Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 08.05.2023, Az.: 2 A 269/22

Dublin-Rückkehrer; Kettenabschiebungen; Kollektivausweisungen; Push-backs; systemische Mängel; Systemische Mängel im kroatischen Asylsystem wegen "Push-backs"; Kettenabschiebungen und Kollektivausweisungen

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
08.05.2023
Aktenzeichen
2 A 269/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 17418
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0508.2A269.22.00

Verfahrensgang

nachfolgend
OVG Niedersachsen - 04.12.2023 - AZ: 10 LB 91/23

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Ausweisung von Asylsuchenden ohne individuelle Prüfung ihrer Asylanträge ist seit Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Migrationssteuerung durch das kroatische Innenministerium. Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass auch die Organe der Europäischen Union die ungeprüfte Ausweisung von Asylsuchenden durch die kroatischen Behörden billigen.

  2. 2.

    Die tatsächlichen Erkenntnisse über den Umgang mit Asylsuchenden in Kroatien erschüttern das Vertrauen der EU-Mitgliedsstaaten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in Kroatien in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht.

  3. 3.

    Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, ist nur dann gerechtfertigt, wenn es dem Bundesamt oder dem entscheidenden Gericht gelingt, positiv zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen.

Tatbestand

Die Kläger wenden sich gegen die Unzulässigkeitsentscheidung der Antragsgegnerin und ihre angeordnete Abschiebung nach Kroatien im Rahmen des Dublin-Verfahrens.

Sie sind irakische Staatsangehörige, arabischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Der Kläger zu 1) stammt aus Wasset, die Klägerin zu 2) aus Bagdad. Sie sind die Eltern der minderjährigen Kläger zu 3) bis 7) und der Klägerin zu 8).

Der Kläger zu 1) besuchte die Schule im Irak bis zur sechsten Klasse und war sodann selbstständig im Baugewerbe tätig. Die Klägerin zu 2) verließ die Schule nach der vierten Klasse und arbeitete danach neben ihrer Hausfrauentätigkeit als Küchenhilfe. Die Kläger verließen den Irak am 10.10.2018 und reisten von dort aus zunächst nach Griechenland, wo sie sich drei Jahre und zehn Monate lang aufhielten und wo auch die Klägerin zu 8) geboren wurde. Sodann reisten sie auf dem Landweg u. a. über Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien am 21.08.2022 nach Deutschland ein. Sie stellten am 07.09.2022 einen Asylantrag bei der Beklagten. In Deutschland lebt noch eine weitere volljährige Tochter des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2).

Am 25.08.2022 ermittelte die Beklagte mittels eines EURODAC-Treffers, dass die Kläger bereits am 02.08.2022 einen Asylantrag bei den kroatischen Behörden in Gvozd gestellt hatten.

In ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrages am 08.09.2022 berichtete die Klägerin zu 2), sie seien in Kroatien zur Abgabe von Fingerabdrücken gezwungen worden. Die Polizei sei sehr grob mit ihnen umgegangen. Sie seien in ein Camp voller Geflüchteter gebracht worden. In den Nächten seien Polizisten gekommen, vor denen sie Angst gehabt hätten. Auch ihre Kinder hätten sich unterdrückt gefühlt. Man habe sie nach ihren persönlichen Daten befragt; die Frage, ob sie in Kroatien Asylanträge stellen wollten, hätten sie verneint. Einigen anderen Geflüchteten, v. a. solchen aus Pakistan, habe die Polizei Zettel gegeben mit der Aufforderung, das Land zu verlassen. Nach ein bis zwei Tagen hätten alle Geflüchteten das Camp verlassen. Sodann seien sie auch selbst nach Slowenien weitergereist. In Griechenland seien ihr im Krankenhaus die Gebärmutter sowie Gallensteine entfernt worden. Zudem habe sie Probleme mit der Lunge und in geschlossenen Räumen Atembeschwerden. Der Kläger zu 1) berichtete, in Kroatien habe er kein Asyl beantragen wollen. Er habe nur einen Zettel unterschrieben, weil der Dolmetscher ihm dazu geraten habe und er Angst gehabt habe, zurückgeschickt zu werden, wenn er sich geweigert hätte. Sie hätten keine Anhörung über ihre Asylgründe gehabt, sondern sich nur registriert. Die kroatischen Polizisten hätten selbst gesagt, dass sie gehen sollten.

In ihrer persönlichen Anhörung am 08.09.2022 berichteten der Kläger zu 1) und die Klägerin zu 2), sie hätten den Irak verlassen, weil der Kläger zu 1) sich nach der Ermordung ihres ältesten Sohnes durch Milizen an Protesten gegen das Regime beteiligt habe und sie befürchtet hätten, dass er wie andere seiner Mitstreiter deswegen verhaftet und getötet werden würde.

Am 09.09.2022 stellte die Beklagte ein Aufnahmegesuch an Kroatien. Mit Schreiben vom 23.09.2022 erklärten sich die kroatischen Behörden zur Wiederaufnahme der Kläger bereit. Sie führten aus, die Kläger hätten am 04.08.2022 Asylanträge in Kroatien gestellt, die noch geprüft würden.

Mit Bescheid vom 26.09.2022, zugestellt am 06.10.2022, lehnte die Beklagte die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Kroatien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 19 Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung damit, dass Kroatien aufgrund der dort gestellten Asylanträge für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei. In Kroatien bestünden zudem keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen. Die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sei sichergestellt und das Recht auf Asyl werde durch die kroatische Verfassung garantiert. Personen, die aufgrund der Dublin III-VO nach Kroatien zurückkehrten, hätten vollen Zugang zum kroatischen Asylsystem. Für ihre gesundheitlichen Probleme hätte die Klägerin zu 2) keine Nachweise erbracht, im Übrigen könnten diese auch in Kroatien behandelt werden.

Die Kläger haben am 11.10.2022 Klage erhoben und am 12.10.2022 ergänzend einen Eilantrag gestellt (2 B 273/22).

Sie halten den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentieren, ihnen drohe im Falle einer Abschiebung nach Kroatien die zwangsweise Rückführung nach Bosnien-Herzegowina ohne ordnungsgemäße Prüfung ihrer Asylanträge.

Mit Beschluss vom 07.11.2022 ordnete das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage an.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 26.09.2022 aufzuheben, hilfsweise, Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 S. 1 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin entscheidet ohne mündliche Verhandlung über die Klage, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 04.04.2023 und vom 04.05.2023 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 - 1 C 32.14 -, juris Rn. 14 f.). Die Kläger haben auch innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der am 06.10.2022 erfolgten Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides Klage erhoben.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 26.09.2022 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Ihre Asylanträge wurden zu Unrecht als unzulässig abgelehnt.

Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 31) (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Die Zuständigkeit Kroatiens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wiederaufzunehmen. Aus dem Eurodac-Treffer vom 25.08.2022 wie auch aus dem Schreiben der kroatischen Behörden vom 23.09.2022 ergibt sich, dass die Kläger bereits vor der Einreise nach Deutschland in Kroatien Asylanträge gestellt und Kroatien noch während des laufenden Verfahrens verlassen haben. Kroatien hat dem am 09.09.2022 und damit gem. Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO innerhalb der Zwei-Monats-Frist nach der Eurodac-Treffermeldung gestellten Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes zugestimmt.

Die Zuständigkeit Kroatiens ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.

Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen.

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).

Solche systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem bestehen darin, dass die kroatischen Behörden regelmäßig Asylsuchende ohne individuelle Prüfung ihrer Asylanträge über die kroatische EU-Außengrenze zurückdrängen oder sie im Rahmen von Kettenabschiebungen oder Kollektivausweisungen nach Serbien und Bosnien-Herzegowina abschieben.

Die Einzelrichterin bezieht sich insofern zunächst auf ihre Ausführungen im Urteil des VG Braunschweig im Urteil vom 24.05.2022 (- 2 A 26/22 -, juris):

"Eine Delegation des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erfuhr bei seinen Ermittlungen in Kroatien im Sommer 2020 von zahlreichen Fällen körperlicher Misshandlungen ausländischer Staatsangehöriger durch kroatische Polizeibeamte. Der Bericht konnte erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht werden, weil die kroatische Regierung und das Innenministerium lange versucht hatten, seine Veröffentlichung zu verhindern (04.12.2021, Inicijativa Dobrodosli!/ Welcome! Initiative, https://welcome.cms.hr/index.php/2021/12/04/objavljeno-izvjesce-odbora-vijeca-europe-za-sprjecavanje-mucenja-o-situaciji-u-hrvatskoj-koje-je-godinu-dana-stopirala-hrvatska-vlada-i-mup/#). Die Delegation berichtet darin von gewaltsamen Übergriffen, die die Beamten in Form von Ohrfeigen, Tritten, Schlägen mit Knüppeln und anderen harten Gegenständen (z. B. Läufen von automatischen Waffen, Holzstöcken oder Ästen) auf verschiedene Körperteile der Geflüchteten ausübten. Die von den befragten Migranten beschriebenen Misshandlungen erfolgten dabei sowohl zum Zeitpunkt des "Abfangens" und der faktischen Festnahme auf kroatischem Hoheitsgebiet, d. h. mehrere, bis zu 50 km oder mehr von der Grenze entfernt, wie auch zum Zeitpunkt der "Umleitung", d. h. des Zurückdrängens über die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen wiesen die befragten Personen körperliche Verletzungen auf, die mit ihren Behauptungen, von kroatischen Polizeibeamten misshandelt worden zu sein, übereinstimmten. Schutzbedürftigen Personen wie Familien mit Kindern und Frauen habe die Polizei keine medizinische Nothilfe geleistet, sondern sie gewaltsam zur Grenze zurück transportiert. Zudem berichteten Migranten, sie seien auch anderen Formen schwerer und demütigender Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Polizeibeamte hätten aus nächster Nähe Kugeln in ihre Richtung gefeuert, während sie am Boden lagen, oder hätten sie mit gefesselten Händen in den Fluss Korana geworfen. Schließlich seien sie ohne Schuhe und nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, in einigen Fällen sogar völlig nackt, nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden. Der Bericht erwähnte zudem, von Slowenien rückübernommene Migranten seien ebenfalls von diesen Maßnahmen betroffen (Europarat, CPT Report to the Croatian Government on the visit to Croatia from 10 to 14 August 2020, 03.12.2021, S. 9-10, 14-15).

Das Border Violence Monitoring Network berichtete im September 2020 ebenfalls von "Überstellungsketten" von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina (Border Violence Monitoring Network, Illegal push-backs and border violence reports Balkan region, September 2020, S. 15). Österreichische Medien informierten über die Beteiligung österreichischer Behörden an Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze, 16.11.2020). Auch die Asylum Information Database veröffentlichte Berichte der Initiative Are You Syrious (AYS), denen zufolge es sich bei fast 30 % der gewaltsamen "Push-backs" im Jahr 2020 um Kettenabschiebungen von Italien oder Österreich über Slowenien und dann von Kroatien aus nach Bosnien-Herzegowina gehandelt habe. Dabei hätten 58 % der Betroffenen angegeben, dass sie erfolglos versucht hätten, in Kroatien Asyl zu beantragen, woraufhin man ihnen gesagt habe, dass es in Kroatien kein Asyl gebe (aida, Country Report: Croatia, 2020 update, S. 23). Dementsprechend äußerte sich auch der Menschenrechtskommissar des Europarates bereits in seiner Stellungnahme vom 22.12.2020 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besorgt darüber, dass auch für diejenigen Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgeführt würden, erhebliche Hindernisse für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren bestünden (Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16).

Zwangsrückführungen ohne ordnungsgemäße Prüfung des Asylantrages stellen dabei keine Einzelfälle oder Exzesse bestimmter Polizeibeamter dar, sondern entsprechen politischen Entscheidungen und spezifischen Anweisungen der übergeordneten Behörden an die Einheiten der kroatischen Grenzpolizei.

Schon im März 2019 beschrieben Polizisten des Grenzschutzes in einem anonymen Beschwerdebrief an die kroatische Ombudsfrau die Anordnungen an die Einsatzkräfte: "Es gibt kein Asyl, nur in Ausnahmesituationen, wenn Medien vor Ort sind. Die Befehle des Chefs, der Exekutive und der Verwaltung lauten, alle [Flüchtlinge] ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, Geld zu nehmen, Handys zu zerbrechen, sie in [einen Fluss] zu werfen, oder für sich selbst zu nehmen, und Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken. [...] Wenn sie von den anderen Polizeistationen hierhergefahren werden, sind die Leute erschöpft, manchmal werden sie verprügelt, und dann sind wir es, die sie in der Nacht fahren und mit Gewalt nach Bosnien zurückschieben." (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, 17.07.2019). Die ehemalige Staatspräsidentin Kroatiens Kolinda Grabar-Kitarovic antwortete im Juli 2019 auf die Frage nach gewaltsamem Vorgehen gegen Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze: "Natürlich ist ein wenig Gewalt nötig, wenn wir Push-backs durchführen." (The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2019/jul/16/croatian-police-use-violence-to-push-back-migrants-says-president, 16.07.2019).

Nachdem die ARD im Oktober 2021 gemeinsam mit weiteren Recherchepartnern ein heimlich aufgenommenes Video veröffentlichte, welches zeigt, wie maskierte, kroatische Interventionspolizisten auf Asylsuchende einschlagen, wurde im Februar 2022 eine E-Mail vom 15.10.2021 publik, in der latko Cacic, der stellvertretende Leiter der Grenzwache in Bajakovo, einer kroatischen Stadt an der Grenze zu Serbien, seine Kollegen anwies, wenn eine Gruppe Migranten außer Landes geschafft werde, sollten die Beamten sie künftig an mehreren verschiedenen Orten abschieben. Vorher sei die Umgebung "gründlich zu inspizieren", um sicherzustellen, dass niemand filme. Falls Kollegen Migranten "unnötig" schikanieren und körperlich misshandeln würden, heißt es in der E-Mail weiter, sollten die betreffenden Beamten ermahnt und ihre Vorgesetzten informiert werden (Srdjan Govedarica, Tagesschau, Eine E-Mail als Anleitung zu Pushbacks?, 11.02.2022, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/kroatien-pushbacks-103.html).

Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der "Push-backs" in Kroatien fort.

Das European Council on Refugees and Exiles registrierte die Durchführung von mehr als 30.000 "Push-backs" aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zwischen Juni 2019 und September 2021, bei denen Zeugen von exzessiver Gewaltanwendung und einem Muster von "invasiver Durchsuchung" und sexueller Gewalt durch die Polizei berichteten. In etwa 45 % der aus Kroatien gemeldeten Fälle seien die Betroffenen gezwungen worden, sich zu entkleiden, oft gefolgt vom Betasten der Genitalien durch Polizeibeamte, dem Verbrennen der Kleidung oder dem Stoßen der halbnackten Personen in Flüsse. Allein etwa 7.200 Zurückschiebungen sollen zwischen Januar und September 2021 stattgefunden haben, dabei soll es in 25 % der Fälle zu exzessiven Gewaltanwendungen gekommen sein (ECRE, Balkan Route: Tens of Thousands Pushed Back from Croatia, 22.10.2021, https://ecre.org/balkan-route-tens-of-thousands-pushed-back-from-croatia-evidence-of-pushbacks-and-border-violence-in-romania-presented-to-un-rights-body-stonewalling-of-asylum-seekers-in-serbia-a/). Das Danish Refugee Council registrierte 4.905 Push-backs an der kroatisch-bosnischen Grenze zwischen Juli und November 2021. In 18 % aller Fälle seien Familien mit Kindern betroffen gewesen. Die Mehrheit der befragten afghanischen Migranten beklagte den Diebstahl oder die Zerstörung ihres Eigentums sowie missbräuchliche oder erniedrigende Behandlung durch die Polizeibeamten. Darüber hinaus berichtet die Organisation auch von Fällen, in denen illegale Migranten noch nach mehrtägigem Aufenthalt in Kroatien aufgegriffen und zurück an die Grenze verbracht wurden. Auch in diesem Bericht wurden Fälle von Kettenabschiebungen aus Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina dokumentiert (DRC, Human dignity lost at the EU's borders, Dezember 2021, S. 5, 12). Die aktuellsten Betroffenenberichte des Border Violence Monitoring Network über brutale Zwangsrückführungen der kroatischen Polizei stammen vom 15.05.2022 (https://www.borderviolence.eu/violence-reports/).

Wesentliche Verbesserungen sind auch nicht feststellbar durch die Implementierung des kroatischen Grenzüberwachungsmechanismus im August 2021. Diesen "Unabhängigen Mechanismus zur Überwachung des Verhaltens von Polizeibeamten des Innenministeriums im Bereich der illegalen Migration und des internationalen Schutzes" setzte die kroatische Regierung erst nach jahrelanger Weigerung ein, obwohl der Mechanismus eine Bedingung für die bereits seit 2018 zur Grenzsicherung an Kroatien gezahlten 6,8 Mio. Euro an EU-Geldern war (Europäische Kommission, 20.12.2018, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_18_6884; European Council on Refugees and Exiles (ECRE), Balkan Route: Years of Pushbacks Condemned, Ombudsman Slams Commission Failure on Croatian Funding, 11.03.2022). Der Mechanismus wird von der EU-Kommission im Rahmen der EMAS 2021-Finanzhilfe unterstützt.

Die Arbeitsversion des ersten Berichts des Grenzüberwachungsmechanismus bestätigte die Durchführung illegaler "Push-backs" durch Polizeibeamte und kritisierte sie als Verletzung des Rechts auf Asylantragstellung sowie des Non-Refoulement-Prinzips (1st half-year report of the independent mechanism for monitoring the conduct of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/763/Working_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 13-14). In der finalen Version des Berichts ist hingegen nur noch von unerlaubten Abschreckungsmaßnahmen "in minenverdächtigen Gebieten in Einzelfällen" die Rede, während alle übrigen Maßnahmen regelmäßig zulässig und insbesondere mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar seien. Der Mechanismus beschränkt sich sodann im Wesentlichen darauf, den zuständigen Behörden zu empfehlen, eine interne Anweisung an Polizeibeamte zu erlassen, künftig nur noch schriftlichen Weisungen Folge zu leisten, und eine Sammlung von "good practices" sowie ein Handbuchs zu erstellen (First semi-annual report of the independent oversight mechanism monitoring the actions of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/764/Final_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 15-16, 20-21).

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, u. a. Human Rights Watch und Amnesty International, zogen in einer gemeinsamen Erklärung in Zweifel, dass der Grenzüberwachungsmechanismus den Standards entspreche, die für seine Wirksamkeit und seinen Erfolg erforderlich seien (DRC, Human dignity lost at the EU's borders, Dezember 2021, S. 17; Croatia/EU: Strengthen Border Monitoring System, 02.08.2021, https://www.hrw.org/news/2021/08/02/croatia/eu-strengthen-border-monitoring-system). Eine aktuelle Untersuchung der Europäischen Bürgerbeauftragten deckte erhebliche Mängel auf in der Art und Weise, wie die Europäische Kommission die Einhaltung der Grundrechte durch die kroatischen Behörden bei mit EU-Geldern unterstützten Grenzschutzmaßnahmen überwacht (Delay in setting up monitoring mechanism for Croatian border management regrettable, says Ombudsman, 24.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/news-document/en/152823). Sie kritisierte, die Kommission müsse eine aktive Rolle im Zusammenhang mit dem Überwachungsmechanismus übernehmen und von den kroatischen Behörden konkrete und überprüfbare Informationen über Schritte zur Untersuchung von Berichten über kollektive Ausweisungen und Misshandlungen von Migranten und Asylbewerbern verlangen (How the European Commission ensures that the Croatian authorities respect fundamental rights in the context of border management operations financed by EU funds, 22.02.2022, https://www.ombudsman.europa.eu/en/case/en/57811)."

Europäische Gerichte dokumentierten und verhandelten auch bereits Todesfälle im Zusammenhang mit der Durchführung von "Push-backs" durch die kroatischen Behörden. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom 18.11.2021 (M. H. and others v. Croatia, Az. 15670/18 und 43115/18) über den Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny, die nahe der kroatisch-serbischen Grenze von einem Zug erfasst worden war, nach Angaben ihrer Familie im Anschluss an einen "Push-back" der kroatischen Polizei, verurteilte nunmehr auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) Kroatien nach dem Brand in einem Haftzentrum, welcher zum Tod von drei Asylsuchenden und schweren Verletzungen des dortigen Klägers führte. Das Gericht stellte fest, dass kroatische Beamte die vier Geflüchteten in einem Lkw mit kroatischen Kennzeichen aufgefunden, sie festgenommen und nach einer nächtlichen Befragung auf der Polizeistation Ausweisungsbeschlüsse für alle vier Personen erlassen hatten. Ihre Rückübernahme wurde der serbischen Polizei für 10 Uhr des folgenden Tages angekündigt, doch zuvor wurden die vier Asylsuchenden Opfer eines Feuers, welches sie selbst in ihrem Haftraum in der Polizeistation gelegt hatten. Der EuGH stellte fest, dass die kroatischen Behörden keine hinreichende institutionelle Untersuchung vorgenommen hätten, um die möglichen Unzulänglichkeiten, die zu dem Vorfall geführt hätten, festzustellen und zu beheben und ähnliche Fehler in Zukunft zu verhindern (Daraibou v. Croatia, 17.01.2023, Az. 84523/17).

In der zweiten Jahreshälfte 2022, als sich die EU in der Endphase der Prüfung des kroatischen Antrags auf Beitritt zum Schengen-Raum befand, griff die kroatische Polizei zunehmend auf eine alternative Taktik zurück, um Geflüchteten den Zugang zum Asylverfahren zu verwehren. Den Asylsuchenden wurden ohne Prüfung ihres Schutzbedarfs und außerhalb eines ordnungsgemäßen Verfahrens Ausweisungsbeschlüssen ("expulsion paper", "7 days paper") ausgehändigt, welche sie zum Verlassen des kroatischen Staatsgebiets innerhalb von sieben Tagen aufforderten (Human Rights Watch (HRW), "Like We Were Just Animals", Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegovina, 03.05.2023, S. 22; Border Violence Monitoring Network, Illegal Pushbacks and Border Violence Reports, October 2022, Balkan Region, S. 8). Nachdem Kroatien zum 02.01.2023 sodann in den Schengen-Raum aufgenommen wurde, scheint die kroatische Polizei diese Praxis wieder aufgegeben zu haben. Im Grenzgebiet zu Bosnien-Herzegowina tätige NGOs dokumentierten im Anschluss daran wieder einen deutlichen Anstieg gewaltsamer "Push-backs" (Nikolaj Nielsen, EU Observer, Croatia carrying out violent and illegal pushbacks, says NGO, 03.05.2023, https://euobserver.com/migration/156985; No Name Kitchen, 31.01.2023, https://www.facebook.com/NoNameKitchenBelgrade/posts/pfbid02gJTsKJrcA2r6S7nzE3s1UoCheC5jdd4wnp9fuoi4ErqUR3BCCRPqWWrMhvsiYdyql). Nach Angaben des UNHCR legt die kroatische Polizei Geflüchteten noch heute regelmäßig ein Papier vor, welches viele von ihnen unterschreiben, weil sie es für ein Asylgesuch halten. Tatsächlich handele es sich dabei um eine Einwilligungserklärung, Kroatien freiwillig zu verlassen und für einen Zeitraum von zwölf Monaten nicht mehr zu betreten (Gudrun Doringer, Salzburger Nachrichten, 22.04.2023, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/video-reportage-aus-dem-abschiebelager-lipa-in-bosnien-hart-an-der-grenze-137499763, im Volltext unter https://www.facebook.com/SOSBalkanroute/photos/a.123873765718872/960234422082798/).

Anfang April 2023 veröffentlichte die niederländische Journalistengruppe Lighthouse Reports Screenshots aus WhatsApp-Gruppen der kroatischen Polizei, in denen Grenzbeamte Fotos von zwischen August 2019 und Februar 2020 durchgeführten Festnahmen von mehr als 1.300 Migranten teilten. Die Personen auf den Bildern kauern oder liegen barfuß mit den Gesichtern nach unten auf dem Boden, während sie von Männern in Tarnkleidung und mit Maschinenpistolen bewacht werden. Befragte Polizeiquellen nahmen an, dass die Gruppe wahrscheinlich benutzt wurde, um inoffiziell die Festnahme von Migranten zu dokumentieren, die systematisch über die Grenze zurückgeschoben wurden. Mitglieder der WhatsApp-Gruppe "OA Korridor II West" waren unter anderem hohe Beamte wie der kroatische Grenzpolizeichef Zoran Niceno oder Jelena Bikic, die Pressesprecherin der kroatischen Polizei (Lighthouse Reports, 06.04.2023, https://www.lighthousereports.com/investigation/inside-croatias-secret-whatsapp-group/). Diese Recherchen lassen den Schluss zu, dass "Push-backs" von der kroatischen Regierung nicht nur geduldet, sondern gefördert werden.

Dennoch haben die Organe der Europäischen Union mit der Aufnahme Kroatiens in den Schengen-Raum - ungeachtet der Proteste zahlreicher Menschenrechtsorganisationen wie des Danish Refugee Council, Human Rights Watch und Amnesty International (EU admits Croatia to Schengen Without Regard to Abuses at the Border, 08.12.2022, https://pro.drc.ngo/resources/news/eu-admits-croatia-to-schengen-without-regard-to-abuses-at-the-border/) - zum Ausdruck gebracht, dass sie nicht die Absicht haben, gegen die menschenrechtswidrige "Push-back"-Praxis in Kroatien vorzugehen. Im Gegenteil erklärte der Berichterstatter des Europäischen Parlaments Paulo Rangel nach einem Besuch in Kroatien sowie in dessen Grenzgebieten in einer Sitzung des Parlamentsausschusses für Justiz und Inneres, er sei persönlich zu dem Schluss gekommen, dass die Sicherheit an den Grenzen und die Achtung der Grundrechte "sehr zufriedenstellend" seien. Behauptungen, dass Migranten vergewaltigt und gefoltert würden, seien "nicht korrekt" (Zoran Radosavljevic, EURACTIV, 11.10.2022, https://www.euractiv.com/section/all/short_news/croatia-meets-all-schengen-criteria-says-eu-parliament-rapporteur/).

In jüngster Zeit verstießen die kroatischen Behörden indes in ungewohnt offener und selbstbewusster Art und Weise gegen das Non-Refoulement-Gebot und begannen, auf dem gesamten Staatsgebiet Kroatiens Geflüchtete einzusammeln und in Kollektivausweisungen mittels Bussen in die Aufnahmezentren Lipa und Borici in Bosnien-Herzegowina zu transportieren. Nichtregierungsorganisationen dokumentierten Fälle der Massenabschiebung von mehr als 100 Migranten Ende März 2023 und von weiteren 37 Menschen Anfang April (European Council on Refugees and Exiles (ecre), 14.04.2023, https://ecre.org/croatia-top-officials-share-sensitive-information-on-eu-financed-border-operations-ongoing-mass-deportations-to-bosnia-and-herzegovina-italy-to-hold-meeting-with-croatia-and-slovenia-on-ba/; Border Violence Monitoring Network (BMVN), 31.03.2023, https://borderviolence.eu/app/uploads/BVMN-Press-release-Croatia-carries-out-mass-deportations-of-people-on-the-move-to-Bosnia.pdf). Human Rights Watch berichtete von der Abschiebung von 599 Personen zwischen Ende März und Anfang April 2023 im Rahmen des Rückübernahmeabkommens zwischen Kroatien und Bosnien-Herzegowina (Human Rights Watch (HRW), "Like We Were Just Animals", Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegovina, 03.05.2023, S. 24). Dabei verlangten die kroatischen Behörden von den ausgewiesenen Personen teilweise die Zahlung von bis zu 800 Euro als Ersatz der Aufwendungen für ihre wochenlange Inhaftierung im Vorfeld der Abschiebung (No Name Kitchen, 12.04.2023, https://www.nonamekitchen.org/people-on-the-move-are-detained-in-croatia-forced-to-pay-for-the-expenses-of-the-detention-and-taken-to-bosnia-in-buses/).

Die bosnischen Behörden im Kanton Una-Sana, in dem das Camp Lipa liegt, zeigten sich überrascht und verärgert, weil die Maßnahmen nicht mit ihnen abgestimmt worden waren, ebenso wenig wie die Errichtung von Haftzellen innerhalb des Camps (Are You Syrious? (AYS), 31.03.2023, https://medium.com/are-you-syrious/ays-news-digest-29-3-23-croatia-returning-people-to-bosnia-everyone-confused-dc012cdfc123). Der Internierungstrakt in Lipa wird derzeit ohne Baugenehmigung und rechtliche Grundlage und finanziert durch EU-Beitrittshilfen durch das von Michael Spindelegger, dem ehemaligen Vizekanzler Österreichs, geleitete International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit Sitz in Wien errichtet. NGOs nehmen an, dass in Bosnien-Herzegowina Abschiebegefängnisse entstehen sollen, um Geflüchtete, die zuvor mittels "Push-backs" aus Kroatien abtransportiert wurden, aufzunehmen und bis zu ihrer Abschiebung in die Herkunftsländer festzuhalten (Silke Hahne/Srdjan Govedarica, Tagesschau, 25.04.2023, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/migration-internierung-bosnien-101.html; Lea Kulas, Der Standard, 12.04.2023, https://www.derstandard.de/story/2000145405184/mit-geld-aus-oesterreich-wird-in-bosnien-abschiebelager-mit-gefaengnis). Der Premierminister des bosnischen Kantons Una-Sana, Ruznic, berichtete, die kantonale Polizei habe die nach Lipa verbrachten Menschen interviewt und dabei festgestellt, dass ein großer Teil von ihnen vorher nie zuvor in Bosnien-Herzegowina gewesen war, sondern über Serbien nach Kroatien kam und von dort illegal nach Bosnien abgeschoben wurde (SOS Balkanroute, 21.04.2023, https://www.facebook.com/SOSBalkanroute/posts/pfbid0dnEXWs5r26vGyvL7huKSunyjimp4oM7u9CbP8sStj82zMLhpzCxaLEtG3q4mLXaEl). Er warf der Europäischen Union vor, "Push-backs" nicht nur zu tolerieren, sondern zu fördern (Gudrun Doringer, Salzburger Nachrichten, 22.04.2023, https://www.sn.at/politik/weltpolitik/video-reportage-aus-dem-abschiebelager-lipa-in-bosnien-hart-an-der-grenze-137499763, im Volltext unter https://www.facebook.com/SOSBalkanroute/photos/a.123873765718872/960234422082798/).

Die in Kroatien praktizierten "Push-backs", Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Nach Rechtsprechung des EGMR liegt in der Zurückweisung eines Asylantrags zudem ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, wenn der ausweisende Staat zuvor nicht prüft und bewertet, ob es infolge der Ausweisung zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Klägers kommen kann (EGMR, Urteil vom 14.03.2017 - 47287/15 -, beck-online Rn. 112 ff.). Ferner ist das Non-Refoulement-Gebot verankert in Art. 21 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (Qualifikationsrichtlinie), der besagt, dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen achten. Hinzu kommen die regelmäßig mit den erzwungenen Rückführungen einhergehenden Gewaltakte, von Freiheitsentziehung über Körperverletzungen und herabwürdigende Behandlung von Migranten, die offenbar der Abschreckung dienen sollen. Darin liegt ein Verstoß gegen das in Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung. Schließlich qualifizierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) "Push-backs" in mehreren Urteilen als Kollektivausweisungen ("collective expulsions"), welche Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK verbietet (EGMR, Urteil vom 23.07.2020, M.K. u. a. v. Polen, Az. 40503/17, 42902/17 und 43643/17).

Ob die Verstöße Kroatiens gegen das Non-Refoulement-Prinzip auch der Rückführung von Dublin-Antragstellern nach Kroatien entgegenstehen, ist in der europäischen Rechtsprechung umstritten.

Dabei ist zunächst zu beachten, dass nicht nur die "klassischen Push-backs", bei denen die Grenzpolizei bei "Nacht und Nebel" Geflüchtete unmittelbar nach Überquerung der Grenze zurückschiebt, in Kroatien systemisch sind, sondern dies auch auf Kettenabschiebungen zutreffen dürfte, bei denen die Asylsuchenden von den Behörden anderer EU-Mitgliedsstaaten nach Kroatien zurückgeführt werden und sodann ohne Prüfung ihres Asylgesuchs nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien abgeschoben werden. Der österreichische Verwaltungsgerichtshof bestätigte mit Beschluss vom 05.05.2022 (Az. Ra 2021/21/0274, abrufbar auf https://www.ris.bka.gv.at/) ein Urteil des Landesverwaltungsgericht Steiermark, welches am 01.07.2021 feststellte, dass "Push-Backs" in Österreich teilweise methodisch Anwendung finden und in Kettenabschiebungen nach Kroatien und letztendlich nach Bosnien und Herzegowina enden (Az. LVwG 20.3-2725/2020, abrufbar auf https://www.ris.bka.gv.at/).

Ein slowenisches Verwaltungsgericht erklärte bereits mit Urteil vom 20.07.2020 die Abschiebung eines kamerunischen Asylbewerbers nach Kroatien im Jahr 2019 nachträglich für rechtswidrig (Kristina Bozic, Balkan Insight, 28.07.2020, https://balkaninsight.com/2020/07/28/slovenian-court-ruling-a-boost-in-battle-against-refugee-pushbacks/). Zwar handelte es sich dabei nicht um eine Rückführung nach der Dublin III-Verordnung, sondern um eine Überstellung im Rahmen des bilateralen Abkommens zwischen Slowenien und Kroatien, doch das Gericht begründete seine Entscheidung mit dem allgemeingültigen Argument, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den EU-Mitgliedstaaten nicht absolut sei und ein Mitgliedstaat verlässliche und ausreichende Berichte berücksichtigen müsse, die ernsthafte und begründete Zweifel daran aufkommen ließen, dass die grundlegenden Menschenrechte in einem anderen Mitgliedstaat eingehalten würden. Solche Zweifel ergäben sich hier aus den Berichten über gewaltsame Rückschiebungen von Asylbewerbern nach Bosnien-Herzegowina durch die kroatische Polizei.

Der Raad von State, das höchste Verwaltungsgericht der Niederlande, entschied am 13.04.2022 (Az. 202104072/1/V3, https://uitspraken.rechtspraak.nl/inziendocument?id=ECLI:NL:RVS:2022:1042), dass "Push-Backs" einen grundlegenden Systemfehler des Asylverfahren Kroatiens darstellten, der die besonders hohe Schwelle der Schwere erreiche. Dieser Systemfehler sei auch für Dublin-Antragsteller relevant, weil "Push-Backs" auch bei Geflüchteten stattfänden, die von anderen EU-Mitgliedstaaten rückübernommen würden, sowie bei Geflüchteten, die sich fern der Grenze im kroatischen Hoheitsgebiet aufhielten. Die niederländischen Behörden seien damit berufen, das Risiko für überstellte Dublin-Antragsteller, von Kroatien ohne Bearbeitung oder während der Bearbeitung ihres Asylantrags abgeschoben zu werden, näher zu untersuchen. Das Fehlen von Informationen über die Situation von Dublin-Antragsteller nach der Überstellung nach Kroatien könne nicht zu Lasten der Geflüchteten gehen. Die Zivilgerichte von Genua (19.03.2019, Az. 13280/2018 R.G., https://www.meltingpot.org/app/uploads/2019/05/annullamento_decreto_dublino.pdf) und Rom (12.02.2020, Az. 38800/2018 R. G., https://www.avvocatodistrada.it/wp-content/uploads/2020/05/Decreto-Tribunale-di-Roma.pdf) gingen noch darüber hinaus und entschieden, dass die bekannten Informationen über "Push-Backs" in Kroatien in Ermangelung gegenteiliger Informationen der italienischen Behörden ausreichten, um davon auszugehen, dass die begründete Gefahr bestehe, dass Dublin-Rückkehrern im Falle der Rückführung nach Kroatien erneut der Zugang zum Asylverfahren verweigert zu werden drohe. Die Achtung der Grundrechte der jeweiligen Kläger sei in Kroatien nicht gewährleistet.

Hingegen billigt das Bundesverwaltungsgericht der Schweiz, welches bis ins Jahr 2022 noch Dublin-Überstellungen nach Kroatien aussetzte mit der Begründung, dass die schweizerischen Behörden zunächst umfassend zu prüfen hätten, ob die Überstellung nach Kroatien in einer Kettenabschiebung resultieren könnte (so Urteil vom 12.07.2019, Az. E-3078/2019, bestätigt in Urteilen vom 12.02.2021, Az. D-43/2021, vom 08.01.2021, Az. F-48/2021, und vom 06.01.2022, Az. F-5675/2021, abrufbar jeweils auf https://jurispub.admin.ch/publiws/), diese Rückführungen mittlerweile. In einem Urteil vom 28.02.2022 (Az. D-735/2022) sah das Gericht es als ausreichend aus, dass sich das Staatssekretariat für Migration auf Untersuchungen der schweizerischen Botschaft in Kroatien berief, welche ergeben hätten, dass Dublin-Rückkehrer von "Push-backs" nicht betroffen seien. Den Bericht der Schweizer Botschaft legte die Behörde dabei mit Zustimmung des Gerichts nicht offen, gab aber an, die Botschaft habe u. a. mit dem kroatischen Innenministerium und lokalen Nichtregierungsorganisationen, dem Centre for Peace Studies und Are You Syrious?, gesprochen. Das Centre for Peace Studies bestritt auf Nachfrage allerdings nachdrücklich, gegenüber der Botschaft derartige Aussagen getätigt zu haben, und gab an, die NGO "widerspreche der Einschätzung der Schweizer Behörden fundamental". Auch in Zagreb komme es vor, dass Personen willkürlich von der Polizei aufgegriffen und dann nach Bosnien und Herzegowina verschleppt würden, auch solche, die sich bereits in einem Asylverfahren befänden (Lukas Tobler, WOZ (Die Wochenzeitung), Eine Kette der Verachtung, 22.12.2022, https://www.woz.ch/2251/asylpolitik/eine-kette-der-verachtung/!4E9GPF4B59WJ). Weitere Nichtregierungsorganisationen wie Human Rights Watch, die Schweizerische Flüchtlingshilfe und SOS Balkanroute fordern ebenfalls ausdrücklich, Dublin-Überstellungen nach Kroatien auszusetzen (Human Rights Watch (HRW), "Like We Were Just Animals", Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegovina, 03.05.2023, S. 9; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Polizeigewalt in Bulgarien und Kroatien: Konsequenzen für Dublin-Überstellungen, 13.09.2022, S. 19; SOS Balkanroute, 11.04.2023, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20230411_OTS0037/so-sieht-das-oesterreichische-guantanamo-in-bosnien-aus-fotos-videos-sie-sperrten-uns-4-tage-in-der-kaelte-ein-bild).

Die Verwaltungsgerichte von Luxemburg (04.01.2023, Az. 48269, abrufbar auf https://www.stradalex.lu/fr) und Versailles in Frankreich (16.12.2022, Az. 22VE01959, https://www.legifrance.gouv.fr/juri/id/CETATEXT000046752015) halten am Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens fest. Während die französische Entscheidung die Praxis der "Push-backs" nicht erwähnt, begründete das Verwaltungsgericht Luxemburg seine Entscheidung damit, dass der dortige Kläger "kein Neuzuwanderter ist, der an der Grenze aufgegriffen wird". Der österreichische Verwaltungsgerichtshof verwies den Kläger in seiner Entscheidung vom 23.09.2022 (Az. W 232 2258012-1/5E, abrufbar auf https://www.ris.bka.gv.at/) darauf, dass "im Falle eines Übergriffs der Rechtsweg in Kroatien zu beschreiten wäre". Das Beschwerdevorbringen in Bezug auf illegale "Push-Backs" sei nicht von Relevanz, da "der Beschwerdeführer im Falle seiner geordneten Rücküberstellung von Österreich nach Kroatien dort an die kroatischen Behörden übergeben wird."

Die Gerichte vermitteln damit den Eindruck, dass die kroatische Grenzpolizei, indem sie Migranten hinter die EU-Grenze zurückdrängt, der kroatischen Dublin-Behörde die Asylbewerber eigenmächtig vorenthält. Sie ignorieren dabei, dass "Push-Backs" seit Jahren ein wesentlicher Bestandteil der Migrationssteuerung durch das kroatische Innenministerium sind. Außerdem können Asylsuchende bei einer unangekündigten Ausweisung keinen effektiven Rechtsschutz erlangen, insbesondere nicht, indem sie nach erfolgter Rückschiebung ein Strafverfahren einleiten. Zum einen kann ein Rechtsbehelf kann in der Situation eines "Push-backs" nur wirksam sein, wenn er einen Suspensiveffekt hat, den Betroffenen also ermöglicht, die Abschiebung zumindest zeitweilig zu verhindern. Zum anderen gehen die kroatischen Behörden auch Vorwürfen strafbaren Verhaltens von Seiten Geflüchteter häufig nicht nach. So reichten etwa im Dezember 2020 fünf mittlerweile in Deutschland wohnhafte Afghanen, darunter zwei Minderjährige, eine Strafanzeige gegen die kroatischen Behörden ein und berichteten, sie seien Opfer eines brutalen "Push-Backs" von Kroatien nach Bosnien geworden, bei dem es zu schwerer Gewalt und sexuellen Übergriffen gekommen sei. Obwohl das kroatische Gesetz eine Frist von sechs Monaten für die Entscheidung über den Strafantrag vorschreibt, hatte die Staatsanwaltschaft bis Mitte April 2023 noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Geflüchteten erhoben daraufhin wegen unzureichender Ermittlungen mit Unterstützung der NGO Centre for Peace Studies Klage zum kroatischen Verfassungsgericht (Centar za mirovne studije/Centre for Peace Studies, Refugees file a lawsuit to the Constitutional Court of Croatia: more than two years without effective investigation into a brutal pushback case which included sexual assault, 18.04.2023, https://t.co/pkengDaRO8).

Angesichts der Masse der vorliegenden Erkenntnismittel, die Kroatiens mangelnde Bereitschaft zur Aufnahme oder auch nur zu einer menschenwürdigen Behandlung Geflüchteter belegen, ist nicht nachvollziehbar, wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht zu der Einschätzung kommt, es lägen "unzureichende tatsächliche Erkenntnisse" dafür vor, dass Dublin-Rückkehrer in Kroatien der Gefahr von Ketten-Abschiebungen ausgesetzt sind und das Asylsystem in Kroatien aus diesem Grund unter systemischen Mängeln leidet (Nds. OVG, Beschluss vom 22.02.2023 - 10 LA 12/23 -, juris Rn. 5). Aus den aufgeführten Erkenntnismitteln ergibt sich, dass Kroatien ohne individuelle Prüfung sowohl solche Geflüchtete, die aus anderen EU-Ländern rücküberstellt werden, hinter die EU-Außengrenzen abschiebt als auch solche, die sich am helllichten Tag im Landesinneren wie etwa in der Hauptstadt Zagreb aufhalten. Die Eigenschaft als Dublin-Rückkehrer räumt den Geflüchteten keinen rechtlichen Sonderstatus ein, sondern Dublin-Rückkehrer sind nach Art. 18 Abs. 2 Dublin III-VO zu behandeln wie Erstantragsteller. Wenn sie Kroatien vor Abschluss des Asylverfahrens verlassen, wird ihr Verfahren ausgesetzt, und sie müssen nach ihrer Rückkehr erneut einen Antrag stellen, um das Asylverfahren fortzusetzen oder neu einzuleiten (Croatian Law Centre/Hrvatski pravni centar (HPC), Country Report: Dublin, 22.04.2022). Eine Differenzierung, wie etwa zwischen anerkannten international Schutzberechtigten und Asylbewerbern, ist damit nicht angezeigt.

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht lässt dementsprechend auch offen, inwiefern "die Situation von aus Deutschland rücküberstellten Dublin-Rückkehrern, zu deren Wiederaufnahme sich Kroatien [...] ausdrücklich bereit erklärt hat, sich deutlich von der Situation von Asylbewerbern unterscheidet, die beispielsweise bei dem Versuch die Grenze zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien zu überschreiten, zurückgedrängt worden sind" (Nds. OVG, a. a. O., Rn. 8). Die Abdrängung unmittelbar an der Grenze ist nur ein, wenn auch ein häufiges und das am besten dokumentierte Beispiel der von den kroatischen Behörden praktizierten Abschiebemaßnahmen. Gemessen an den jüngsten Entwicklungen geht Kroatien nunmehr offenbar zunehmend zu Kollektivausweisungen von seit Längerem im Landesinneren aufhältigen Migranten über. Die kroatischen Behörden dürften bereits festgestellt haben, dass die Organe der Europäischen Union ihre systematischen Menschenrechtsverletzungen ignorieren, wenn nicht gar billigen. Nach vollzogenem Schengen-Beitritt und jahrelangem Ausbleiben eines Vertragsverletzungsverfahrens ist nicht ersichtlich, warum die kroatischen Behörden vor Verstößen gegen die Dublin III-Verordnung zurückschrecken sollten, während sie zugleich die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Qualifikationsrichtlinie regelmäßig verletzen.

Das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedsstaaten ist durch die erwiesenen systemischen Mängel des Asylsystems und der Aufnahmebedingungen in Kroatien nachhaltig erschüttert. Die Gruppe der Dublin-Rückkehrer künstlich von den sonstigen Asylsuchenden in Kroatien abzuspalten und als eigenständige Kategorie zu betrachten, ist damit nur dann gerechtfertigt, wenn es dem Bundesamt oder dem entscheidenden Gericht im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht gelingt, zu belegen, dass Dublin-Rückkehrern die Gefahren, denen sämtliche andere Asylbewerber in Kroatien ausgesetzt sind, nicht drohen. Dieser Nachweis kann indes nicht erbracht werden durch den Verweis auf gesetzliche oder behördliche Garantien, weil das Vertrauen in die Auskünfte kroatischer Behörden nicht mehr gerechtfertigt ist. Ein Nachweis ergibt sich ebenfalls nicht aus einem Mangel an unabhängigen Erkenntnismitteln speziell zum Schicksal von Dublin-Rückkehrern. Gerade bei Menschen, die innerhalb eines geordneten Systems durch die überführenden Mitgliedsstaaten an Kroatien übergeben werden, liegt es in der Verantwortung der EU-Mitgliedsstaaten, bei einem Beweisnotstand eigene Untersuchungen anzustellen. Es kann nicht überlasteten NGOs überlassen werden, aus den Tausenden von Asylsuchenden, die jedes Jahr von der kroatischen Polizei nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien abgeschoben werden, Dublin-Rückkehrer (davon nach Auskunft des kroatischen Innenministeriums nur 54 im gesamten Jahr 2021) herauszufiltern und zu befragen, zumal diese Organisationen von den nationalen Behörden häufig eingeschüchtert und unter Druck gesetzt werden (Asylum Information Database (aida), Country Report: Croatia. Update 2021, 22.04.2022, S. 33, 47).

Dementsprechend besteht die beachtliche Gefahr, dass den Klägern im Falle einer Rückführung nach Kroatien der Zugang zum Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert werden wird. Dem steht nicht entgegen, dass die Kläger während ihres vorherigen Aufenthalts in Kroatien Aufnahme in einem Flüchtlingslager gefunden haben. Es kann nicht mit der notwendigen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die weitgehend willkürlich agierenden kroatischen Behörden sich bei einer Rückschiebung der Kläger erneut aufnahmebereit zeigen werden. Angesichts zahlreicher Berichte über "Push-backs" von Minderjährigen bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Kläger zu 3) bis 7) und die Klägerin zu 8) als Kinder und Jugendliche mehr Rücksichtnahme erwarten können.

Dementsprechend sind die Feststellung, dass Abschiebungsverbote in Bezug auf Kroatien nicht vorliegen, die Abschiebungsanordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ebenso rechtwidrig und waren aufzuheben.