher Nachweis kann von den ungarischen Behörden in der Regel nicht erbracht werden (AA 2016). Jedoch genügt gemäß Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Anhang 4 Rückübernahmeabkommen auch eine Glaubhaftmachung durch Erklärungen der betroffenen Person oder Dritter. Hinzutretend besteht die Gefahr, dass die Aufnahmebereitschaft Serbiens im vorliegenden Fall deshalb erhöht ist, weil der Kläger aus dem von Serbien nicht als eigenständiger Staat anerkannten Kosovo stammt und Serbien ihn daher als eigenen Staatsangehörigen betrachten könnte, was zugleich die Gewährung effektiven Asylrechtsschutzes - "gegenüber eigenen Staatsangehörigen" - von vorneherein ausschließen würde.

(4) Das ungarische Asylverfahren weist weitere erhebliche Mängel auf, die den Kläger als Dublin-Rückkehrer zwar nur teilweise unmittelbar betreffen, jedoch aufzeigen, dass die zuvor ausgeführten Defizite nicht die einzigen Mängel des ungarischen Asylverfahrens sind, sondern vielmehr einen Teil von systemisch angelegten Defiziten darstellen. So hat die Europäische Kommission im Dezember 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, weil zu befürchten sei, "dass es im Rahmen von Rechtsbehelfen nicht möglich ist, auf neue Fakten und Umstände zu verweisen, und dass Ungarn Entscheidungen im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen nicht automatisch aussetzt, sondern dass Antragsteller bereits vor Verstreichen der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs oder vor der Prüfung des Rechtsbehelfs effektiv gezwungen werden, ungarisches Hoheitsgebiet zu verlassen". Außerdem bestünden "im Hinblick auf das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht nach Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bedenken hinsichtlich der Tatsache, dass gemäß den neuen ungarischen Vorschriften zur gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen über die Ablehnung eines Asylantrags eine persönliche Anhörung der Antragsteller fakultativ ist". Zudem scheine "der Umstand, dass gerichtliche Entscheidungen von Gerichtssekretären auf vorgerichtlicher Ebene getroffen werden, einen Verstoß gegen die Asylverfahrensrichtlinie und Artikel 47 der Grundrechtecharta zu begründen" (Kommission 2015). Weiterhin dürfen die ungarischen Gerichte auf Grund einer zum 1. September 2015 in Kraft getretenen Gesetzesänderung die Entscheidungen der ungarischen Asylbehörde nicht mehr abändern, sondern diese lediglich anweisen, den Fall erneut zu prüfen, was in der Praxis dazu führt, dass diese häufig ihre Entscheidung ohne vertiefte Prüfung lediglich wiederholt und erneut Rechtsschutz gesucht werden muss (BM-PA 2016, S. 16, 19; UNHCR 2016/I, S. 17).

Darüber hinaus erschwert Ungarn den Zugang zum Asylverfahren für aus Serbien kommende Flüchtlinge erheblich, indem an der Grenze zu Serbien im September 2015 fertiggestellte Grenzzäune errichtet und Transitzonen eingerichtet worden sind, in denen seit März 2016 lediglich einem Kontingent von insgesamt 30 Flüchtlingen täglich die Asylantragstellung erlaubt wird (UNHCR 2016/I, Rn. 22). Dadurch müssen zahlreiche Flüchtlinge teilweise wochenlang unter äußerst prekären Bedingungen vor den Grenzzäunen campieren (Amnesty International, So schlecht wie möglich, August 2016 [AI 2016/II]), wodurch Ungarn permanent gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK verstoßen dürfte (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 43). Zudem berichtet der UNHCR über exzessive Gewalteinsätze gegen Flüchtlinge in den Transitzonen sowie in den ungarischen Polizeigefängnissen in Gestalt von Bissen nicht angeleinter Polizeihunde, Einsatz von Pfefferspray und Schlägen (Hungary: UNHCR concerned about new restrictive law, increased reports of violence, and deterioration of the situation at border with Serbia, 15.7.2016). In einem Fall ist laut UNHCR ein syrischer Flüchtling zu Tode gekommen, nachdem die ungarische Polizei eine größere Gruppe von Flüchtlingen beim Versuch der Überquerung des Grenzflusses Tisza in diesen zurückgedrängt hatte (UNHCR alarmed at refugee death on Hungary-Serbia border, 6.6.2016 [UNHCR 2016/II]). Human Rights Watch hat ebenfalls 12 Fälle übermäßiger Gewaltanwendung durch ungarische (Polizei)Behörden im Zusammenhang mit dem Grenzregime dokumentiert (Hungary: Failing to Protect Vulnerable Refugees, 20.9.2016).

Auf Grund einer Gesetzesänderung im Juli 2016 ist die ungarische Polizei ermächtigt worden, fremde Staatsangehörige, die sich innerhalb eines Bereichs von 8 km Entfernung zur Grenze unrechtmäßig aufhalten und dort aufgegriffen werden, unmittelbar nach Serbien - ohne Durchführung eines Asylverfahrens - zurückzuschieben, was gleichfalls eine Verletzung des Refoulement-Verbots des Art. 33 Abs. 1 GFK darstellt (AI 2016/I, S. 9, 19-21; UNHCR 2016/II).

Auch die in Ungarn auf Grund einer im September 2015 in Kraft getretenen Gesetzesänderung praktizierte Strafverfolgung von Flüchtlingen allein wegen illegalen Grenzübertritts verstößt zumindest gegen den Grundsatz der Nichtbestrafung unrechtmäßig einreisender, schutzbedürftiger Flüchtlinge aus Art. 31 Abs. 1 GFK (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 43). Zwischen dem 15. September 2015 und dem 21. August 2016 erfolgten 2841 Verurteilungen fast ausschließlich zur Ausweisung verbunden mit einem ein- bis zweijährigen Einreiseverbot (AI 2016/I, S. 19). Die beschleunigten Massenverfahren wecken zudem erhebliche rechtsstaatliche Bedenken in Hinblick auf eine effektive Strafverteidigung durch passiv bleibende, beigeordnete Pflichtverteidiger, die nicht erfolgende Aussetzung des Verfahrens wegen Asylantragstellung und der unterbleibenden schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift sowie des Urteils in die Muttersprache des Angeklagten (UNHCR 2016/I, S. 21-23; AI 2016/II). Die unterbleibenden schriftlichen Übersetzungen sind zudem Gegenstand des von der Europäischen Kommission gegen Ungarn eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens (Kommission 2015).

Durch mehrere Gesetzesänderungen zum 1. April 2016 und 1. Juni 2016 besteht selbst für Flüchtlinge, die in Ungarn einen Schutzstatus erhalten, die Gefahr der anschließenden Verelendung und Obdachlosigkeit (vgl. BM-PA 2016, S. 23; Hungarian Helsinki Committee, Hungary: Recent legal amendments further destroy access to protection, April - June 2016; UNHCR 2016/I, S. 7; vgl. zur bereits zuvor bestehenden defizitären Situation: UNHCR, Stellungnahme an das VG Freiburg vom 30.9.2014, S. 6). So sind die zeitlich begrenzte finanzielle Unterstützung anerkannter Flüchtlinge im Rahmen von sog. "Integrationsverträgen" ebenso wie das frei zur Verfügung stehende monatliche Taschengeld für Asylbewerber in Höhe von 24 € sowie die finanzielle Bildungsunterstützung für minderjährige Flüchtlinge ersatzlos gestrichen worden. Der zulässige Verbleib von Flüchtlingen in offenen Asyleinrichtungen nach ihrer Anerkennung wurde von 60 auf 30 Tage und der Zugang zu einer Basisgesundheitsversorgung von einem Jahr auf sechs Monate reduziert. Zwar verpflichtet Art. 3 EMRK die Vertragsstaaten nicht aus sich heraus dazu, jedermann in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen und Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Jedoch kann sich die Verpflichtung zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung aus europarechtlichen Verpflichtungen wie der Richtlinie 2011/95/EU (Abl. 2011, L 337/9; QualifikationsRL) ergeben (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, a.a.O., Rn. 249-250; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 -, Rn. 40). Insbesondere ist es mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn sich ein Asylbewerber, der von staatlicher Unterstützung vollständig abhängig ist und sich in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation befindet, staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht (vgl. EGMR, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 253). Die QualifikationsRL garantiert anerkannten Flüchtlingen den Zugang zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und - für Minderjährige - zum Bildungssystem zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörigen des aufnehmenden Staats (Art. 29 Abs. 1, Art. 30 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1) sowie den Zugang zu Wohnraum zu gleichwertigen Bedingungen wie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen (Art. 32 Abs. 1). Die genannten Gesetzesänderungen stellen die Gewährleistung dieser Garantien in Ungarn zumindest ernsthaft in Frage.

Schließlich fügen sich die rechtlichen und tatsächlichen Asylverfahrensdefizite in die generelle Ausrichtung der ungarischen Flüchtlingspolitik und -gesetzgebung ein. Sowohl die in den Jahren 2015 und 2016 beschlossenen asylrechtlichen Gesetzesänderungen als auch die politische Rhetorik der ungarischen Regierung legen den Schluss nahe, dass es sich um bewusst zur Verringerung der Flüchtlingszahlen angelegte, systemische Mängel handelt. So kommt der UNHCR zu dem Resümee, dass Ungarn im Jahr 2015 und im ersten Quartal 2016 fortschreitend den Zugang zu seinem Staatsgebiet beschränkt sowie Asylbewerber von der Beantragung von Flüchtlingsschutz abgeschreckt hat und dass wesentliche Aspekte des ungarischen Rechts sowie der ungarischen Praxis ernste Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit internationalem und europäischem Recht geben (UNHCR 2016/I, S. 26-27). Der ungarische Ministerpräsident Orbán äußerte in einer Pressekonferenz am 26. Juli 2016 (Die Zeit online, Orbán nennt Einwanderung "Gift"): "Jeder einzelne Migrant stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar. (...) Für uns ist Migration keine Lösung, sondern ein Problem. (...) Nicht Medizin, sondern ein Gift, wir wollen es nicht und schlucken es nicht."

2. Die Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ist darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine realistische Möglichkeit besteht, dass der Kläger innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft nach Ungarn überstellt werden könnte.

Der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke gebietet es in einer solchen Situation, vom Selbsteintrittsrecht des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO Gebrauch zu machen (ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016, a.a.O., Rn. 48; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., Rn. 44; VG Kassel, Beschl. v. 28.1.2016 - 3 L 11/16.KS.A -, Rn. 5; VG Köln, Urt. v. 22.12.2015 - 2 K 3464/15.A -, Rn. 69). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird; erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 Dublin II-VO selbst prüfen (Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 108; Urt. v. 14.11.2013, a.a.O., [...] Rn. 35). Aus diesem Beschleunigungsgebot folgt unter anderem ein Anspruch des Asylbewerbers auf Sachprüfung in einem effektiven und zügigen Verfahren (Sächsisches OVG, Beschl. v. 5.10.2015 - 5 B 259/15.A -, Rn. 30). Den Erwägungsgründen 3 und 4 der Dublin II-VO zufolge soll eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren; sie soll insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Um diesen Anspruch auf effektiven Zugang zum Asylverfahren und auf zügige Sachprüfung nicht ins Leere laufen zu lassen, hat ein Mitgliedstaat sein Selbsteintrittsrecht auszuüben, wenn die Überstellung an den an sich für zuständig erachteten Mitgliedstaat wegen dessen mangelnder Aufnahmebereitschaft aussichtslos erscheint. Dem steht nicht entgegen, dass der Asylbewerber keinen Anspruch auf Prüfung seines Asylantrags in einem bestimmten Staat besitzt und daher die Beachtung der Überstellungsfrist kein subjektives, einklagbares Recht des Asylbewerbers darstellt, so dass sich dieser nach deren Ablauf nicht auf den dadurch erfolgten Zuständigkeitswechsel berufen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 16.9.2015 - 13 A 2159/14.A -, Rn. 68-81 m.w.N.). Denn hier handelt es sich nicht um die in Hinblick auf das Beschleunigungsgebot unproblematische Situation, dass ein Asylbewerber in einen zwar mittlerweile unzuständigen, jedoch weiterhin aufnahmebereiten und -fähigen Mitgliedstaat überstellt werden soll, sondern um die umgekehrte Konstellation, dass ein Asylbewerber in einen grundsätzlich zuständigen, jedoch nicht aufnahmebereiten oder -fähigen Mitgliedstaat abgeschoben werden soll (vgl. Sächsisches OVG, a.a.O., Rn. 31).

Im Falle des Klägers ist nicht erkennbar, dass dessen Rücküberstellung nach Ungarn innerhalb der Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 20 Abs. 1 d) Dublin II-VO) tatsächlich noch im Bereich des - realistisch betrachtet - Möglichen liegt. Das hätte die Beklagte im Rahmen ihrer prozessualen Mitwirkungspflichten substantiiert darlegen müssen, weil im vorliegenden Fall erhebliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Überstellung unwahrscheinlich ist und ihr auf Grund ihrer Mitwirkung bei der Durchführung von Dublin-Überstellungen bekannt ist, wie Ungarn derzeit in vergleichbaren Fällen reagiert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., Rn. 42; sowie zur Darlegungslast bei Ablauf der Überstellungsfrist und nicht positiv feststehender, fortbestehender Wiederaufnahmebereitschaft: BVerwG, Urt. v. 27.4.2016 - 1 C 24/15 -, Rn. 23).

Im 2. bzw. 3. Quartal 2015 bzw. 1. bzw. 2 Quartal 2016 hat die Beklagte 3.565, 4.303, 3.215 bzw. 3.305 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet, Ungarn hat in 2.665, 2.570, 1.556 bzw. 673 Fällen zugestimmt und in 61, 40, 75 bzw. 90 Fällen ist tatsächlich eine Rücküberstellung erfolgt (BT-Drs. 18/6860, S. 45-46; Auskunft der Beklagten an das VG Osnabrück vom 15.8.2016), was Rücküberstellungquoten von 1,71 %, 0,93 %, 2,33 % bzw. 2,72 % in Bezug auf die Übernahmeersuchen und von 2,29 %, 1,56 %, 4,82 % bzw. 13,37 % (3,3 % im 4. Quartal 2015 laut VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., Rn. 42) in Bezug auf die erteilten Zustimmungen ergibt. Die sehr niedrige Anzahl der tatsächlichen Überstellungen erklärt sich wohl hauptsächlich damit, dass Ungarn bei der Überstellung von Dublin-Rückkehrern am Flughafen Budapest nur ein Kontingent von 12 Personen aus sämtlichen Mitgliedstaaten täglich zwischen Montag und Donnerstag akzeptiert (Auskunft des BAMF vom 20.11.2015 an das VG Köln; BM-PA 2016, S. 7). Des Weiteren hat der das Büro des ungarischen Ministerpräsidenten leitende Minister in einem Pressegespräch am 26. Mai 2016 angekündigt, dass niemand nach Ungarn zurückgesandt werden könne, sondern die betreffenden Asylbewerber vielmehr nach Griechenland zu schicken seien (Pressegespräch der ungarischen Regierung, No one can be sent back to Hungary, 26.5.2016). Damit korrespondierend lehnt das ungarische Dublin-Unit in letzter Zeit offenbar über das Netzwerk "DubliNet" - nach erteilter Zustimmung zum Übernahmeersuchen - die Rücküberstellung (zunächst) mit folgendem Hinweis ab (vgl. eMail v. 7.7.2016, Bl. 142 GA): "We kindly inform you that - with regard to our previous communication - we can not accept any incoming Dublin transfers. Therefore we kindly ask you to cancel the transfer and we also ask you not to plan any Dublin transfer to Hungary in the future." Zwar hat die Beklagte in ihrer Auskunft vom 15. August 2016 an das Verwaltungsgericht Osnabrück erklärt, dass auch in den Monaten Mai, Juni und Juli 2016 Rücküberstellungen von 35, 30 bzw. 19 Asylbewerbern nach Ungarn stattgefunden hätten. Auf die Ablehnungen des ungarischen Dublin-Units reagiere sie, indem sie antworte, dass die Ablehnung nicht akzeptiert werde, und sie den bereits bekannt gegebenen Überstellungstermin bestätige. Das ändert jedoch nichts daran, dass die politischen und behördlichen Erklärungen der ungarischen Seite sowie das hohe Vollzugsdefizit und der damit verbundene Überstellungsrückstau offenbaren, dass Ungarn nur sehr widerwillig und zurückhaltend Dublin-Rücküberstellungen zulässt.

Im Falle des Klägers kommt hinzu, dass seit dem Rücknahmeersuchen der Beklagten und der Zustimmung der ungarischen Asylbehörde nunmehr fast drei Jahre verstrichen sind, was die Rücknahmebereitschaft Ungarns zusätzlich in Frage stellt. Seit Dezember 2013 haben sich die Flüchtlingssituation in Ungarn und die Bedingungen, unter denen Dublin-Rücküberstellungen dorthin vorgenommen werden, erheblich verändert.

Bei dieser Sachlage hätte die Beklagte den Hinweis in der gerichtlichen Verfügung vom 18. August 2016 mit der Bitte um Stellungnahme bis zum 16. September 2016 darauf, dass erhebliche Zweifel daran bestünden, dass in absehbarer Zeit, jedenfalls aber innerhalb der nächsten sechs Monate eine Überstellung des Klägers nach Ungarn tatsächlich möglich sein werde und durchgeführt werden könne, nicht unbeantwortet lassen dürfen. Vielmehr hätte es einer substantiierten und auf den Einzelfall bezogenen Darlegung bedurft, weshalb trotz der erläuterten Situation weiterhin eine realistische Perspektive bestehen soll, dass gerade der Kläger nach einer rechtskräftigen Entscheidung nach Ungarn rücküberstellt werden könnte.

3. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Abschiebungsanordnung nicht nur mangels Zuständigkeit eines anderen Staats, sondern auch deshalb als rechtswidrig, weil § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung voraussetzt. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Den zuvor gemachten Ausführungen zufolge kann nicht von einer realistischen Möglichkeit zur Durchführung der Abschiebung ausgegangen werden.