Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 25.02.2022, Az.: 2 B 27/22
Kettenabschiebungen; Non-Refoulement; Push-backs; systemische Mängel
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 25.02.2022
- Aktenzeichen
- 2 B 27/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59841
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1 AsylVfG 1992
- Art 3 MRK
- Art 4 EUGrdRCh
- Art 21 EURL 95/2011
- Art 3 Abs 2 EUV 604/2013
- Art 33 GFKTRL
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass kroatische Behörden durch zwangsweise Rückschiebungen v. a. nach Bosnien-Herzegowina das Recht auf Asylantragstellung gezielt vereiteln und damit gegen das Non-Refoulement-Gebot verstoßen.
2. Kroatische Polizeibeamte üben bei der Durchführung von Push-Backs regelmäßig körperliche und psychische Gewalt gegen Geflüchtete aus.
3. Aufgrund der Beteiligung Kroatiens an Kettenabschiebungen aus anderen EU-Ländern kann nicht ausgeschlossen werden, dass auch Dublin-Rückkehrer aus Deutschland Opfer von Push-Backs werden.
Gründe
I.
Die Antragsteller sind iranische Staatsangehörige, persischer Volkszugehörigkeit und nach eigenen Angaben christlichen Glaubens. Der Antragsteller zu 2) ist der 12-jährige Sohn der Antragstellerin zu 1).
Nach der Einreise der Antragsteller nach Deutschland ermittelte die Antragsgegnerin am 21.09.2021 mittels eines Eurodac-Treffers, dass die Antragstellerin zu 1) u. a. bereits am 30.06.2021 in Kroatien einen Asylantrag gestellt hatte. Am 05.11.2021 stellten die Antragsteller einen förmlichen Asylantrag bei der Antragsgegnerin.
Bei ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 08.11.2021 berichtete die Antragstellerin zu 1), sie habe sich mit ihrem Sohn 1,5 Monate in Kroatien aufgehalten. Dort sei sie nur einmal kurz angehört worden. In dem Camp, in dem sie gelebt hätten, seien sie versorgt worden. Sozialleistungen habe sie nicht bezogen. Ihr Sohn sei in Kroatien wenige Tage in ärztlicher Behandlung gewesen. Sie selbst sei von kroatischen Polizisten verprügelt worden, außerdem hätten die Polizisten all ihre Unterlagen aus dem Iran verbrannt. Sie wolle nicht nach Kroatien rücküberstellt werden, weil ihr Sohn dort nicht behandelt werden könne. Er sei schwerstbehindert. Als er zwei Monate nach seiner Geburt Gelbsucht bekommen habe, sei ein Blutaustausch durchgeführt worden. Zwei Tage später habe er unter Krämpfen gelitten. Ihr Mann sei drogensüchtig gewesen und habe ihr Kind verkaufen wollen. Als ihr Sohn fünf Monate alt gewesen sei, hätten sie sich deswegen gestritten, und im Streit habe ihr Mann ihr ihren Sohn weggenommen und auf den Boden geworfen. Sie sei mit ihm ins Krankenhaus gegangen, doch er habe bleibende Schäden davongetragen. Danach sei er intensiv in ärztlicher Behandlung gewesen. Er benötige regelmäßig zwei Medikamente und vier hochdosierte Vitaminpräparate. Er sei nun in Deutschland in ärztlicher Behandlung. Sie selbst leide unter Migräne und Herzkrankheiten. Außerdem habe sie seit dem Übergriff der kroatischen Polizisten Rückenprobleme. Vor vielen Jahren habe sie im Iran zwei Herzinfarkte gehabt. Sie sei derzeit jedoch nicht in ärztlicher Behandlung.
Die Antragstellerin zu 1) überreichte einen Entlassbrief des F.-Klinikums vom 10.09.2021. Darin wurde für den Antragsteller zu 2) eine psychomotorische Entwicklungsverzögerung und pathologischer Gewichtsverlust festgestellt. Knochen und Gelenke seien spastisch gelähmt, es komme zu Sekundenkrampfanfällen und spastischen Phasen. Er besitze kaum noch Muskulatur, Reflexe seien nicht auslösbar. Der Antragsteller zu 2) wiege nur 9 kg und wirke wie ein dreijähriges Kind. Er leide unter starker Zahnkaries, sei im Übrigen aber in einem stabilen Allgemeinzustand und einem guten Pflegezustand. Seine Mutter versorge ihn sehr gut. Empfohlen wurde u. a. eine Vorstellung in einem neuropädiatrischen Zentrum, um herauszufinden, ob sich seine Tetraspastik noch verbessern lasse.
Aus einem Ambulanzbrief des Zentrums für Kinder- und Jugendmedizin des G.-Klinikums vom 22.10.2021 geht hervor, die Antragstellerin zu 1) habe berichtet, ihr Sohn könne nicht sprechen, sich nicht bewegen und leide unter epileptischen Krampfanfällen. Vor zwei Jahren habe er sich eine Fraktur des Schlüsselbeins zugezogen, die nicht behandelt worden sei. Er werde bisher mit dem Muskelrelaxans Baclofen und dem Antikonvulsivum Rivotril behandelt, die die Mutter ihm bei Bedarf gebe, wenn er schreie. Feststellbar seien die Lähmung aller vier Extremitäten durch Muskelverkrampfung (Tetraspastik), Bewegungs- und Funktionseinschränkungen (Kontrakturen) an den Fingern und Füßen, eine zeitweilige krampfhafte Überstreckung des Rückens und stark dystropher Ernährungszustand. Diagnostiziert wurden zudem eine globale Entwicklungsverzögerung sowie eine Epilepsie. Der Antragsteller zu 2) sei in stabilem Allgemeinzustand und gutem Pflegezustand und scheine nicht unter Schmerzen zu leiden. Die Mutter kaue ihm sein Essen vor oder füttere ihn mit Babybrei und Säuglingsmilch. Dem Patienten seien Diazepam für den Fall längerer Krampfanfälle, eine stationäre Aufnahme für die weitere Epilepsie-Diagnostik und eine Zahnsanierung verschrieben worden.
Aus einer Kurzmitteilung der LAB Niedersachsen vom 21.10.2021 und einer weiteren des Deutschen Roten Kreuzes geht hervor, dass der Antragsteller zu 2) wegen seiner körperlichen und geistigen Behinderung nicht imstande ist, normale Nahrung zu sich zu nehmen, und deshalb Babynahrung bzw. flüssige oder breiförmige Kost benötigt.
In ihrer persönlichen Anhörung bei der Antragsgegnerin berichtete die Antragstellerin zu 2), ihre Eltern seien bei einem Erdbeben ums Leben gekommen, als sie vier Jahre alt gewesen sei. Danach habe sie in einer Pflegefamilie gelebt. Eine Schule habe sie nie besucht und sei deshalb auch Analphabetin. Im Alter von zehn Jahren sei sie das erste Mal verheiratet worden. Aus dieser Ehe stammten ihre heute 29-jährige Tochter und ihr 17-jähriger Sohn. Die Ehe sei dann jedoch geschieden worden. Danach habe sie einen anderen geheiratet, doch diesmal habe die Ehe nur drei Monate gehalten. 2007 habe sie dann den Vater des Antragstellers zu 2) geheiratet, der 2009 geboren worden sei. Sie hätten gemeinsam in H. gelebt. Sie habe ihren Ehemann nach dem Übergriff auf ihren Sohn zunächst nicht verlassen, weil sie Angst vor ihm gehabt habe. Er habe sie geschlagen und seine Familienangehörigen seien Verbrecher gewesen und hätten mit Waffen gehandelt.
Etwa im Jahr 2014 habe sie sich dann aber von ihrem Ehemann getrennt und sei mit ihren beiden älteren Kindern und ihrem jüngeren Sohn umgezogen. Sie hätten ihren Wohnort häufig wechseln müssen, weil ihr Ehemann sie verfolgt habe. Vier Monate vor ihrer Ausreise aus dem Iran sei sie in Kontakt mit dem Christentum gekommen, indem sie heimlich mit dem Handy die Aktivitäten einer Hauskirche auf YouTube verfolgt habe. Sie habe dann mithilfe von Bestechungsgeldern an den Freund ihres Ziehbruders Reisepässe für sich und ihren jüngeren Sohn erhalten und sie seien ohne die Erlaubnis ihres Ehemanns Anfang 2016 mit dem Flugzeug nach Serbien ausgereist. Die Ausreise habe sie ihre Ersparnisse von 20 Mio. Toman gekostet. Daraufhin habe ihr Ehemann die Scheidung eingereicht. Zu ihren ehemaligen Ehemännern habe sie keinen Kontakt mehr, aber zu ihren Kindern. Im Iran lebten außerdem noch zwei ihrer Pflegegeschwister.
In Serbien habe sie etwa ein Jahr und drei Monate in einem Camp gelebt. In einer häuslichen Gemeinde sei sie zum Christentum konvertiert. Danach hätten sie noch etwa vier Jahre in Bosnien verbracht. Die ganze Reise von Serbien über Bosnien, Kroatien, Slowenien, Italien und Frankreich bis nach Deutschland habe sie zu Fuß bewältigt und ihren Sohn auf dem Arm getragen. Deutschland sei von Beginn an ihr Ziel gewesen, weil sie sicher gewesen sei, dass ihr Sohn hier gut versorgt sei. Ihren Glauben lebe sie heute aus, indem sie regelmäßig bete, faste und eine Kirche besuche.
Am 15.11.2021 stellte die Antragsgegnerin einen Wiederaufnahmeantrag an die kroatischen Behörden. Mit Schreiben vom 26.11.2021 erklärte sich Kroatien zur Wiederaufnahme der Antragsteller bereit. Die Behörden führten aus, das mit Antrag vom 13.07.2021 eingeleitete Asylverfahren der Antragsteller sei nach ihrem Untertauchen am 10.09.2021 eingestellt worden, sodass sie bisher über keinen Schutzstatus verfügten. Die Einstellungsentscheidung sei am 29.09.2021 bestandskräftig geworden.
Mit Bescheid vom 13.01.2022, versandt am 20.01.2022, lehnte die Antragsgegnerin die Asylanträge als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Kroatien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 19 Monate (Ziffer 4). Kroatien sei für die Bearbeitung der Asylanträge zuständig und den Antragstellern drohe dort auch keine unmenschliche Behandlung, insbesondere herrschten in Kroatien keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen. Zwar gebe es Berichte von widrigen Zuständen in kroatischen Aufnahmelagern, doch der kroatische Staat habe diese Probleme erkannt und gehe sie an. Asylbewerbern stehe eine medizinische Notversorgung zu, vulnerable Personen hätten das Recht auf eine notwendige Behandlung entsprechend ihren speziellen Bedürfnissen. Kehrten Antragsteller nach Suspendierung des Verfahrens nach Kroatien zurück, müssten sie erneut einen Asylantrag stellen. Auch Dublin-Rückkehrer hätten grundsätzlich Zugang zum Asylsystem. Die Antragstellerin zu 1) habe nicht darlegen können, inwiefern ihr und dem Antragsteller zu 2) in Kroatien eine individuelle Gefahr drohe. Die vorgelegten Dokumente erfüllten nicht die Anforderungen an qualifizierte ärztliche Bescheinigungen. Es sei ferner nicht erkennbar, dass für die vorgetragene Erkrankung eine notwendige medizinische Behandlung in Kroatien nicht gewährleistet wäre oder aus finanziellen Gründen scheitern könnte. So sei der Antragsteller zu 2) in Kroatien auch bereits in Behandlung gewesen.
Die Antragsteller haben am 26.01.2022 Klage erhoben (2 A 26/22) und Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
Sie halten den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentieren, die Zuständigkeit für die Prüfung ihres Asylantrags sei auf Deutschland übergegangen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gebe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylantragsteller in Kroatien systemische Schwachstellen aufwiesen, die für den schwerstbehinderten, in jeder Hinsicht und jederzeit auf seine Mutter angewiesenen Antragsteller zu 2) eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich brächten. Die Antragsgegnerin habe nicht geklärt, ob der Antragsteller zu 2) nach der Überstellung in eine medizinische Notlage kommen könne.
Insbesondere habe die Antragsgegnerin versäumt zu prüfen, ob die Gefahr einer Kettenabschiebung und entsprechend einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots vorliege und ob zwingende Gründe für einen Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin lll-VO festzustellen seien. Es sei davon auszugehen, dass Kroatien „Push-backs“ auch bei Dublin-Rückkehrern durchführe. Für Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgelangten, beständen erhebliche Beschränkungen beim Zugang zu einem fairen Asylverfahren. Es gebe konsistente Berichte darüber, dass Personen, die aus anderen Mitgliedsstaaten nach Kroatien zurückgelangten, routinemäßig von dort nach Bosnien und Herzegowina und Serbien weitergeschoben würden, ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben werde, einen Asylantrag zu stellen.
Die Antragsteller beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie bezieht sich auf die Begründung des ablehnenden Bescheides und ergänzt, sofern Kroatien aktuellen Berichten zufolge illegal eingereiste Migranten nach Bosnien-Herzegowina oder Serbien zurückschiebe, betreffe dies keine Dublin-Rückkehrer.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronischen Asylakten der Antragsgegnerin verwiesen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 26.01.2022 ist zulässig und begründet.
Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da die Abschiebungsanordnung nicht unter § 38 Abs. 1 AsylG, sondern unter § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fällt, und die in der Hauptsache erhobene Klage damit nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung hat. Er ist auch innerhalb der Wochenfrist des § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der frühestens am 20.01.2022 erfolgten Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides gestellt worden.
Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse der Antragsteller an einem vorläufigen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung. Die Anordnung der Abschiebung nach Kroatien erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) und bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig.
Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung eines Antragstellenden in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hat die Abschiebung der Antragsteller nach Kroatien zu Unrecht angeordnet.
Die Zuständigkeit Kroatiens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wiederaufzunehmen. Aus dem Eurodac-Treffer vom 21.09.2021 wie auch aus dem Schreiben der kroatischen Behörden vom 26.11.2021 ergibt sich, dass die Antragsteller bereits vor der Einreise nach Deutschland in Kroatien Asylanträge gestellt und Kroatien noch während des laufenden Verfahrens verlassen haben. Kroatien hat dem am 15.11.2021 und damit gem. Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO innerhalb der Zwei-Monats-Frist nach der Eurodac-Treffermeldung gestellten Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes zugestimmt.
Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die Zuständigkeit Kroatiens aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist.
Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller indiesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen.
Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).
Für solche systemischen Schwachstellen im kroatischen Asylsystem spricht, dass es an der kroatischen EU-Außengrenze seit Langem und in erheblichem Umfang zu gewaltsamen „Push-backs“, dem Abdrängen von Asylbewerbern nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina, kommt. Auch Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina von Österreich, Italien oder Slowenien aus sind hinreichend belegt. Jedenfalls ohne individuelle Zusicherung von Seiten der kroatischen Behörden ist nicht sichergestellt, dass im Wege des Dublin-Verfahrens an Kroatien rücküberstellte Antragsteller nicht ebenfalls Opfer gewaltsamer Kettenabschiebungen nach Bosnien-Herzegowina werden und ihr Recht auf Asylantragstellung dadurch vereitelt werden wird.
Kroatien steht bei der Sicherung der EU-Außengrenzen gegen illegale Migration unter Druck des Rates der EU, denn eine effektive Grenzsicherung ist Voraussetzung für einen Beitritt zum visumsfreien Schengen-Raum, den das Land schon lange anstrebt (European Council on Refugees and Exiles, https://ecre.org/balkan-route-route-shifts-but-pushbacks-continue-croatian-schengen-accession-approved-amid-mounting-reports-of-violations-and-confusion-over-independent-border-monitoring-report/, 17.12.2021). Schon im März 2019 beschrieben Polizisten des Grenzschutzes in einem anonymen Beschwerdebrief an die kroatische Ombudsfrau die Anordnungen an die Einsatzkräfte: „Es gibt kein Asyl, nur in Ausnahmesituationen, wenn Medien vor Ort sind. Die Befehle des Chefs, der Exekutive und der Verwaltung lauten, alle [Flüchtlinge] ohne Papiere zurückzuschicken, keine Spuren zu hinterlassen, Geld zu nehmen, Handys zu zerbrechen, sie in [einen Fluss] zu werfen, oder für sich selbst zu nehmen, und Flüchtlinge gewaltsam nach Bosnien zurückzuschicken. […] Wenn sie von den anderen Polizeistationen hierher gefahren werden, sind die Leute erschöpft, manchmal werden sie verprügelt, und dann sind wir es, die sie in der Nacht fahren und mit Gewalt nach Bosnien zurückschieben.“ (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/complaint-by-croatian-police-officers-who-are-being-urged-to-act-unlawfully/, 17.07.2019). Die ehemalige Staatspräsidentin Kroatiens Kolinda Grabar-Kitarović antwortete im Juli 2019 auf die Frage nach gewaltsamem Vorgehen gegen Migranten an der bosnisch-kroatischen Grenze: „Natürlich ist ein wenig Gewalt nötig, wenn wir Push-backs durchführen.“ (The Guardian, https://www.theguardian.com/world/2019/jul/16/croatian-police-use-violence-to-push-back-migrants-says-president, 16.07.2019).
Eine Delegation des Europäischen Komitees des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe erfuhr bei seinen Ermittlungen in Kroatien im Sommer 2020 von zahlreichen Fällen körperlicher Misshandlungen ausländischer Staatsangehöriger durch kroatische Polizeibeamte. Der Bericht konnte erst mit einem Jahr Verspätung veröffentlicht werden, weil die kroatische Regierung und das Innenministerium lange versucht hatten, seine Veröffentlichung zu verhindern (04.12.2021, Inicijativa Dobrodošli!/ Welcome! Initiative, https://welcome.cms.hr/index.php/2021/12/04/objavljeno-izvjesce-odbora-vijeca-europe-za-sprjecavanje-mucenja-o-situaciji-u-hrvatskoj-koje-je-godinu-dana-stopirala-hrvatska-vlada-i-mup/#). Die Delegation berichtet darin von gewaltsamen Übergriffen, die in Form von Ohrfeigen, Tritten, Schlägen mit Knüppeln und anderen harten Gegenständen (z. B. Läufen von automatischen Waffen, Holzstöcken oder Ästen) auf verschiedene Körperteile ausgeübt wurden. Die von den befragten Migranten beschriebenen Misshandlungen erfolgten dabei sowohl zum Zeitpunkt des „Abfangens“ und der faktischen Festnahme auf kroatischem Hoheitsgebiet, d. h. mehrere, bis zu fünfzig Kilometer oder mehr von der Grenze entfernt, wie auch zum Zeitpunkt der „Umleitung“, d. h. des Zurückdrängens über die Grenze zu Bosnien-Herzegowina. In einer beträchtlichen Anzahl von Fällen wiesen die befragten Personen körperliche Verletzungen auf, die mit ihren Behauptungen, von kroatischen Polizeibeamten misshandelt worden zu sein, übereinstimmten. Schutzbedürftigen Personen wie Familien mit Kindern und Frauen habe die Polizei keine medizinische Nothilfe geleistet, sondern sie gewaltsam zur Grenze zurück transportiert. Zudem berichteten Migranten, sie seien auch anderen Formen schwerer und demütigender Misshandlungen ausgesetzt gewesen. Polizeibeamte hätten aus nächster Nähe Kugeln in ihre Richtung gefeuert, während sie am Boden lagen, oder hätten sie mit gefesselten Händen in den Fluss Korana geworfen. Schließlich seien sie ohne Schuhe und nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet, in einigen Fällen sogar völlig nackt, nach Bosnien-Herzegowina zurückgeschoben worden. Der Bericht erwähnte zudem, von Slowenien rückübernommene Migranten seien ebenfalls von diesen Maßnahmen betroffen (Europarat, CPT Report to the Croatian Government on the visit to Croatia from 10 to 14 August 2020, 03.12.2021, S. 9-10, 14-15).
Das Border Violence Monitoring Network berichtete im September 2020 ebenfalls von „Überstellungsketten“ von Italien über Slowenien und Kroatien bis nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina (Border Violence Monitoring Network, Illegal push-backs and border violence reports Balkan region, September 2020, S. 15). Österreichische Medien informierten über die Beteiligung österreichischer Behörden an Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina (Der Standard, https://www.derstandard.at/story/2000121752241/berichte-ueber-illegale-pushbacks-von-migranten-an-oesterreichischer-grenze, 16.11.2020). Auch die Asylum Information Database veröffentlichte Berichte der Initiative Are You Syrious (AYS), denen zufolge es sich bei fast 30 % der gewaltsamen „Push-backs“ im Jahr 2020 um Kettenabschiebungen von Italien oder Österreich über Slowenien und dann von Kroatien aus nach Bosnien-Herzegowina gehandelt habe. Dabei hätten 58 % der Betroffenen angegeben, dass sie erfolglos versucht hätten, in Kroatien Asyl zu beantragen, woraufhin man ihnen gesagt habe, dass es in Kroatien kein Asyl gebe (aida, Country Report: Croatia, 2020 update, S. 23). Dementsprechend äußerte sich auch der Menschenrechtskommissar des Europarates bereits in seiner Stellungnahme vom 22.12.2020 gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte besorgt darüber, dass auch für diejenigen Migranten, die aus anderen EU-Staaten nach Kroatien zurückgeführt würden, erhebliche Hindernisse für den Zugang zu einem fairen Asylverfahren bestünden (Council of Europe Commissioner for Human Rights, Third party intervention, EGMR No. 18810/19 u. a., 22.12.2020, Rn. 16).
Auch in jüngster Vergangenheit setzt sich die rechtswidrige Praxis der „Push-backs“ in Kroatien fort.
Das European Council on Refugees and Exiles registrierte die Durchführung von mehr als 30.000 „Push-backs“ aus Kroatien nach Bosnien-Herzegowina zwischen Juni 2019 und September 2021, bei denen Zeugen von exzessiver Gewaltanwendung und einem Muster von „invasiver Durchsuchung“ und sexueller Gewalt durch die Polizei berichteten. In etwa 45 % der aus Kroatien gemeldeten Fälle seien die Betroffenen gezwungen worden, sich zu entkleiden, oft gefolgt vom Betasten der Genitalien durch Polizeibeamte, dem Verbrennen der Kleidung oder dem Stoßen der halbnackten Personen in Flüsse. Allein etwa 7.200 Zurückschiebungen sollen zwischen Januar und September 2021 stattgefunden haben, dabei soll es in 25 % der Fälle zu exzessiven Gewaltanwendungen gekommen sein (ECRE, Balkan Route: Tens of Thousands Pushed Back from Croatia, 22.10.2021, https://ecre.org/balkan-route-tens-of-thousands-pushed-back-from-croatia-evidence-of-pushbacks-and-border-violence-in-romania-presented-to-un-rights-body-stonewalling-of-asylum-seekers-in-serbia-a/). Das Danish Refugee Council registrierte 4.905 Push-backs an der kroatisch-bosnischen Grenze zwischen Juli und November 2021. In 18 % aller Fälle seien Familien mit Kindern betroffen gewesen. Die Mehrheit der befragten afghanischen Migranten beklagte den Diebstahl oder die Zerstörung ihres Eigentums sowie missbräuchliche oder erniedrigende Behandlung durch die Polizeibeamten. Darüber hinaus berichtet die Organisation auch von Fällen, in denen illegale Migranten noch nach mehrtägigem Aufenthalt in Kroatien aufgegriffen und zurück an die Grenze verbracht wurden. Auch in diesem Bericht wurden Fälle von Kettenabschiebungen aus Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina dokumentiert (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 5, 12).
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte am 18.11.2021 (M. H. and others v. Croatia, Az. 15670/18 und 43115/18) über den Tod der sechsjährigen Afghanin Madina Hussiny, die nahe der kroatisch-serbischen Grenze von einem Zug erfasst worden war. Der Gerichtshof stellte fest, die kroatischen Behörden hätten es versäumt, eine wirksame Untersuchung der Umstände durchzuführen, die zum Tod des Mädchens geführt hätten, insbesondere des Vorwurfs ihrer Familienmitglieder, sie hätten zuvor die Grenze überquert, seien von kroatischen Polizisten aufgegriffen, zurücktransportiert und aufgefordert worden, über die Bahngleise nach Serbien zurückzulaufen, wo es sodann zu dem tödlichen Unfall gekommen sei. Darin liege eine Verletzung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Art. 2 EMRK (Recht auf Leben). Der EGMR verurteilte den kroatischen Staat dazu, den Angehörigen des Kindes eine Entschädigung zu zahlen.
Wesentliche Verbesserungen sind auch nicht feststellbar durch die Implementierung des kroatischen Grenzüberwachungsmechanismus im August 2021.
Diesen „Unabhängigen Mechanismus zur Überwachung des Verhaltens von Polizeibeamten des Innenministeriums im Bereich der illegalen Migration und des internationalen Schutzes“ setzte die kroatische Regierung erst nach jahrelanger Weigerung ein, obwohl der Mechanismus eine Bedingung für die bereits seit 2018 zur Grenzsicherung an Kroatien gezahlten 6,8 Mio. Euro an EU-Geldern war (Europäische Kommission, 20.12.2018, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/IP_18_6884). Der Mechanismus wird von der EU-Kommission im Rahmen der EMAS 2021-Finanzhilfe unterstützt. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen, u. a. Human Rights Watch und Amnesty International, zogen in einer gemeinsamen Erklärung in Zweifel, dass der Grenzüberwachungsmechanismus den Standards entspreche, die für seine Wirksamkeit und seinen Erfolg erforderlich seien (DRC, Human dignity lost at the EU’s borders, Dezember 2021, S. 17; Croatia/EU: Strengthen Border Monitoring System, 02.08.2021, https://www.hrw.org/news/2021/08/02/croatia/eu-strengthen-border-monitoring-system). Die Arbeitsversion des ersten Berichts des Grenzüberwachungsmechanismus bestätigte die Durchführung illegaler „Push-backs“ durch Polizeibeamte und kritisierte sie als Verletzung des Rechts auf Asylantragstellung sowie des Non-Refoulement-Prinzips (1st half-year report of the independent mechanism for monitoring the conduct of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/763/Working_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 13-14). In der finalen Version des Berichts ist hingegen nur noch von unerlaubten Abschreckungsmaßnahmen „in minenverdächtigen Gebieten in Einzelfällen“ die Rede, während alle übrigen Maßnahmen regelmäßig zulässig und insbesondere mit dem Schengener Grenzkodex vereinbar seien. Der Mechanismus beschränkt sich sodann im Wesentlichen darauf, den zuständigen Behörden zu empfehlen, eine interne Anweisung an Polizeibeamte zu erlassen, künftig nur noch schriftlichen Weisungen Folge zu leisten, und eine Sammlung von „good practices“ sowie ein Handbuchs zu erstellen (First semi-annual report of the independent oversight mechanism monitoring the actions of police officers of the ministry of the interior in the field of irregular migration and international protection June-December 2021, https://www.cms.hr/system/article_document/doc/764/Final_version_of_the_1st_IBMM_report.pdf, S. 15-16, 20-21).
In den vergangenen Jahren urteilten bereits mehrere europäische Gerichte über Kettenabschiebungen aus verschiedenen europäischen Ländern über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina.
Mit Urteil vom 01.07.2021 erklärte das Landesverwaltungsgericht Steiermark „Push-backs“ an der österreichischen Grenze, die in Kettenabschiebungen über Slowenien und Kroatien nach Bosnien-Herzegowina mündeten, für rechtswidrig (Az. LVwG 20.3-2725/2020). Entsprechend entschied bereits das ordentliche Gericht Roms am 18.01.2021 über „informelle Rückübernahmen“ von Italien nach Slowenien, die zu Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina führten (Az. 56420/2020, https://www.questionegiustizia.it/data/doc/2794/2021-700-senza-dati-sensibili.pdf). Am 17.07.2020 verurteilte auch der slowenische Verwaltungsgerichtshof Kettenabschiebungen von Slowenien über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina als Verstoß gegen das Non-Refoulement-Gebot (Border Violence Monitoring Network, https://www.borderviolence.eu/wp-content/uploads/Press-Release_Slovenian-Court-Ruling.pdf, 20.07.2020).
Darüber hinaus kam es auch bereits zu Gerichtsentscheidungen, in denen Dublin-Überstellungen nach Kroatien ausgesetzt wurden.
Das Bundesverwaltungsgericht der Schweiz hat mit Urteil vom 12.07.2019 ein Verfahren über die Dublin-Überstellung eines Asylbewerbers nach Kroatien an die Vorinstanz zurückverwiesen mit der Begründung, aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers über Misshandlungen durch die kroatischen Polizeibehörden und der Ländersituation in Kroatien sei umfassend zu prüfen, ob die Überstellung nach Kroatien in einer Kettenabschiebung resultieren könnte (Az. E-3078/2019, https://jurispub.admin.ch/publiws/download?decisionId=a7c0bc27-5103-4ac6-9a45-9dd1b0f272fa, bestätigt in Urteilen vom 12.02.2021, D-43/2021, und vom 08.01.2021, F-48/2021; ähnlich: IX. Zivilkammer des Gerichts von Genua (Italien), Beschluss vom 19.03.2019, N. 13280/2018, https://www.meltingpot.org/app/uploads/2019/05/annullamento_decreto_dublino.pdf). Mit Urteil vom 06.01.2022 (Az. F-5675/2021) bestätigte das schweizerische Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung erneut, und verwies die Entscheidung über die Rückführung eines afghanischen Asylbewerbers zurück an das Staatssekretariat für Migration. Das Gericht führte aus, die Behörde habe es versäumt, aktuelle Beobachterberichte zu beachten, in denen das Fortbestehen ernsthafter Probleme für Asylsuchende in Kroatien angeprangert werde, wenn es um den Zugang zum Verfahren gehe.
Die in Kroatien praktizierten „Push-backs“, Abschiebungen, ohne die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren zu erhalten, verstoßen gegen das Non-Refoulement-Prinzip. Dieses Prinzip ist verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Nach Rechtsprechung des EGMR liegt in der Zurückweisung eines Asylantrags zudem ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK, wenn der ausweisende Staat zuvor nicht prüft und bewertet, ob es infolge der Ausweisung zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung des Antragstellers kommen kann (EGMR, Urteil vom 14.03.2017 - 47287/15 -, beck-online Rn. 112 ff.). Ferner ist das Non-Refoulement-Gebot verankert in Art. 21 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 (Qualifikationsrichtlinie), der besagt, dass die Mitgliedstaaten den Grundsatz der Nichtzurückweisung in Übereinstimmung mit ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen achten. Hinzu kommen die regelmäßig mit den erzwungenen Rückführungen einhergehenden Gewaltakte, von Freiheitsentziehung über Körperverletzungen und herabwürdigende Behandlung von Migranten, die offenbar der Abschreckung dienen sollen. Darin liegt ein Verstoß gegen das in Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter und der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung.
Es kann entgegen der bisherigen Annahme vieler Verwaltungsgerichte (VG Hannover, Beschluss vom 31.01.2022 – 7 B 6223/21 –, juris Rn. 29; VG Stade, Beschluss vom 05.01.2022 – 3 B 1271/21 –, n. v.; VG Ansbach, Beschluss vom 20.12.2021 – AN 14 S 21.50254 –, juris Rn. 44; VG Chemnitz, Beschluss vom 10.12.2021 – 4 L 519/21. A –, juris Rn. 31; VG München, Beschluss vom 24.02.2021 – M 30 S 21.50066 –, juris Rn. 23) nicht davon ausgegangen werden, dass die dargestellten massiven Menschenrechtsverletzungen Dublin-Rückkehrer nicht betreffen.
Denn zu den zahllosen dokumentierten gewaltsamen und entwürdigenden Übergriffen und der Verweigerung des Rechts auf Asylantragstellung kam es nicht nur unmittelbar nach illegalen Grenzübertritten von Serbien oder Bosnien-Herzegowina aus, sondern auch in Fällen, in denen sich die Migranten bereits mehrere Tage im Landesinneren aufhielten, sogar dann, wenn sie bereits weit in andere EU-Länder wie Slowenien, Italien oder Österreich vorgedrungen waren und von dort aus zurückgeschoben wurden. Zwar liegen keine spezifischen Erkenntnismittel zum Verbleib von Dublin-Rückkehrern aus Deutschland vor, doch ist davon auszugehen, dass diese insbesondere angesichts der niedrigen Zahlen von den im Grenzgebiet tätigen Nichtregierungsorganisationen nicht separat erfasst werden. So wurden im ersten Halbjahr 2021 gerade einmal 19 Personen von Deutschland nach Kroatien abgeschoben (BT-Drs. 19/32290, S. 3), wovon Dublin-Rückkehrer nur einen Teil ausmachen dürften, während die kroatischen Behörden im gleichen Zeitraum mehrere Tausend „Push-backs“ durchführten. Im Jahr 2020 kam es zu 16.425 „Push-backs“ (Danish Refugee Council, Bosnia and Herzegowina Border Monitoring Monthly Snapshot, Dezember 2020, S. 7) bei 22 Dublin-Rücküberstellungen aus Deutschland im selben Zeitraum (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021).
Fraglich ist die Aufnahmebereitschaft Kroatiens auch deshalb, weil landesweit nur zwei Aufnahmeeinrichtungen (Hotel Porin und Kutina) mit insgesamt 700 Aufnahmeplätzen zur Verfügung stehen (Asylum Information Database, Types of Accomodation Croatia, 27.05.2021), von denen noch im Dezember 2020 lediglich 328 Plätze belegt waren (UNHCR, Croatia 2020 Annual Statistical Snapshot, 05.02.2021). Aus den genannten Erkenntnismitteln wird zudem ersichtlich, dass es sich bei den gewaltsamen Rückschiebungen nicht um eigenmächtige Übergriffe einzelner Polizeibeamter handelt, sondern dass das Abdrängen der Migranten nach Bosnien-Herzegowina entweder tatsächlich einer internen Weisungslage entspricht oder jedenfalls von den vorgesetzten Stellen nicht effektiv verhindert bzw. sanktioniert wird.
Während durch die vorliegenden Erkenntnismittel hinreichend belegt ist, dass Kroatien in systematischer Art und Weise menschenrechtswidrig gegen Migranten vorgeht, bestehen zugleich keine gesicherten Erkenntnisse darüber, dass Dublin-Rückkehrern aus Deutschland gegenüber anderen Asylbewerbern eine Vorzugsbehandlung zuteilwird. Dementsprechend bietet den Antragstellern auch die Rückführung nach Kroatien auf dem „regulären Weg“ keine Sicherheit, nicht zum Gegenstand von „Push-backs“ gemacht und nach Bosnien-Herzegowina rückgeführt zu werden, ohne dass sie vorher angehört würden oder dass ihnen ein wirksamer Rechtsschutz gegen die Entscheidung zur Verfügung stünde. Dies ist insbesondere auch nicht deshalb gewährleistet, weil die Antragsteller während ihres vorherigen 1,5-monatigen Aufenthalts in Kroatien Aufnahme in einem Flüchtlingslager gefunden haben. Es ist nicht erkennbar, aufgrund welcher Kriterien die kroatischen Behörden sich gerade den Antragstellern gegenüber aufnahmebereit zeigten, sodass auch nicht davon ausgegangen werden kann, dass dies bei einer Rückschiebung erneut der Fall sein wird. Angesichts zahlreicher Berichte über „Push-backs“ von Minderjährigen sowie der Schilderung der Antragstellerin zu 1), sie sei von kroatischen Polizisten verprügelt und ihre Papiere seien verbrannt worden, bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die Antragsteller gerade aufgrund ihrer Vulnerabilität mehr Rücksichtnahme erwarten können. Vielmehr hat die Antragstellerin zu 1) als Analphabetin und insbesondere in der permanenten Verantwortung für ihren schwerstbehinderten Sohn keine Möglichkeiten, sich gegen eine willkürliche Behandlung durch die kroatischen Behörden zur Wehr zu setzen.
Nicht entschieden zu werden braucht an dieser Stelle, ob eine Überstellung zulässig ist, wenn das Bundesamt aufgrund der bestehenden erheblichen Zweifel daran, dass für Dublin-Rückkehrer in Kroatien die Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens gewährleistet ist, eine individuelle Garantieerklärung von den kroatischen Behörden zur Sicherung einer adäquaten Aufnahme einholt. Da Schwierigkeiten bestehen dürften, nach einer Rückführung der Antragsteller noch zu kontrollieren, ob die getätigten Zusagen eingehalten werden, erscheint dies jedenfalls im Hinblick auf besonders vulnerable Betroffene wie den Antragsteller zu 2) problematisch.