Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 09.05.2023, Az.: 2 A 277/22

Non-Refoulement; Obdachlosigkeit; Push-backs; Verelendung; Systemische Mängel im Asylsystem Italiens wegen drohender Obdachlosigkeit und fehlender Aufnahmebereitschaft

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
09.05.2023
Aktenzeichen
2 A 277/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 17637
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0509.2A277.22.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Geflüchteten droht bei Rückführung nach Italien eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit.

  2. 2.

    Aus der Weigerung der italienischen Behörden, Asylsuchende im Dublin-Verfahren rückzuübernehmen, ergeben sich erhebliche Zweifel nicht nur an der Verfügbarkeit ausreichender Aufnahmekapazitäten, sondern bereits an der Bereitschaft Italiens, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren.

  3. 3.

    Der im Dezember 2022 verkündete Aufnahmestopp für Dublin-Rückkehrer ist eine weitere Ausprägung des Abschottungskurses der italienischen Regierung, welcher bereits in den regelmäßigen Verstößen der italienischen Grenzschutzbehörden gegen das Non-Refoulement-Gebot zum Ausdruck kommt.

Tatbestand

Die Kläger sind iranische Staatsangehörige, persischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens aus H.. Der neunjährige Kläger zu 2) und der sechsjährige Kläger zu 3) sind die Söhne der Klägerin zu 1).

Im Iran schloss die Klägerin zu 1) die Schule mit dem Abitur ab und studierte dann zwei Jahre an der Universität, ehe sie das Studium abbrach und stattdessen eine Ausbildung zur Krankenschwester anfing. Schon während ihrer Ausbildung und auch nach deren Abschluss arbeitete sie als Krankenschwesterhelferin in einem halbstaatlichen Krankenhaus, das zur Universität von H. gehört. Ihr Ehemann arbeitete als Elektroingenieur. Ihre wirtschaftliche Situation war durchschnittlich. Die Kläger verließen den Iran am 13.08.2022 mit einem Visum der italienischen Botschaft und reisten zunächst nach Italien ein. Am 21.08.2022 reisten sie sodann nach Deutschland ein. Im Iran leben noch der Ehemann der Klägerin zu 1) sowie ihre Mutter in I. und ihre erwachsene Tochter aus erster Ehe, zudem drei Schwestern und mehrere Tanten. Der geschiedene Ehemann der Klägerin zu 1) lebt ebenfalls in Deutschland.

Die Kläger stellten am 02.09.2022 förmliche Asylanträge bei der Beklagte.

In ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 06.09.2022 führte die Klägerin zu 1) aus, in Deutschland um Asyl zu bitten sei von Anfang an ihr Ziel gewesen. Der Schleuser habe ihr aber nur ein Visum für Italien besorgt und touristische Gründe als Zweck der Reise angegeben. Nach der Ankunft in Mailand hätten sie den Flughafen sofort verlassen und seien von dem Schleuser zu einem Haus auf dem Land transportiert worden, von wo aus sie nach einigen Tagen weiter nach Deutschland gereist seien. Sie nehme nachts Tabletten, um besser schlafen zu können, weil sie psychisch belastet sei. Zudem habe sie eine Entzündung an der Wade, wo man ihr im Iran Stromschläge zugefügt habe, welche mit Antibiotika behandelt werde. Schließlich leide sie unter Kopfschmerzen und einer Schilddrüsenunterfunktion.

In ihrer persönlichen Anhörung am selben Tag berichtete die Klägerin zu 1), dass sie mit ihrem Ehemann und ihren Söhnen in einer Eigentumswohnung in I. gelebt habe. Bei ihrer Arbeit im Krankenhaus habe sie sich schon lange daran gestört, dass ihre Kolleginnen zwar viel darüber sprachen, was nach dem Islam richtig und gerecht sei, sich aber nicht dementsprechend verhielten. Das habe aus ihrer Sicht nicht zusammengepasst. Am 21.02.2020 sei eine ältere Dame in sehr schlechtem Zustand in die Notaufnahme eingeliefert worden. Obwohl sie nach ihrer Einschätzung in Lebensgefahr schwebte, hätten ihre Kolleginnen ihr eine Behandlung verweigert, weil sie diese nicht habe bezahlen können. Sie sei dazu gekommen, hätte ihre Kolleginnen beschimpft und mit der Behandlung begonnen.

Deshalb sei sie von der Finanzabteilung des Krankenhauses gerügt worden. Sie habe dagegengehalten, dass sie den Islam ausnutzen würden, um Geld zu verdienen. Daraufhin sei sie zur Sicherheitsabteilung der Universität, an die das Krankenhaus angegliedert war, gebracht worden. Mehrere Menschen hätten sie erwartet und eine Frau habe ihr ohne Vorwarnung ins Gesicht geschlagen. Als sie darauf beharrt hätte, dass es im Islam um Menschlichkeit gehe, habe sie einer der anwesenden Männer mit einer wassergefüllten Flasche beworfen; ihre Lippe sei aufgeplatzt und habe geblutet. Sie habe sie beschimpft und ein weiteres Gespräch verweigert. Dann sei sie zunächst weiterhin normal zur Arbeit gegangen, auch wenn sie gemerkt habe, dass die Kollegen über sie redeten und sich anders verhielten als zuvor.

Sie habe dann bemerkt, dass ihr Arbeitsvertrag nicht verlängert worden war und sie quasi als Tagelöhnerin weiterarbeiten musste. Darüber habe sie sich beschwert, zunächst bei der Finanz- und dann bei der Sicherheitsabteilung, und ihnen Korruption vorgeworfen. Sodann hätten sie einen Wagen mit zwei kräftigen Männern bestellt, die sie mitgenommen und zur Polizei gebracht hätten. Männer einer Spezialeinheit hätten sie befragt und bei der Befragung mehrfach geschlagen. Sie sei über Nacht festgehalten worden und habe ihrer Familie nicht mitteilen können, wo sie sich befand. Am nächsten Tag sei ein Mullah in ihre Zelle gebracht worden und habe auf sie eingeredet, doch sie habe ihn abgewiesen. Danach sei ein anderer Mann gekommen und habe sie brutal verprügelt. Nach zwei weiteren Tagen sei sie freigelassen worden und nach Hause gegangen. Dort habe sich die strenggläubige Familie ihres Mannes, die im selben Haus wohnte, gegen sie gewendet. Ihr Schwiegervater und ihr Schwager hätten sie geschlagen und ihr Schwiegervater habe sie mit einem Messer angegriffen. Sie habe dann aus dem Haus wegziehen wollen, doch ihr Ehemann sei dagegen gewesen.

Am 23.11.2021 habe sie ihre Arbeit im Krankenhaus aufgegeben und ihr Ehemann habe die Familie fortan alleine finanziert. Am 31.12.2021 sei sie erneut an ihrer Haustür verhaftet worden. Man habe sie in ein anderes Gefängnis gebracht und dort in einen Kellerraum gesperrt. Als sie in dem kalten Keller einen der Wärter um eine Decke gebeten habe, habe dieser sie vergewaltigt. Sie sei noch weitere acht Nächte dort gewesen und in dieser Zeit noch dreimal vergewaltigt worden. Dann habe man sie auf der Autobahn zwischen H. und I. ausgesetzt. Zu Hause angekommen habe sie mit niemandem sprechen können und versucht, sich mit Tabletten umzubringen. Bald darauf seien wieder Sicherheitskräfte zu ihr nach Hause gekommen und hätten ihr untersagt, die Stadt zu verlassen, weil man sie vor Gericht stellen werde.

Am 12.05.2022 sei sie erneut auf offener Straße von einem Wagen mitgenommen und in ein weiteres Gefängnis gebracht worden. Sie sei mit einem elektrischen Schlagstock geschlagen und in eine Zelle geschubst worden, wobei sie sich den Hinterkopf an der Bettkante aufgeschlagen habe. Als sie nach vier Tagen freigelassen worden sei, habe sie zu Hause sofort ihre Koffer gepackt und sei zu ihrer Mutter gezogen. Dort sei sie drei Monate geblieben, bis sie schließlich mithilfe eines Schleusers das Land verlassen habe. Weil sie Probleme mit der Regierung habe, sei auch ihr Ehemann degradiert worden. Er sei im Iran zurückgeblieben und lebe nach wie vor in ihrer Eigentumswohnung. Seit einem Monat habe sie keinen Kontakt zu ihren Verwandten, weil sie noch kein Handy habe besorgen können.

Am 14.09.2022 stellte die Beklagte wegen des italienischen Visums und auf Grundlage von Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden. Diese erklärten sich mit Schreiben vom 11.10.2022 zur Wiederaufnahme der Kläger bereit.

Mit Bescheid vom 14.10.2022, zugestellt am 22.10.2022, lehnte die Beklagte sodann die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab (Ziffer 1), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 2), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung u. a. damit, dass in Italien keine einer Überstellung entgegenstehenden systemischen Mängel beständen, auch nicht aufgrund des sog. "Salvini-Dekrets". Die Aufnahmeeinrichtungen der zweiten Ebene (früher SIPROIMI, jetzt SAI) stünden abweichend von der Regelung des "Salvini-Dekrets" seit Erlass des Gesetzesdekrets 130/2020 von nun an wieder neben anerkannten Schutzberechtigen auch Asylsuchenden, insbesondere Vulnerablen sowie Familien mit Kindern und unbegleiteten Minderjährigen, zur Unterbringung zur Verfügung. Zudem sei die Zahl der in Italien gestellten Asylanträge stark gesunken und deswegen keine Überlastung des Systems mehr anzunehmen. Medizinische Behandlung könne die Klägerin zu 1) auch in Italien erhalten.

Die Kläger haben am 28.10.2022 Klage gegen den Bescheid erhoben und einen Eilantrag (2 B 278/22) beim Verwaltungsgericht gestellt.

Sie halten den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentieren, es fehle an einer individuellen Zusicherung seitens der italienischen Behörden, mittels derer sichergestellt werde, dass die minderjährigen Kläger zu 2) und 3) bei einer Rücküberstellung ohne Zeitverzug kind- und familiengerecht untergebracht werden könnten und dass möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen werde. Als Alleinerziehende wäre die Klägerin zu 1) bei einer unterstellten Schutzanerkennung in Italien nach Wegfall der staatlichen Leistungen zudem nicht in der Lage, den Lebensunterhalt der Familie mit eigener legaler Erwerbstätigkeit zu gewährleisten.

Ferner lehnten die italienischen Behörden seit dem 05.12.2022 eine (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden nach Maßgabe der Dublin III-VO unter Berufung auf "technische Gründe" und "fehlende Aufnahmekapazitäten" - "zeitlich befristet" -, aber ohne Nennung eines konkreten Enddatums ab. Dabei handele es sich bei realitätsnaher Bewertung um eine diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern auf unbestimmte Zeit. Zudem existierten bereits nach eigener Aussage der italienischen Behörden keine freien Aufnahmekapazitäten. Eine zwangsweise Überstellung der Kläger nach Italien hätte daher ihre Obdachlosigkeit zur Folge.

Die Einzelrichterin hat mit Beschluss vom 01.12.2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid vom 14.10.2022 aufzugeben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin entscheidet ohne mündliche Verhandlung über die Klage, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 19.12.2022 und vom 21.12.2022 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 - 1 C 32.14 -, juris Rn. 14 f.). Die Kläger haben auch innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der am 22.10.2022 erfolgten Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides Klage erhoben.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14.10.2022 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Ihre Asylanträge wurden zu Unrecht als unzulässig abgelehnt.

Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 31) (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Besitzt der Antragsteller demnach ein gültiges Visum, so ist der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, es sei denn, dass das Visum im Auftrag eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen einer Vertretungsvereinbarung gemäß Artikel 8 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft erteilt wurde. In diesem Fall ist der vertretene Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. In diesem Fall besitzen die Antragsteller jeweils ein gültiges Visum für Italien, ausgestellt am 19.07.2022, gültig vom 06.08.2022 bis zum 28.08.2022. Sie haben Italien nach der Einreise nach eigenen Angaben wieder verlassen, ohne einen Asylantrag gestellt zu haben. Italien hat dem am 14.09.2022 gestellten Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes am 11.10.2022 zugestimmt.

Die Zuständigkeit Italiens ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen.

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).

Bei Familien mit Kindern kann sich eine Gefährdung der durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geschützten Rechte auch daraus ergeben, dass der Betroffene nicht zugleich die eigene Existenz und die seiner Familie sichern können würde (BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45/18 -, juris Rn. 25 ff.). Sind die Antragsteller Kinder, ist zu berücksichtigen, dass sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Das gilt auch, wenn die Kinder als Asylbewerber von ihren Eltern begleitet werden. Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Asylbewerber müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht (EGMR, Urteil vom 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel /Schweiz) -, beck-online Rn. 119; VG Bremen, Urteil vom 19.07.2022 - 6 K 1629/20 -, juris Rn. 28). Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind bereits eine ungebührende Härte darstellen (Nds. OVG, Beschluss vom 19.12.2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 25). Der durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz vor erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung kann bei Kindern aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse und Verletzlichkeit daher bereits in Situationen greifen, die bei Erwachsenen noch keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung darstellen muss (vgl. VG Bremen, Urteil vom 19.07.2022 - 6 K 1629/20 -, juris Rn. 28). Die Annahme einer Vulnerabilität setzt dabei nicht voraus, dass eine Familie mit Kleinstkindern (bis zu drei Jahren) betroffen ist (VG Hannover, Urteil vom 26.07.2022 - 2 A 1677/20 -, n. v.), sodass auch der neun Jahre alte Kläger zu 2) und der sechs Jahre alte Kläger zu 3) besonderen Schutz benötigen und beanspruchen können. Zudem ist auch die Klägerin zu 1), die im Iran nach ihren, ausweislich des Anhörungsprotokolls, glaubhaften Angaben Opfer mehrfacher gewalttätiger Übergriffe und Vergewaltigungen geworden ist, als besonders gefährdet anzusehen.

Den Kläger droht in Italien sowohl in dem Zeitraum zwischen ihrer Rückführung und der förmlichen Asylantragstellung wie auch nach dem Abschluss ihres Asylverfahrens eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit (ebenso VG Bremen, Gerichtsbescheid vom 04.07.2022 - 6 K 2242/21, 8484185 -, juris; VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 -, n. v.; VG Arnsberg, Urteil vom 24.01.2023 - 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 55 ff.; VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2022 - 33 L 376/22 A -, juris Rn. 16; anders VG Bremen, Beschluss vom 16.03.2023 - 3 B 127/23 -, n. v.; VG Potsdam, Beschluss vom 11.04.2023 - VG 2 L 179/23.A -, juris).

Für die Anwendung von Art. 4 GRC ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO sich zwar unmittelbar nicht auf die Phase nach erfolgter Anerkennung als international Schutzberechtigter bezieht, dass aber das Verbot des Art. 4 GRC absoluten Charakter genießt und daher die Anwendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRC führen darf. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 88 f.; VG Berlin, Urteil vom 26.06.2020 - 31 K 921.18 A - Rn. 20 ff., juris Rn. 20 ff.; VG Hannover, Urteil vom 12.02.2021 - 4 A 2210/18 -, juris Rn. 25).

Die Einzelrichterin bezieht sich auf ihre Ausführungen im Beschluss vom 01.12.2022 (2 B 278/22):

"Eine Gefahr von Obdachlosigkeit besteht zum einen im Vorfeld der förmlichen Registrierung als Asylsuchender, weil Geflüchtete in dieser Phase kein Recht auf Unterkunft haben.

Die Registrierung als Asylsuchender erfolgt in Italien in einem mehrstufigen Verfahren. Der erste Schritt ist das Identifizierungs- und Registrierungsverfahren, bei dem entweder bei der Grenzpolizei oder bei der bei der Einwanderungsbehörde der Polizei ("Questura") die Fingerabdrücke abgenommen werden und ein Foto gemacht wird ("Fotosegnalamento"). Auf das Fotosegnalamento folgt ein zweiter Schritt, der in der förmlichen Registrierung des Asylantrags besteht, die ausschließlich bei der Questura im nationalen Hoheitsgebiet durchgeführt wird. Die formale Registrierung des Antrags ("Verbalizzazione" oder "Formalizzazione") erfolgt mittels eines Formulars, das mit den grundlegenden Informationen zur persönlichen Geschichte des Antragstellers, der Reise nach Italien und den Gründen für die Flucht aus dem Herkunftsland ausgefüllt wird. Das Formular wird vom Asylbewerber unterschrieben und vor der Anhörung an die Territorialkommission gesandt. Erst mit dem Ausfüllen des Formulars ist die formale Phase des Antrags auf internationalen Schutz abgeschlossen (Associazione per Gli Studi Giuridici sull'Immigrazione (ASGI), Country Report: Registration of the asylum application, 20.05.2022).

Die italienische Gesetzgebung legt fest, dass ein Antragsteller das Recht hat, eine Unterkunft zu erhalten, sobald er den Willen bekundet hat, internationalen Schutz zu suchen. Die Aufnahme in das Asylsystem erfolgt dabei jedoch erst nach der Formalisierung des Antrags, dem Ausfüllen des entsprechenden Formulars. Diese Praxis hat zur Folge, dass Asylbewerber, einschließlich Dublin-Rückkehrer, bis zur Registrierung ihres Asylantrags ohne Unterkunft - und damit auch ohne angemessene medizinische Behandlung - bleiben (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Italy, Februar 2022, S. 12). Vor der förmlichen Registrierung ihres Asylantrags haben Geflüchtete lediglich Anspruch auf medizinische Notversorgung. Zudem sind sie in diesem Stadium dem Risiko einer willkürlichen Verhaftung und Abschiebung ausgesetzt (ASGI, a. a. O.; SFH, Reception conditions in Italy Updated: report on the situation of asylum seekers and beneficiaries of protection, in particular Dublin returnees, in Italy, Januar 2020, S. 28). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann sich diese Phase auf mehrere Wochen oder sogar Monate erstrecken.

Denn das "Fotosegnalamento" und die förmliche Registrierung des Antrags auf internationalen Schutz finden nicht immer gleichzeitig statt. Art. 26 Abs. 2 des Gesetzesdekrets Nr. 25/2008 sieht zwar vor, dass der formlose Antrag auf internationalen Schutz innerhalb von drei Tagen behördlich zu dokumentieren ist, wobei die Frist bei einer großen Zahl von Asylbewerbern auf bis zu zehn Tage verlängert werden kann. In der Praxis werden diese Fristen jedoch nur selten eingehalten, was auf die hohe Zahl der Asylanträge und den Mangel an Polizeipersonal zurückzuführen ist. Vor allem in großen Ballungsräumen wie Mailand, Rom und Neapel erhalten Asylbewerber oft erst nach einigen Wochen oder sogar Monaten eine Einladung ("invito") zu einem Termin, um bei der Questura förmlich ihren Antrag zu stellen (Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy. 2021 Update, 20.05.2022, S. 26; ASGI, a. a. O.; Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières, MSF), Informal settlements: social marginality, obstacles to access to healthcare and basic needs for migrants, asylum seekers and refugees, Februar 2018, S. 3). Im Zuge der Pandemie haben sich die Wartezeiten zumindest in den Städten weiter verlängert (SFH, Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Italy, Februar 2022, S. 12).

Zudem stellen spezielle Anforderungen der lokalen Questura-Büros weitere Hindernisse beim Zugang zum Asylverfahren dar. Die Questura von Neapel etwa nimmt keine von Asylbewerbern persönlich eingereichten Anträge an, sondern registriert nur solche Anträge, die über Rechtsanwälte oder NGOs eingereicht werden. Der Termin zur Asylantragstellung wird je nach Arbeitsbelastung erst nach einem oder sogar mehreren Monaten vergeben. In Rom beschränkte die Questura im Jahr 2020 den Zugang auf etwa 20 Antragsteller pro Tag. Im Oktober 2020 verurteilte das Berufungsgericht Rom das Innenministerium zum Schadenersatz, nachdem es festgestellt hatte, dass ein Antragsteller mindestens fünfmal versucht hatte, Zugang zur Polizeistation zu erhalten, und zweimal auf der Straße vor der Einwanderungsbehörde geschlafen hatte, um zu den ersten Antragstellern zu gehören. Währenddessen war er gezwungen, auf der Straße zu leben, da er mangels Registrierung keinen Zugang zum Aufnahmesystem hatte, obwohl er unter gesundheitlichen Problemen litt. Die Situation änderte sich auch 2021 nicht grundlegend. Das zuständige Büro der Questura von Mailand liegt weit entfernt vom zentralen Büro am nördlichen Stadtrand und lässt auch nur eine begrenzte Anzahl von Personen pro Tag zu. Ferner kam es zu zahlreichen Fällen, in denen Asylbewerber das Gebäude der Questura - vor allem in größeren Städten - nicht betreten durften und gezwungen waren, mehrere Stunden draußen an einer Schranke zu warten, wobei sie psychischen Misshandlungen wie Beschimpfungen und Anschreien ausgesetzt waren (ASGI, a. a. O.).

Obwohl in Art. 4 und 5 des italienischen Aufnahmeerlasses klargestellt wird, dass das Fehlen eines Wohnsitzes kein Hindernis für den Zugang zu internationalem Schutz darstellt, verweigerten Questura-Büros im Jahr 2021 darüber hinaus in einigen Fällen den Zugang zum Verfahren wegen des fehlenden Nachweises des Wohnsitzes, z. B. durch einen Mietvertrag oder eine Gastfreundschaftserklärung einschließlich des Ausweises der aufnehmenden Person. Dies war zum Beispiel in Latium (Rom), Kampanien (Neapel), Friaul-Julisch Venetien (Pordenone), Sizilien (Palermo, Syrakus), Sardinien (Cagliari), Piemont (Novara) und der Lombardei (Mailand) der Fall. Im Juni 2020 gab das Zivilgericht Triest der Klage eines pakistanischen Staatsangehörigen statt und wies die Questura von Pordenone an, seinen Asylantrag zu registrieren, was sie bis dahin mit Verweis auf einen fehlenden Wohnsitz verweigert hatte. Im Dezember 2020 gab das Gericht von Florenz einem Eilantrag statt, der sich gegen die Ablehnung des Asylantrags durch die Questura von Florenz wegen fehlender Unterlagen zur Bescheinigung des Wohnsitzes richtete. Es ist anzunehmen, dass es zu derartigen Vorgängen auch infolge der Rückführung von Personen im Rahmen des Dublin-Verfahrens kommt. Im August 2021 verhinderte die Questura von Udine (Friaul-Julisch Venetien) die Formalisierung eines Asylantrags und erteilte einem irakischen Asylbewerber, der zuvor einen Asylantrag in Deutschland gestellt hatte, stattdessen eine Ausweisung. In dieser Angelegenheit ist ein Berufungsverfahren vor dem Zivilgericht von Triest anhängig (ASGI, a. a. O.).

Ferner droht den Antragstellern Obdachlosigkeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Asylverfahren im Falle der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus durch die italienischen Behörden.

Das italienische System basiert auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus für sich selbst sorgen können und müssen. Nach der Gewährung eines Schutzstatus sind anerkannte Geflüchtete nicht mehr berechtigt, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder CAS ("Centro di Accoglienza Straordinaria") zu bleiben. Zwar dürfen sie zunächst SAI-Unterkünfte ("Sistema di accoglienza ed integrazione", ehemals SPRAR/SPROIMI) aufsuchen, doch da die Plätze in den SAI knapp sind, entsteht in der Praxis eine Schutzlücke (aida, a. a. O., S. 213). Zudem ist auch die Zeitdauer, für die anerkannte Schutzberechtigte in SAI-Unterkünften verbleiben dürfen, begrenzt. Art. 38 des Dekrets des italienischen Innenministeriums vom 18.11.2019 legt fest, dass die Aufnahme im SAI-System sechs Monate andauert. Nur in einigen Fällen, die im Dekret genannt werden, können die Aufnahmebedingungen mit angemessener Begründung und mit vorheriger Genehmigung durch die zuständige Präfektur um weitere sechs Monate verlängert werden. Zusätzliche sechs Monate können gewährt werden, wenn anhaltende schwerwiegende gesundheitliche Gründe vorliegen oder um den Abschluss des Schuljahres zu ermöglichen (Art. 39 des Dekrets). Art. 5 des Gesetzesdekrets 130/2020 sieht vor, dass alle untergebrachten Personen nach Ablauf der Aufenthaltsdauer in weitere Integrationswege einbezogen werden sollen, für die die zuständigen Gemeinden im Rahmen der verfügbaren personellen, instrumentellen und finanziellen Ressourcen verantwortlich sind (aida, a. a. O., S. 215).

Trotzdem zeigt der Jahresbericht des Aufnahmesystems SPRAR/SIPROIMI (nunmehr SAI), dass Flüchtlinge, die in SPRAR/SIPROIMI-Einrichtungen untergebracht sind, bei der Erlangung der Wohnautonomie auf viele Hindernisse stoßen. Im Jahr 2018 erhielten weniger als 5 % der im Zweitaufnahmesystem untergebrachten Personen einen Wohnzuschuss, wenn ihre Zeit im System endete, und weniger als 1 % wurde bei Mietverfahren unterstützt, wenn sie die Aufnahmeeinrichtungen verließen. Das italienische Wohnungswesen ist zudem strukturell nicht auf die Bedürfnisse von Personen mit internationalem Schutzstatus eingestellt. In den letzten dreißig Jahren lag der Anteil der Sozialwohnungen am gesamten Wohnungsmarkt konstant lediglich zwischen 5 und 6 %. Darüber hinaus sind die Kriterien für die Zuteilung von Sozialwohnungen in vielen Fällen für viele Einwanderer nachteilig, selbst wenn sie nur über ein sehr geringes Einkommen verfügen, da eine Mindestwohnsitzdauer verlangt wird (UNHCR, ASGI and SUNIA, The refugee house - Guide to housing autonomy for beneficiaries of international protection in Italy, Februar 2021, S. 5-6). Weitere Kriterien, die von einigen Regionen für die Zuweisung einer Sozialwohnung verlangt werden, sind etwa ein Wohnsitz in der Gemeinde, in der der Antrag gestellt wird, keine vorherige Zuweisung von öffentlichem Wohnraum oder das Fehlen einer illegalen Beschäftigung (aida, a. a. O., S. 217).

Sowohl vor ihrer förmlichen Registrierung als Asylantragsteller als auch nach der Zuerkennung eines Schutzstatus wird die Antragstellerin zu 1) somit voraussichtlich gezwungen sein, mangels Zugang zu Aufnahmeeinrichtungen und sonstigem öffentlichem Wohnraum eine Unterkunft auf dem privaten Markt zu suchen. Doch die tatsächliche Verfügbarkeit von Mietwohnungen ist knapp, weil mehr als 75 % der Familien in Italien Eigentümer des Hauses sind, in dem sie wohnen, und 60 % der Immobilien im Besitz von Einzelpersonen sind, die sie als Hauptwohnsitz nutzen, während Mietwohnungen nur 10 % aller auf dem nationalen Territorium verfügbaren Wohnungen ausmachen. Italien ist also ein Land der kleinen Eigentümer, die meist nur ein Haus für den Mietmarkt zur Verfügung haben. Die Knappheit von Mietobjekten und die Notwendigkeit, mit einer großen Anzahl von Gesprächspartnern in Kontakt zu treten, benachteiligt die Flüchtlinge erheblich, weil sie in der Regel über eine geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügen und bei der Interaktion mit Privatpersonen und Wohnungsbaugesellschaften mit sprachlichen Problemen konfrontiert sind (UNHCR, ASGI and SUNIA, a. a. O., S. 7-8).

Es ist unwahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 1) überhaupt in der Lage wäre, die finanziellen Mittel für eine private Wohnung aufzubringen. Denn nach ihren glaubhaften Angaben hat sie ihre sämtlichen Ersparnisse aus ihrer Arbeitstätigkeit im Iran aufgebraucht, um den Schleuser und die Ausreise nach Deutschland zu finanzieren. Folglich bräuchte sie eine Arbeitsstelle, um die Miete zahlen zu können. Doch im Allgemeinen bestehen für Geflüchtete Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus äußerst schwierig, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. Im Allgemeinen sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und zeitlich begrenzt. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten oder einer Familie ein sicheres Einkommen zu bieten (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 71). Die Situation auf dem Arbeitsmarkt hat sich im Zuge der Covid-19-Pandemie und der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage 2020 und 2021 zusätzlich verschärft. Viele Personen mit Schutzstatus, die eine Arbeit gefunden hatten, haben diese dadurch verloren (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, 01.07.2022, S. 21-22). Insbesondere die Erwerbs- und Beschäftigungsquoten von Frauen in Italien liegt mit nur 51,2 % im März 2022 deutlich unter dem EU-Durchschnitt, bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit sogar bei nur 45,4 % (Auswärtiges Amt/ Bundesministerium des Innern und für Heimat/ Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gemeinsamer Bericht zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, 30.09.2022, S. 19; im Vergleich zu 79,6 % Beschäftigungsquote von Frauen in Deutschland im 2. Quartal 2022, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188794/umfrage/erwerbsquote-in-den-eu-laendern/, aufgerufen am 01.12.2022).

Für Personen mit geringem Einkommen gibt es zwar seit März 2019 das sogenannte Bürgergeld ("Reddito di Cittadinanza"; ersetzt das Arbeitslosengeld). Dieses wird jedoch nur Antragstellern gewährt, die mindestens die letzten zehn Jahre in Italien wohnhaft waren, davon mindestens zwei Jahre mit einem ununterbrochenen Wohnsitz. Diese Voraussetzung erfüllen in der Regel nicht einmal anerkannte Schutzberechtigte. Weitere Sozialleistungen obliegen den Regionen und Kommunen, welche eigene Regeln bezüglich der Höhe der Leistungen und des Empfängerkreises festlegen. So wird etwa die kommunale Beihilfe für arbeitslose Mütter ("Assegno di maternità die comuni") nur dann gewährt, wenn die Mutter ihren Antrag innerhalb von sechs Monaten nach dem Geburtsdatum bei der Wohnsitzgemeinde eingereicht hat (https://www.patronato.acli.it/assegno-maternita-dello-stato-2021-a-chi-spetta, aufgerufen am: 01.12.2022). Auch ein Anspruch auf Kindergeld ("Assegno Unico Universale per i Figli") besteht nur dann, wenn die Antragsteller seit zwei Jahren regelmäßig in Italien leben oder einen Arbeitsvertrag von mindestens 6 Monaten haben (https://italy.refugee.info/hc/en-us/articles/5388918400663-Your-right-to-access-the-welfare-system, aufgerufen am: 01.12.2022). Das italienische Sozialsystem ist sehr schwach, garantiert keinerlei Nothilfe und stützt sich auf traditionelle Familienstrukturen. Flüchtlinge können meist nicht auf solche Strukturen in Italien zurückgreifen (BFA, a. a. O., S. 22).

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Problemen haben Geflüchtete insbesondere in den letzten Jahren eine zunehmende Stigmatisierung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt erlebt. Laut dem Jahresbericht des Aufnahmesystems SPRAR/SIPROIMI berichten 67,4 % der Aufnahmezentren über Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum aufgrund der unsicheren Arbeitsverhältnisse der Schutzberechtigten, während 55,5 % feststellen, dass eines der Hauptprobleme in Bezug auf den Zugang zu Wohnraum für Personen mit internationalem Schutz das Misstrauen von Immobilienagenturen und Immobilieneigentümern ist (UNHCR, ASGI and SUNIA, a. a. O., S. 7-8). Sowohl in der Phase vor der Registrierung des Asylantrags als auch dann, wenn anerkannte Geflüchteten auf die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung warten, kommt die Schwierigkeit hinzu, dass viele Vermieter die Vorlage einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung fordern, weil sie befürchten, als "Beherberger irregulärer Migranten" angesehen zu werden, was nach italienischem Recht als Straftat gilt (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 67).

Zwar gibt es regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nicht staatlich von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht langfristig ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem zu Winterzeiten geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. Diese Einrichtungen haben nur wenige Plätze zur Verfügung, die die Nachfrage nach Unterbringung derer, die auf der Straße leben müssen, nicht decken. Die Familieneinheit kann nicht immer berücksichtigt werden, sodass Eltern gegebenenfalls nur separate Plätze für sich und ihre Kinder angeboten werden. Die Plätze unterliegen zudem einem Rotationssystem und sind nur für kurze Zeit nutzbar, damit möglichst viele Menschen für einige Tage dort unterkommen können. Neben der Rotation müssen die Bewohner in der Zeit ihres Aufenthaltes die Zentren tagsüber verlassen und haben keine Möglichkeit, ein geregeltes Leben zu führen. Ein Großteil des Tages muss für die Deckung der Grundbedürfnisse, z. B. in die Nahrungsfindung (Schlangestehen vor karitativen Suppenküchen), investiert werden, was es den Geflüchteten unter anderem unmöglich macht, sich eine Arbeit zu suchen (SFH, Situation von aus dem Ausland zurückkehrenden Schutzberechtigten (insbes. hinsichtlich einer Unterkunft), 29.04.2022, S. 4-5; SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 68).

Weil somit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Antragstellerin zu 1), bevor ihr Zugang zum Aufnahmesystem gewährt wird bzw. nachdem dieser Zugang mit dem Abschluss des Asylverfahrens erloschen ist, weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt noch einen dauerhaften Platz in einer Notunterkunft finden wird, droht ihr und ihren Kindern in diesen Phasen ein Leben auf der Straße.

Aufgrund mangelnder Kapazitäten des offiziellen Aufnahmesystems oder weil sie ihr Recht auf Zugang zum Aufnahmesystem verloren haben, sind viele Asylbewerber und Schutzberechtigte obdachlos und leben auf der Straße oder in informellen Siedlungen, besetzten Häusern oder Barackensiedlungen in verschiedenen italienischen Städten, in der Regel unter unzumutbaren Bedingungen (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 69). Aktuelle Berichte dokumentieren zudem, dass Asylsuchende auch infolge der verzögerten oder verweigerten Registrierung ihrer Anträge obdachlos werden. So prangerte etwa die Vereinigung "Assemblea antirazzista" im Juni 2022 an, dass über 60 Asylbewerber in der norditalienischen Stadt Trient (Trentino-Südtirol) seit Monaten obdachlos waren, während sie auf die Registrierung ihrer Asylanträge und die Zuweisung eines Platzes im Aufnahmesystem warteten (Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), InfoMigrants, 15.06.2022, https://www.infomigrants.net/en/post/41210/italy-over-60-asylum-seekers-in-trento-homeless-for-months, aufgerufen am 01.12.2022). Im August 2022 hatte sich die Situation noch immer nicht verbessert und Helfer machten die Langsamkeit der Bürokratie für die Notsituation verantwortlich (l'Adige, 12.08.2022, https://www.ladige.it/cronaca/2022/08/12/centinaia-di-immigrati-sotto-i-ponti-di-trento-in-attesa-di-asilo-negato-il-diritto-ad-un-posto-letto-1.3286747, aufgerufen am 01.12.2022). Die Betreiber eines Pfarrwohnheims in der italienischen Stadt Ravenna (Emilia-Romagna) berichteten von ständigen Wohnungsanfragen von obdachlosen jungen Migranten, die sich in der Schwebe befänden, während sie auf Papiere und die Aufnahme in die Erstaufnahmeeinrichtungen CAS ("Centri di accoglienza straordinari") warteten, die immer mehr überfüllt seien. Sie beklagten die überlangen Wartezeiten für die Legalisierung der Migranten (Vatican News, Sr. Maria's experience of running a center for migrants and the homeless, 16.09.2022, https://www.vaticannews.va/en/church/news/2022-09/sisters-project-maria-giovanni-titone-migrants-welcoming.html, aufgerufen am 01.12.2022).

Sofern andere Verwaltungsgerichte (VG Bremen, Beschluss vom 13.01.2022 - 6 V 828/21, 8345068 -, juris; VG Greifswald, Urteil vom 17.11.2022 - 3 A 1301/22 HGW -, juris Rn. 38; VG Dresden, Beschluss vom 02.11.2022 - 12 L 745/22.A, 9468164 -, juris, VG Cottbus, Urteil vom 08.09.2022 - VG 5 K 754/19.A, 7791080 -, juris; VG Köln, Urteil vom 25.08.2022 - 8 K 7119/19.A -, juris Rn. 58) die Gefahr einer Obdachlosigkeit damit abtun, dass die Geflüchteten auf kommunale Notunterkünfte zugreifen könnten, überzeugt dies aus den ausgeführten Gründen nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Notunterkünfte eine gangbare Lösung sein sollen, insbesondere, wenn die Gerichte zugleich einräumen, dass die genaue Anzahl an Plätzen in Notunterkünften schwierig auszumachen ist, sich die Plätze aufgrund der Covid-19-Pandemie reduziert haben, die Nachfragen infolge der Wirtschaftskrise indes gestiegen sind und Italien keinen nationalen Plan hat, der eine Erhöhung der Anzahl an Plätzen für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen vorsieht. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die von mehreren Gerichten zitierte Zahl von 10.000 Obdachlosen in ganz Italien im Jahr 2018 (vgl. VG Bremen, a. a. O., VG Greifswald, a. a. O.: VG Würzburg, Urteil vom 29.09.2022 - W 4 K 21.30332 -, juris Rn. 53; .VG Stuttgart, Urteil vom 21.07.2022 - A 4 K 1253/22 -, juris Rn. 46), somit von nur etwa 0,016 % der Bevölkerung, deutlich zu niedrig angesetzt ist. Das Nationale Institut für Statistik (ISTAT) geht für das Jahr 2021 von 500.000 wohnungslosen Menschen aus, die auf der Straße oder in Behelfsunterkünften, etwa in Lagern und geduldeten oder spontanen Siedlungen, leben. Im Winter 2014 ermittelte das Institut zudem durch Erhebungen in Kantinen- oder Nachtasyleinrichtungen eine Zahl von 50.724 Obdachlosen, die landesweit auf der Straße lebten. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Anteil der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren als Folge der Wirtschaftskrise zugenommen hat (ISTAT, 29.10.2021, Censimento 2021 anche per le persone più difficili da rilevare, https://www.istat.it/it/files//2021/10/Popolazioni-speciali_Comunicato-stampa.pdf, aufgerufen am 01.12.2022). 15 % der Wohnungslosen sind Frauen; 58 % der Wohnungslosen sind Ausländer, wobei deren Quote in einzelnen Großstädten wie Mailand sogar bei 73 % liegt (Quotidiano Piemontese, 07.01.2022, https://www.quotidianopiemontese.it/2022/01/07/i-clochard-in-italia-sono-un-popolo-di-50-mila-invisibili-pari-a-un-capoluogo-di-provincia/, aufgerufen am 01.12.2022; SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 68). Dafür, dass der Anteil der Obdachlosen unter den Einwohnern Italiens deutlich höher sein dürfte, spricht auch eine Studie der Fondazione Rodolfo De Benedetti (fRDB) aus dem Jahr 2018 in Mailand, wo ein Anteil der Obdachlosen an der Bevölkerung von 0,2 % ermittelt wurde (Associazione NAGA, Più fuori che dentro, Dezember 2021, S. 62).

Ein, wenn auch nur vorübergehendes, Leben in Obdachlosigkeit würde für die Antragstellerin zu 1) und ihre minderjährigen Söhne eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen.

Die Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in besetzten Häusern, Slums und auf der Straße sind miserabel. Sie leben am Rande der Gesellschaft, ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Sie kampieren meist in kleinen Gruppen in Randgebieten, wo die Polizei sie nicht finden kann, um sie für das Schlafen im Freien zu bestrafen. Infolgedessen haben sie nicht nur keinen Zugang zu territorialen Sozial- und Gesundheitsdiensten, sondern auch zu den elementarsten Gütern wie Wasser, Lebensmitteln und Strom. Ihr Alltag besteht aus der Deckung ihrer Grundbedürfnisse, wie der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 58, 69). Geflüchtete ohne festen Wohnsitz haben zudem kaum Zugang zu medizinischen Leistungen, denn, um sich beim nationalen Gesundheitsdienst (SSN) anzumelden, müssen sich Asylbewerber oder Personen mit Schutzstatus an das örtliche ASL ("azienda sanitaria locale", lokale Gesundheitsbehörde) wenden und dort u. a. eine gültige Aufenthaltserlaubnis, eine Wohnsitzbescheinigung bzw. eine Erklärung über den tatsächlichen Aufenthalt, wie auf der Aufenthaltserlaubnis angegeben, sowie eine Steueridentifikationsnummer vorlegen. Dies stellt ein schwer überwindbares Hindernis dar sowohl für asylsuchende Personen, deren Anträge noch nicht formell bei der Questura registriert wurde, als auch für Personen mit internationalem Schutz, die obdachlos geworden sind und deshalb Schwierigkeiten haben, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern und/oder einen Wohnsitznachweis zu erbringen. Die Angabe einer fiktiven Adresse oder der Adresse einer Nichtregierungsorganisation als Wohnsitz wird von vielen Behörden nicht zugelassen (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 73, 75).

Zudem mangelt es in Italien an Unterstützungsleistungen für Obdachlose. In Barletta (Apulien) forderten Vertreter von Hilfsorganisationen, den in der Region als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft tätigen Geflüchteten ein öffentliches Wohnheim zur Verfügung zu stellen, nachdem diese dort seit Langem in Zeltlagern in der freien Natur oder in leerstehenden Gebäuden leben müssen (Giuseppe di Bisceglie, Corriere della Sera, 14.10.2022, https://corrieredelmezzogiorno.corriere.it/bari/cronaca/22_ottobre_14/sotto-ponti-tende-stracci-cosi-migranti-vivono-degrado-barletta-7454595c-4bce-11ed-b1b7-e093d9351754.shtml, aufgerufen am 01.12.2022). Aus der Stadt Triest (Friaul-Julisch Venetien) wird berichtet, dass die Polizei Geldstrafen von bis zu 500 Euro gegen obdachlose Asylbewerber verhängt (Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), InfoMigrants, 18.07.2022, http://www.infomigrants.net/en/post/41972/homeless-refugees-fined-in-trieste, aufgerufen am 01.12.2022). Zudem werden Hilfsorganisationen werden in ihrer Arbeit teilweise gezielt behindert. Die Stadt Ventimiglia (Ligurien) nahe der italienisch-französischen Grenze verhängte ein mit Geldstrafen bewehrtes Verbot, obdachlosen Migranten Essen zu geben. Die Kirche, in der Hunderte von Menschen eine Notunterkunft gefunden hatten, wurde von den Behörden im Jahr 2017 geschlossen (Angela Giuffrida, The Guardian, 20.09.2022, https://www.theguardian.com/world/2022/sep/20/all-we-want-is-to-be-able-to-live-migrants-left-destitute-in-italian-border-town, aufgerufen am 01.12.2022). Die Situation Geflüchteter dürfte sich durch den Wechsel zu der rechtsextremen Regierung unter Giorgia Meloni sogar noch verschärfen."

Letztere Annahme hat sich durch den Anfang Dezember 2022 von den italienischen Behörden verkündeten Aufnahmestopp für Dublin-Rückkehrer bestätigt. Das italienische Innenministerium teilte in seinem Schreiben vom 05.12.2022 mit (deutsche Übersetzung nach VG Regensburg, Beschluss vom 23.01.2023 - RO 13 S 23.50009 -, juris):

"Hiermit möchten wir Sie darüber informieren, dass die Mitgliedstaaten aufgrund plötzlich aufgetretener technischer Gründe im Zusammenhang mit der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmemöglichkeiten aufgefordert werden, Überstellungen nach Italien ab morgen vorübergehend auszusetzen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung unbegleiteter Minderjähriger. Weitere und detailliertere Informationen zur Dauer der Aussetzung folgen."

In einem weiteren Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 07.12.2022 heißt es (deutsche Übersetzung nach VG Regensburg, a. a. O.):

"Ich schreibe im Anschluss an die vorherige Mitteilung vom 5. Dezember 2022 über die Aussetzung von Überstellungen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung unbegleiteter Minderjähriger, aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmemöglichkeiten. In Anbetracht der hohen Zahl von Ankünften sowohl an den See- als auch an den Landgrenzen möchte ich Sie in diesem Zusammenhang über die Notwendigkeit einer Neuplanung der Aufnahmeaktivitäten für Drittstaatsangehörige informieren, auch unter Berücksichtigung des Mangels an verfügbaren Aufnahmeplätzen."

Die Überstellungen nach Italien sind bisher nicht wiederaufgenommen worden (Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 10.03.2023, S. 2: "Das Dublin-System krankt. Italien weigert sich seit Monaten, Asylbewerber zurückzunehmen."). Das Staatssekretariats für Migration (SEM) der Schweiz berichtete in einem Schreiben an die kantonalen Behörden, dass bis mindestens 02.05.2023 keine Dublin-Rückführungen nach Italien möglich seien (SDA, 09.04.2023, https://www.nau.ch/news/schweiz/italien-blockiert-dublin-abkommen-bis-mindestens-2-mai-66469812). Es gibt keine Berichte darüber, dass die Schweiz seither wieder Dublin-Überstellungen durchführt.

Aus der Weigerung der italienischen Behörden, Asylsuchende im Dublin-Verfahren rückzuübernehmen, ergeben sich erhebliche Zweifel nicht nur an der Verfügbarkeit ausreichender Aufnahmekapazitäten (so auch VG Braunschweig VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 -, n. v.), sondern bereits an der Bereitschaft Italiens, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren (so Nds. OVG, Beschluss vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 -, juris Rn. 21; VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; VG Arnsberg, Urteil vom 24.01.2023 - 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 47; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28.02.2023 - 1a L 180/23.A -, juris Rn. 8; VG Stade, 22.03.2023 - 10 A 1884/22 -, n. v.; VG Köln, Beschluss vom 13.04.2023 - 26 L 403/23.A -, juris Rn. 11; anders VG Regensburg, Beschluss vom 23.01.2023 - RO 13 S 23.50009 -, juris; VG Bremen, Beschluss vom 16.03.2023 - 3 B 127/23 -, n. v.; VG Göttingen, Beschluss vom 06.01.2023 - 1 B 170/22 -, juris; VG Trier, Beschluss vom 05.04.2023 - 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 27.03.2023 - 12 L 695/23.A -, juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 27.03.2023 - 9 A 1520/20 -, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 17.03.2023 - 6 B 123/23 MD -, juris). Auch das höchste Verwaltungsgericht der Niederlande, der Raad van State, urteilte mit Beschluss vom 26.04.2023, dass sich die niederländischen Behörden gegenüber Italien nicht mehr auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens berufen und weiterhin davon ausgehen könnten, dass Italien seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen werde (Uitspraak 202207368/1/V1, https://www.raadvanstate.nl/actueel/nieuws/april/geen-asielzoekers-terug-naar-italie/@136978/202207368-1-v1/).

Denn der Aufnahmestopp kann nicht losgelöst von dem sonstigen Umgang Italiens mit Asylsuchenden betrachtet werden. Vielmehr ist er nur eine weitere Ausprägung des Abschottungskurses der italienischen Regierung, welcher bereits in den regelmäßigen Verstößen der italienischen Grenzschutzbehörden gegen das Non-Refoulement-Gebot zum Ausdruck kommt. Dieses Prinzip ist u. a. verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Italien führt jedoch in erheblichem Maße Asylsuchende im Rahmen sog. "Push-backs", Rückschiebungen ohne individuelle Prüfung der Asylanträge, nach Libyen, nach Griechenland oder Slowenien zurück.

Im Hinblick auf Libyen nehmen die italienischen Behörden die "Push-backs" in der Regel nicht selbst vor, sondern delegieren diese an andere Akteure. Italien hat im Februar 2020 ein Memorandum of Understanding mit Libyen verlängert, in dessen Rahmen die italienische Seite Libyen mit Geld und Ausrüstung bei seinen Search and Rescue-Aktivitäten auf See und in der Wüste sowie bei der Prävention und Bekämpfung illegaler Migration unterstützt. Die italienischen Behörden setzten sich dabei über eine Entscheidung des Strafgerichts von Trapani in Sizilien vom 23.05.2019 hinweg, demzufolge das Abkommen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt (auf Italienisch verfügbar unter: https://bit.ly/3dutMHl). Im Jahr 2021 zwang die libysche Küstenwache im Rahmen dieser von Kritikern als "indirekte Push-backs" bezeichneten Praktiken mindestens 32.425 Personen nach Libyen zurückzukehren. Es gibt ferner Vorwürfe, Italien würde für die "Push-backs" auch private Schiffe instrumentalisieren, welche Migranten auf hoher See aufnehmen und nach Libyen zurückbringen müssen, weil die italienischen Häfen für Flüchtlingsanlandungen gesperrt sind (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Italien, 01.07.2022, S. 10). Währenddessen werden Schiffe privater Seenotrettungsorganisationen immer wieder in den italienischen Häfen festgesetzt und am Auslaufen zu Rettungseinsätzen gehindert. Aus den Daten des UNHCR geht hervor, dass im Jahr 2021 1.496 Geflüchtete und Migranten während der Überfahrt nach Italien starben oder verschwanden (Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy, 20.05.2022, S. 30 ff.).

"Push-backs" von Italien nach Griechenland erfolgen ebenfalls auf dem Seeweg und auf Grundlage eines bilateralen Rückübernahmeabkommens aus dem Jahr 1999. Diese Praxis verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon am 21.10.2014 (Az. 16643/09, Sharifi u. a. v. Italien u. Griechenland, abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int) als Verletzung von Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK, welcher Kollektivausweisungen verbietet. Italien behauptete in der Folgezeit, diese Zurückweisungen eingestellt zu haben, doch aktuelle Recherchen belegen das Gegenteil. Geflüchtete werden noch immer von den adriatischen Häfen aus mit Personenfähren zurück nach Griechenland transportiert. Allein im Zeitraum zwischen Januar und April 2020 führten die italienischen Behörden auf diesem Weg an die 400 "Push-backs" und Rückübernahmen durch (Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy, 20.05.2022, S. 37). Oft werden die Geflüchteten, darunter auch Minderjährige, zuvor tagelang inhaftiert und während der stundenlangen Überfahrt in geheimen Gefängnissen in Frachträumen, Garagen oder defekten Toiletten der Schiffe angekettet oder mit Handschellen gefesselt (SRF Investigativ, 18.01.2023, https://www.srf.ch/news/pushbacks-eingesperrt-auf-der-touristenfaehre-im-mittelmeer?fbclid=IwAR1dRjl3-yCDx2QLy7rxc9zSVqwglL5W8BZuf_-BZVFe2HVO30ZX0pphvpM). Der italienischen Organisation Associazione per Gli Studi Giuridici Sull'Immigrazione (ASGI) zufolge werden ähnliche Rückführungen auch mit Migranten durchgeführt, welche auf dem Seeweg von Kroatien oder Albanien aus nach Italien einreisen (02.04.2021, https://www.asgi.it/asilo-e-protezione-internazionale/network-porti-adriatici-respingimenti-e-riammissioni/).

Schließlich praktizierten die italienischen Behörden auch informelle Rückübernahmen nach Slowenien, welche häufig in Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina endeten. Allein im Jahr 2020 kam es zu 1.240 "Push-backs" von Italien nach Slowenien (Euro-Mediterranean Human Rights Monitor, 26.01.2021, https://reliefweb.int/report/italy/rome-court-decision-against-italy-s-illegal-migrant-pushbacks-significant-step-enar). Mit Urteil vom 18.01.2021 entschied das Zivilgericht Roms (Az. 56420/2020, https://medea.asgi.it/wp-content/uploads/2021/04/Translation-Rome-ruling-on-chain-pushbacks-def.pdf), die italienischen Behörden missachteten mit diesem Vorgehen das Recht des betroffenen Antragstellers auf einen wirksamen Rechtsbehelf, verstießen gegen die Notwendigkeit einer individuellen Prüfung seines Asylgesuchs und setzten ihn der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aus. Im Anschluss an diese Entscheidung wurden Rückübernahmen an der Ostgrenze Italiens zunächst ausgesetzt (Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy, 20.05.2022, S. 29).

Auch wenn die beschriebenen Praktiken jedenfalls weit überwiegend solche Asylbewerber betreffen dürften, welche erst kürzlich ins italienische Hoheitsgebiet eingereist sind, erschüttern sie dennoch das Vertrauen der EU-Mitgliedsstaaten in die Annahme, dass Italien die menschenrechtlichen Garantien, welche dem Dublin-Verteilungssystem zugrunde liegen, zuverlässig achtet und umsetzt. Die Erkenntnisse hinsichtlich des Vorgehens der italienischen Behörden an den Außengrenzen der europäischen Union verwehren es den Behörden und Gerichten anderer EU-Mitgliedsstaaten somit, sich ohne individuelle Prüfung auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu berufen. Auch wenn Italien die im Dezember 2022 verkündeten Aufnahmestopps widerruft und Dublin-Rücküberstellungen wieder ermöglicht, erfordern die festgestellten systemischen Mängel im Asylverfahren Italiens in jedem Einzelfall eine eingehende Untersuchung der Aufnahmebedingungen, welche der jeweilige Dublin-Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien zu erwarten hat.

Die Einzelrichterin ist überzeugt davon, dass Italien derzeit nicht willens ist, die Kläger wiederaufzunehmen und ihnen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren. Ferner geht die Einzelrichterin davon aus, dass es der Klägerin zu 1) als alleinerziehender Mutter und den Klägern zu 2) und zu 3), ihren neun und sechs Jahre alten Söhnen, bei einer Rücküberstellung nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, ihre Grundversorgung zu gewährleisten, insbesondere vor ihrer förmlichen Registrierung als Asylantragsteller und nach dem Abschluss eines Asylverfahrens eine Unterkunft zu finden. Für die Klägerin zu 1) kommt, abgesehen von den allgemeinen Schwierigkeiten Geflüchteter, eine Wohnung zu finden bzw. zu finanzieren und sich auf dem italienischen Arbeitsmarkt zu behaupten, erschwerend hinzu, dass sie die Betreuung ihrer Kinder sicherstellen muss, um einer geregelten Berufstätigkeit nachgehen zu können, und dass sie aufgrund der erlittenen Übergriffe im Herkunftsland mit hoher Wahrscheinlichkeit psychologische Unterstützung benötigt. Den Klägern droht folglich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein von ihrem Willen unabhängiger Zustand der Verelendung in Form der Obdachlosigkeit und damit eine Verletzung des Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK. Die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erforderliche besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit ist vorliegend erreicht.

Eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden, dass die Kläger entgegen des im Dezember verkündeten Aufnahmestopps wiederaufgenommen werden und dass bei einer Rücküberstellung eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen werden wird, könnte daran, selbst wenn die Beklagte eine solche noch einholen würde, nichts ändern (anders VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 -, juris Rn. 41; VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2022 - 33 L 376/22 A -, juris Rn. 36; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22.02.2022 - 1a K 2967/19.A -, juris Rn. 62). Denn ein Vertrauen in derartige Auskünfte der italienischen Behörden ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr bzw. noch nicht wieder gerechtfertigt.

Dementsprechend sind die Feststellung, dass Abschiebungsverbote in Bezug auf Italien nicht vorliegen, die Abschiebungsanordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ebenso rechtwidrig und waren aufzuheben.