Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 06.10.2023, Az.: 2 B 217/23

Aufnahmerichtlinie; Haft; Haftbedingungen; Inhaftierung; Minderjährige; minderjähriges Kind; vulnerable Personen; Systemische Mängel im Asylverfahren Lettlands wegen drohender Inhaftierung

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
06.10.2023
Aktenzeichen
2 B 217/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 37620
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2023:1006.2B217.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Es bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass lettische Gerichte bei der Entscheidung über die Inhaftierung von Asylantragstellern keine individualisierte Prüfung von Haftgründen sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durchführen und die besondere Schutzbedürftigkeit minderjähriger Asylsuchender nicht hinreichend berücksichtigen.

  2. 2.

    Asylsuchenden droht bei einer Rückführung nach Lettland im Rahmen des Dublin-Verfahrens (erneute) Inhaftierung aufgrund der Annahme von Fluchtgefahr.

  3. 3.

    Die Haftbedingungen in den Hafteinrichtungen für Asylbewerber in Lettland verstoßen gegen die EU-Aufnahmerichtlinie und die Anforderungen des EGMR aufgrund unzureichender Belüftung der Haftanstalten, fraglicher Einhaltung der Möglichkeiten zur Bewegung im Freien, der Beschränkung der Kontaktaufnahme von Asylbewerbern nach außen bzw. des Zugangs von NGOs und Rechtsbeiständen zu den Einrichtungen und der nicht kindgerechten Unterbringung minderjähriger Asylbewerber.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die angeordnete Abschiebung nach Lettland.

Sie sind iranische Staatsangehörige, persischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens. Der Antragsteller zu 1) stammt aus I-Stadt und die Antragstellerin zu 2) aus J-Stadt. Die 18-jährige Antragstellerin zu 3) und der 12-jährige Antragsteller zu 4) sind die Kinder des Antragstellers zu 1) und der Antragstellerin zu 2).

Der Antragsteller zu 1) besuchte im Iran die Schule bis zur zehnten Klasse und arbeitete sodann als Produktionsleiter in einer Schuhfabrik, zudem betrieb er ein eigenes Schuhgeschäft in K-Stadt. Die Antragstellerin zu 2) hat die Schule mit dem Abitur abgeschlossen und war danach Hausfrau. Die Familie lebte in zusammen in einer Eigentumswohnung in Teheran. Die Antragsteller verließen den Iran am 17.09.2022 und reisten von dort aus über Russland und Belarus zunächst nach Lettland, wo am 08.12.2022 einen Asylantrag stellten, über den bis heute nicht entschieden wurde. Am 22.03.2023 reisten sie weiter nach Deutschland und stellten am 29.03.2023 einen weiteren förmlichen Asylantrag bei der Antragsgegnerin.

In seiner persönlichen Anhörung am 11.04.2023 schilderte der Antragsteller zu 1), er habe mit seiner Familie den Iran verlassen, nachdem er in Konflikt mit der Sittenpolizei geraten sei. Er sei bereits vorbestraft gewesen, weil er im Jahr 2019 an regimekritischen Demonstrationen teilgenommen habe. Damals habe er eine Verpflichtungserklärung unterschreiben müssen, sich nicht mehr an Protesten zu beteiligen. Am 08.09.2022 sei seine Tochter in Teheran von der Sittenpolizei verhaftet und misshandelt worden, weil ihre Haare unter ihrem Kopftuch hervorgeschaut hätten und ihre Hose vermeintlich zu kurz gewesen sei. Er sei ihr mit seiner Frau zur Hilfe gekommen und habe sich mit den Polizisten gestritten. Daraufhin hätten ihn mehrere Beamte angegriffen und geschlagen. Passanten seien ihm zur Hilfe gekommen und er habe mithilfe eines Motorradfahrers zum Haus seines Bruders flüchten können. Seine Frau habe schließlich die Freilassung ihrer Tochter erwirkt, nachdem beide eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hätten. Doch die Polizei sei sodann zu ihnen nach Hause gekommen, um nach ihm zu suchen. Er habe damit gerechnet, hart bestraft, insbesondere inhaftiert und gefoltert zu werden. Deswegen habe er dem Besitzer eines Reisebüros bezahlt, um ihnen die Ausreise nach Russland zu ermöglichen. Dieselben Asylgründe habe er auch in Lettland vorgebracht. Die lettische Polizei habe seinen Reisepass beschlagnahmt und einbehalten. Die Antragstellerin zu 2) bestätigte in ihrer persönlichen Anhörung am Folgetag die Angaben ihres Ehemanns.

In seiner Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 11.04.2023 berichtete der Antragsteller zu 1), er wolle nicht nach Lettland zurückkehren. Zum einen hätten lettische Polizisten sie zweimal über die Grenze nach Belarus zurückgeschoben, obwohl die belarussische Polizei sie auch nicht wieder nach Belarus hineinlassen wollte. Beim ersten Mal hätten sie sich zunächst in einem Zelt in der Nähe der Grenze aufgehalten und seien am nächsten Tag zurück nach Belarus gebracht worden. Beim zweiten Versuch nach Lettland zu gelangen habe ihn ein lettischer Polizist mit einem Elektroschocker angegriffen. Schließlich seien sie in ein Camp gebracht und dort 70 Tage lang gegen ihren Willen festgehalten worden. Sie seien in einem kleinen Raum an einem schmalen Flur untergebracht gewesen und hätten den Flur nicht einmal verlassen dürfen, um an die frische Luft zu gehen. Für die Mahlzeiten seien sie von einem Polizisten abgeholt, in die Kantine und dann wieder zurück in ihr Zimmer gebracht worden. Es habe keinen Dolmetscher gegeben, dem sie ihre Anliegen hätten vortragen können. Einmal habe seine Frau versucht, sich mithilfe von Beruhigungsmitteln umzubringen und ein anderes Mal sei er, mutmaßlich wegen eines Infarkts, in Ohnmacht gefallen. Beide Male hätten sie keine medizinische Versorgung erhalten. Seine Frau, seine Tochter und er selbst hätten psychische Probleme von der Behandlung in dem lettischen Lager davongetragen.

Die Antragstellerin zu 2) bestätigte in ihrer Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 12.04.2023 die Angaben ihres Ehemanns und berichtete ergänzend, dass ihnen ihre Handys in dem Camp lediglich für 1,5 Stunden pro Tag ausgehändigt worden seien. Die hygienischen Bedingungen seien schlecht gewesen. Ihre Sehkraft und die ihrer Familienangehörigen habe darunter gelitten, dass die Wände in der gesamten Unterkunft gelb gestrichen gewesen seien. Sie seien depressiv geworden, weil sie sich in der Einrichtung nicht hätten bewegen können. Sie hätten nicht einmal die Fenster öffnen dürfen. Der Entscheider, der sie und ihren Mann über die Gründe für ihren Asylantrag angehört habe, habe ihnen gesagt, dass Lettland kein gutes Land für sie sei, weil die Menschen dort rassistisch seien. Auch die anderen Leute hätten nach der Freilassung aus dem Camp sofort das Land verlassen, weil man sie unter Druck gesetzt habe. Sie seien nach der Entlassung aus dem geschlossenen Camp in eine andere, gegenüberliegende Einrichtung verlegt worden, die sie hätten verlassen dürfen. Allerdings sei auch diese Einrichtung videoüberwacht gewesen. Sie und ihre Angehörigen litten heute noch unter Albträumen, weil sie in Lettland psychisch und körperlich gefoltert worden seien.

Aufgrund eines Eurodac-Treffers vom 23.03.2023, demzufolge die Antragsteller am 08.12.2022 einen Asylantrag bei der Regionalregierung der lettischen Stadt Daugavpils gestellt haben, stellte die Antragsgegnerin am 20.04.2023 ein Wiederaufnahmegesuch an die lettischen Behörden. Diese erklärten sich mit Schreiben vom 02.05.2023 zur Wiederaufnahme der Antragsteller bereit.

Mit Bescheid vom 15.08.2023, zugestellt am 22.08.2023, lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag der Antragsteller als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Lettland an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 18 Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass Lettland aufgrund der dort gestellten Asylanträge für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragsteller zuständig sei. Asylbewerber, deren Verfahren aufgrund der Dublin-Verordnung in Lettland geführt werden muss, erhielten dort ein reguläres Asylverfahren. Die geschlossene Einrichtung der Grenzpolizei für inhaftierte Ausländer bzw. abzuschiebende Personen in Daugavpils verfüge über ausgezeichnete materielle Bedingungen. Seitens der Insassen habe es keine Berichte über schlechte Behandlung gegeben. Stattdessen werde dort adäquate medizinische Behandlung angeboten und auf spezifische medizinische, psychologische, familiäre, altersmäßige und geschlechtsspezifische Bedürfnisse der Asylbewerber Rücksicht genommen. In der Regel würden Asylbewerber nach Antragstellung in das Aufnahmezentrum Mucenieki in der Nähe von Riga gebracht, wo sie alle grundlegenden Unterstützungsleistungen sowie psychosoziale und medizinische Betreuung erhielten.

Die Antragsteller haben am 29.08.2023 Klage erhoben (2 A 216/23) und Anträge im einstweiligen Rechtsschutz gestellt.

Sie halten den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentieren, dass sie mit ihren beiden minderjährigen Kindern 70 Tage lang inhaftiert worden seien, stelle einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar. Eine migrationsbedingte Inhaftierung dürfe nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Eine Inhaftierung zum Zwecke der Abschiebung könne nur im Zusammenhang mit einem Verfahren verhängt werden, das bereits eingeleitet worden sei und eine begründete Aussicht habe, innerhalb eines angemessenen Zeitrahmens durchgeführt zu werden. Eine routinemäßige oder automatische migrationsbedingte Inhaftierung sei per Definition willkürlich und daher illegal. Die Unterbringungsdauer von zwei Monaten könne in Lettland gerichtlich wiederholt verlängert werden. Die menschenrechtswidrige Behandlung der Antragsteller drohe sich bei einer Rücküberstellung nach Lettland zu wiederholen. Hinzu käme, dass die Antragsteller durch ihre Erlebnisse in Lettland hochgradig psychisch belastet seien.

Sie legten zwei in Lettisch verfasste Beschlüsse des Gerichts Daugavpils vom 15.12.2022 für den Antragsteller zu 1) und die Antragstellerin zu 2) vor, welche Grundlage für ihre Inhaftierung in der geschlossenen Einrichtung gewesen sein sollen.

In dem den Antragsteller zu 1) betreffenden Beschluss wird, ausweislich einer Übersetzung ins Deutsche mit dem Übersetzungsdienst DeepL, ausgeführt, der staatliche Grenzschutz von Daugavpils habe die Inhaftierung des Antragstellers zu 1) beantragt, nachdem dieser am 08.12.2022 einen Antrag in Farsi auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des Einwandererstatus in der Republik Lettland gestellt habe. Der Antragsteller zu 1) sei am 03.12.2022 festgenommen worden und seit dem 04.12.2022 in einer Haftanstalt des staatlichen Grenzschutzes untergebracht (lettisches Original: "gada 3. decembri Valsts robezsardzes Daugavpils parvaldes Daugavpils I kategorijas dienesta amatpersona no Valsts robezsardzes Daugavpils parvaldes Silenes robezapsardzibas nodalas amatpersonas parnema un aiztureja [Herr A.] Imigracijas likuma kartiba. 2022. gada 4. Decembri [Herr A.] tika ievietots Valsts robezsardzes Daugavpils parvaldes Daugavpils I kategorijas dienesta Aiztureto arzemnieku izmitinasanas centra "Daugavpils"."). Der Grund für den Asylantrag sei eine Bedrohung seines Lebens im Herkunftsland (lettisches Original: "lerosinajuma noradits, ka 2022. gada 8. decembri Valsts robezsardzes Daugavpils parvalde tika sanemts iesniegums farsi valoda par begLa vai altemativa statusa pieskirsanu Latvijas Republikä no Iranas Islama Republikas pilsona [Herr A.], dzimusa 1977. gada 21. septembri (tulkojums sanemts 2022. gada 12. decembri). Patveruma pieprasisanas motivs - draudi dzivibai mitnes zeme."). Die Grenzschutzbehörde sei der Auffassung, dass die Inhaftierung aufgrund von Artikel 13 Absatz 1 Nummer 2 und Artikel 16 Absatz 2 des Asylgesetzes gerechtfertigt sei (lettisches Original: "Valsts robezsardze uzskata, ka pastav Patveruma likuma 13. panta pirmas dalas 2. punkta un 16. panta 2. punkta noteiktie pamati [Herr A.] aizturesanai."). Bis heute habe weder eine persönliche Anhörung des Antragstellers zu 1) stattgefunden, noch seien alle für die Prüfung des Antrags und für eine ordnungsgemäße Entscheidung erforderlichen Informationen vorgelegt worden (lettisches Original: "Uz doto bridi nav veikta personiska intervija ar [Herr A.], ka ari nav iesniegta visa informacija, kas nepieciesama, lai izskatitu iesniegumu un pienemtu attiecigu lemumu.") Die Grenzschutzbehörde sei der Auffassung, dass eine persönliche Anhörung des Antragstellers zu 1) nur durchgeführt werden könne, wenn dieser in Haft genommen werde, da Fluchtgefahr bestehe (lettisches Original: "Valsts robezsardzes ieskata personisko interviju var veikt, tikai veicot [Herr A.] aizturesanu, jo ir iespejama vina begsana."). Der Antragsteller zu 1) habe die Möglichkeit gehabt, vor der Einreise in die Republik Lettland im ersten sicheren Land Schutz vor einer möglichen Bedrohung zu suchen oder bei der Grenzwache einen Asylantrag zu stellen, doch er habe diese Möglichkeit nicht genutzt (lettisches Original: "[Herr A.] bija iespeja pirmaja drosaja valsti sanemt aizsardzibu no iespejama apdraudejuma vai iesniegt iesniegumu par patverumu robezskerosanas vieta pirms iecelosanas Latvijas Republika, bet vins so iespeju neizmantoja."). Nach Angaben des staatlichen Grenzschutzes bestehe die Möglichkeit, dass der Antragsteller zu 1) die Republik Lettland verlassen werde, ohne eine Entscheidung der zuständigen Behörden in der Sache abzuwarten (lettisches Original: "Valsts robezsardzes ieskata pastav iespaja, ka [Herr A.] atstas Latvijas Republiku, nesagaidot kompetento iestazu lemumu pec butibas."). Nach Anhörung der Erklärungen des Grenzschutzes und des Antragstellers zu 1) und nach Auswertung des Aktenmaterials sei der Richter der Ansicht, dass es Gründe gebe, ihn für einen Zeitraum von bis zu zwei Monaten in Haft zu nehmen (lettisches Original: "Uzklausijis Valsts robezsardzes Daugavpils parvaldes parstaves un [Herr A.] paskaidrojumus, izvertejis lieta esosos materialus, tiesnesis atzist, ka ir pamats Personas aizturesanai uz laiku Iidz diviem menesiem.").

In dem die Antragstellerin zu 2) betreffenden Beschluss argumentiert das Gericht in derselben Art und Weise. In ihrem Fall ergänzt es, die Antragstellerin zu 2) habe angegeben, dass ihr Ziel entweder Frankreich oder Deutschland sei. Es könne daher davon ausgegangen werden, dass die Republik Lettland nur als Transitland genutzt werden sollte, um ihre Weiterreise in das Gebiet der Schengen-Staaten zu ermöglichen (lettisches Original: "Turklat [Frau A.] sava arzemnieces paskaidrojuma noradija, ka vinas ieplanotais galamerkis bija noklüt Francija vai Vacija. Lidz ar ko ir pamatoti uzskatit, ka Latvijas Republiku vina velejas izmantot tikai ka tranzitvalsti, ar merki nodrosinat savu talako virzibu Sengenas valstu teritorija.")

Für die Klägerin zu 3) und den Kläger zu 4) hat das Gericht nach Angaben der Antragsteller keine gesonderten Haftbeschlüsse erlassen. Sie seien lediglich in dem Protokoll über die Inhaftnahme erwähnt worden.

Auf Rückfrage der Einzelrichterin teilten die Antragsteller mit, dass sie im ersten Monat ihrer Inhaftierung im Lager Daugavpils untergebracht gewesen seien und danach im Lager Mucenieki. In beiden Lagern seien sie zu viert in einem 15 m2 großen Zimmer mit eigenem Bad untergebracht gewesen. In Daugavpils seien die Fenster vergittert gewesen und hätten nur mit Erlaubnis der Aufseher geöffnet werden dürfen. In Mucenieki seien die Fenster durch Alarmanlagen gesichert gewesen und hätten überhaupt nicht geöffnet werden können. In Daugavpils hätten sie sich nur in ihrem Zimmer und dem angrenzenden Flur aufhalten dürfen. Die Möglichkeit, an die frische Luft zu gehen, sei ihnen nur ein- oder zweimal in 30 Tagen gewährt worden. Auch in Mucenieki hätten sie das Gebäude nicht verlassen dürfen. Es habe dort ein sog. Spielzimmer für Kinder gegeben, welches jedoch lediglich ein kahler Raum ohne Spielzeug oder kindgerechte Einrichtung gewesen sei. Zudem habe es einen Raum mit einem 32-Zoll-Fernseher gegeben, der jedoch ständig überfüllt gewesen sei. Die anderen Räume seien in beiden Einrichtungen verschlossen und nicht zugänglich gewesen. In Daugavpils habe man ihnen zudem ihr einziges verbliebenes Handy, welches nicht bereits von den Grenzbeamten zerstört worden sei, abgenommen, und ihnen pro Tag lediglich für etwa 1,5 Stunden ausgehändigt, bevor sie es wieder hätten abgeben müssen. Sie hätten zwar von der Existenz medizinischen Personals in den Einrichtungen gewusst, hätten sich mit diesem aufgrund der Sprachbarriere und mangels eines Dolmetschers jedoch nicht verständigen können. Als die Antragstellerin zu 2) im Lager Mucenieki den Selbstmordversuch unternommen habe, habe der Antragsteller zu 1) versucht, über die installierten Videokameras auf sich aufmerksam zu machen, habe jedoch keine Hilfe erhalten.

Zu der Gerichtsverhandlung, welche zu ihrer Inhaftierung geführt habe, seien sie per Video zugeschaltet gewesen. Sie hätten dabei keine Gelegenheit bekommen, sich zu äußern, sondern seien lediglich über die Anordnung der Haft informiert worden. Auch ihre Anhörung zu den Asylgründen habe am 08.02.2023 per Videokonferenz stattgefunden. Im Anschluss daran seien sie die offene Unterbringungseinrichtung verlegt worden.

Die Antragsteller beantragen,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie verweist zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung und ergänzt, systemische Mängel des lettischen Asylsystems ergäben sich insbesondere nicht aus der Situation an der belarussisch-lettischen Grenze, weil die Antragsteller bei einer Rückführung im Rahmen des Dublin-Verfahrens diese Grenze nicht überqueren müssten. Zudem reisten sie in dem Fall legal nach Lettland ein, sodass ihnen keine erneute Inhaftnahme drohe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 29.08.2023 ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 VwGO statthaft, da die Abschiebungsanordnung nicht unter § 38 Abs. 1 AsylG, sondern unter § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fällt. Damit hat die in der Hauptsache erhobene Klage nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag ist auch innerhalb der Wochenfrist des § 34 Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der am 22.08.2023 erfolgten Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides gestellt worden.

Der Antrag ist auch begründet. Das Interesse der Antragsteller an einem vorläufigen Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland überwiegt das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung hinsichtlich Lettland. Die Anordnung der Abschiebung nach Lettland erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) und bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig.

Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 i. V. m. § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ordnet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Abschiebung eines Antragstellenden in den zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Die Antragsgegnerin hat die Abschiebung der Antragsteller nach Lettland zu Unrecht angeordnet.

Die Zuständigkeit Lettlands ergibt sich grundsätzlich aus Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Danach ist der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wiederaufzunehmen. Aus dem Eurodac-Treffer vom 23.03.2023 und dem vorgelegten Beschluss des lettischen Gerichts Daugavpils vom 15.12.2022 wie auch aus den Angaben der Antragsteller selbst ergibt sich, dass sie bereits vor der Einreise nach Deutschland in Lettland Asylanträge gestellt und Lettland noch während des laufenden Verfahrens verlassen haben, um weiter nach Deutschland zu reisen. Die lettischen Behörden haben dem am 20.04.2023 und damit gem. Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO innerhalb der Zwei-Monats-Frist nach der Eurodac-Treffermeldung gestellten Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes mit Schreiben vom 02.05.2023 zugestimmt.

Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die Zuständigkeit Lettlands aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist.

Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betrachtet eine Behandlung als "unmenschlich" i. S. d. mit Art. 4 GRC wortgleichen Art. 3 EMRK, wenn sie vorsätzlich erfolgt, stundenlang angewandt wird und entweder eine tatsächliche Körperverletzung oder intensives körperliches oder geistiges Leiden verursacht (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 220). Eine Behandlung gilt als "erniedrigend", wenn sie eine Person erniedrigt oder entwürdigt, indem sie ihre Menschenwürde missachtet oder herabsetzt oder Gefühle der Angst, der Beklemmung oder der Minderwertigkeit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen und physischen Widerstand einer Person zu brechen (EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 98; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 220). Es kann ausreichen, dass das Opfer in seinen eigenen Augen gedemütigt wird, wenn auch nicht in den Augen anderer. Schließlich ist die Frage, ob der Zweck der Behandlung darin bestand, das Opfer zu demütigen oder zu erniedrigen, zwar ein zu berücksichtigender Faktor, doch kann das Fehlen eines solchen Zwecks die Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK nicht endgültig ausschließen (EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 100; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 220).

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).

Sind die Antragsteller Kinder, ist zu berücksichtigen, dass sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind. Das gilt auch, wenn die Kinder als Asylbewerber von ihren Eltern begleitet werden. Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Asylbewerber müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht (EGMR, Urteil vom 04.11.2014 - 29217/12 (Tarakhel ./. Schweiz) -, beck-online Rn. 119; VG Bremen, Urteil vom 19.07.2022 - 6 K 1629/20 -, juris Rn. 28). Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind bereits eine ungebührende Härte darstellen (Nds. OVG, Beschluss vom 19.12.2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 25). Der durch Art. 3 EMRK vermittelte Schutz vor erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung kann bei Kindern aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse und Verletzlichkeit daher bereits in Situationen greifen, die bei Erwachsenen noch keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung darstellen muss (vgl. VG Bremen, Urteil vom 19.07.2022 - 6 K 1629/20 -, juris Rn. 28). Die Annahme einer Vulnerabilität setzt dabei nicht voraus, dass eine Familie mit Kleinstkindern (bis zu drei Jahren) betroffen ist (VG Hannover, Urteil vom 26.07.2022 - 2 A 1677/20 -, n. v.), sodass auch der 12 Jahre alte Antragsteller zu 4) besonderen Schutz benötigt und beanspruchen kann.

Systemische Mängel des lettischen Asylverfahrens ergeben sich daraus, dass Asylantragsteller einschließlich Dublin-Rückkehrern in Lettland damit rechnen müssen, ohne individualisierte Prüfung von Haftgründen für die Dauer ihres Asylverfahrens in geschlossenen Einrichtungen inhaftiert zu werden, in denen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden nicht angemessen gesichert sind.

Sowohl das Verfahren und die Anwendung der Voraussetzungen für die Inhaftnahme von Asylsuchenden durch die lettischen Behörden und Gerichte als auch der Haftvollzug stehen nicht im Einklang mit Unionsrecht und begründen in ihrer Gesamtheit nach summarischer Prüfung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC. Nach Art. 8 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie), darf Haft nicht allein wegen der Beantragung internationalen Schutzes, sondern nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung aus bestimmten Haftgründen, darunter auch Fluchtgefahr (Art. 8 Abs. 3 Buchst. b), angeordnet werden, wenn dies erforderlich und keine weniger einschneidende Maßnahme wirksam ist. Diese Regelung steht nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, nach denen ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur, weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält (EuGH, Urteil vom 30.06.2022 - C-72/22 PPU -, juris Rn. 93), s. auch Erwägungsgrund Nr. 20 der Dublin III-VO. Nach Art. 9 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie wird ein Antragsteller zudem für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind. Nach Art. 21 der Aufnahmerichtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie insbesondere Minderjährigen. Minderjährige dürfen nach Art. 11 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie nur im äußersten Falle in Haft genommen werden, und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können. Eine derartige Haft wird für den kürzestmöglichen Zeitraum angeordnet, und es werden alle Anstrengungen unternommen, um die in Haft befindlichen Minderjährigen aus dieser Haft zu entlassen.

In Lettland existieren zwei spezielle Hafteinrichtungen für ausländische Staatsangehörige, nämlich das Daugavpils Immigration Detention Centre und das Mucenieki Immigration Detention Centre. Beide Zentren werden vom Staatlichen Grenzschutz verwaltet, der dem Innenministerium unterstellt ist. Der allgemeine rechtliche Rahmen für den Freiheitsentzug von Ausländern im Rahmen des Ausländerrechts ist im Zuwanderungsgesetz von 2003 und im Asylgesetz von 2015 festgelegt.

Nach § 54 Abs. 1 des Zuwanderungsgesetzes kann ein Ausländer, der abgeschoben werden soll oder aufgrund eines Rückübernahmeabkommens zurückkehren muss, vom staatlichen Grenzschutz eigenmächtig bis zu zehn Tage in Haft genommen werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene das Abschiebungsverfahren vermeiden oder behindern will oder wenn Fluchtgefahr besteht. Eine Inhaftierung über zehn Tage hinaus muss von einem Gericht genehmigt werden, das die Haftdauer auf bis zu zwei Monate verlängern kann (§ 54 Absatz 2). Ist die Abschiebung innerhalb dieses Zeitraums nicht möglich, kann die Haft des Ausländers wiederholt bis zu einer Höchstdauer von sechs Monaten und unter bestimmten Umständen bis zu 18 Monaten verlängert werden (European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 16 f.). Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 2 des lettischen Asylgesetzes (abrufbar im Original unter https://likumi.lv/ta/id/278986-patveruma-likums, übersetzt mit DeepL-Übersetzer) kann ein Asylbewerber inhaftiert werden, wenn dies erforderlich ist und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Nach Art. 13 Abs. 2 wird die Notwendigkeit der Anwendung einer restriktiven Maßnahme (wie der Inhaftierung) unter Berücksichtigung der individuellen Situation und Umstände des Asylbewerbers beurteilt. Wenn die Umstände, die der restriktiven Maßnahme zugrunde lagen, nicht mehr bestehen oder das Asylverfahren abgeschlossen ist, wird die Maßnahme nach Art. 13 Abs. 3 aufgehoben. Art. 9 Abs. 6 des lettischen Asylgesetzes erlaubt auch die Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen in Hafteinrichtungen für Einwanderer. Nach Art. 16 des lettischen Asylgesetzes kann ein Asylbewerber vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 13 dieses Gesetzes in Gewahrsam genommen werden, wenn eine der folgenden Voraussetzungen für den Gewahrsam vorliegt: Es ist erforderlich, die Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylbewerbers festzustellen oder zu überprüfen (Nr. 1); es ist erforderlich, die Tatsachen festzustellen, auf die sich der Antrag stützt und die nur durch die Inhaftierung festgestellt werden können, insbesondere, wenn Fluchtgefahr besteht (die Person hat die Staatsgrenze ohne ersichtlichen Grund überschritten, sich der Grenzkontrolle entzogen, sich zuvor der Abschiebung entzogen, ihre Identität verheimlicht, falsche oder widersprüchliche Angaben gemacht, es liegen sonstige Tatsachen vor, die auf eine Fluchtgefahr hindeuten) (Nr. 2); es muss über das Recht des Asylbewerbers auf Einreise in die Republik Lettland entschieden werden (Nr. 3); es besteht Grund zu der Annahme, dass die inhaftierte Person im Rahmen des Ausweisungsverfahrens einen Antrag gestellt hat, um die Vollstreckung der Ausreiseanordnung oder der Entscheidung über die zwangsweise Ausweisung zu behindern oder unmöglich zu machen, und es wurde festgestellt, dass die betreffende Person nicht daran gehindert war, einen solchen Antrag früher zu stellen (Nr. 4); die zuständigen staatlichen Behörden (einschließlich des staatlichen Grenzschutzes) haben Grund zu der Annahme, dass der Asylbewerber eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt (Nr. 5); es wurde die Notwendigkeit eines Überstellungsverfahrens gemäß Artikel 28 der Verordnung Nr. 604/2013 festgestellt (Nr. 6).

Das lettische Recht sieht mithin zwar eine Einzelfallprüfung von Haftgründen vor. Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass lettische Gerichte nicht entsprechend der Vorgaben in Art. 13 und Art. 16 des lettischen Asylgesetzes eine individualisierte Prüfung der Haftgründe sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall durchführen.

So trugen die Kläger vor, dass im Vorfeld des Erlasses des Haftbeschlusses durch das Gericht Daugavpils zwar eine mündliche Verhandlung stattgefunden habe, der sie per Videokonferenz zugeschaltet gewesen seien, dass sie darin aber nicht zu Wort gekommen seien. Dafür, dass dies tatsächlich der Fall war, spricht, dass die vorgelegten Haftbeschlüsse in lettischer Sprache (ausweislich der Übersetzung mit DeepL-Übersetzer) keine Äußerungen der Antragsteller zur Frage der Inhaftierung enthalten. Dass das Vorbringen von Asylbewerbern von lettischen Gerichten nicht hinreichend gewürdigt wird, ermittelte auch Amnesty International. Befragte Asylsuchende gaben der NGO gegenüber an, dass die Richter bei Gerichtsverhandlungen ihre Behauptungen, sie hätten Gewalt erlitten oder seien gezwungen worden, Dokumente zu unterschreiben, die sie nicht unterschreiben wollten oder nicht verstanden hätten, ignoriert oder abgewiesen hätten (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, S. 7). Einer der Befragten berichtete, dass die lettischen Behörden ihm im Rahmen von Gerichtsverhandlungen, in denen über die Verlängerung seiner Haft entschieden worden sei, keine wirksame Beteiligung ermöglicht hätten. Er habe den Eindruck gehabt, dass das Ergebnis der Entscheidung, seine Haft um zwei Monate zu verlängern, bereits vor der Anhörung festgestanden habe. Man habe ihm untersagt sich zu äußern oder einen Anwalt zu konsultieren. In einem Fall sei die Internetverbindung unterbrochen worden und nach der Wiederherstellung der Verbindung habe der Richter bereits die Entscheidung verkündet (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, S. 47).

Neben der ausbleibenden Würdigung des jeweiligen Vortrags der Asylsuchenden begründen die lettischen Gerichte die Inhaftnahme ferner offenbar häufig nur mit pauschalen Annahmen. Die NGO Respect - Protect - Fulfill vertritt mehrere von einer Inhaftierung im geschlossenen Aufnahmezentrum Daugavpils betroffene Familien vor dem EGMR (H.M.M. and Others ./. Latvia, Az. 42165/21). Nach Angaben eines Vertreters der NGO verwendete das letztinstanzliche, lettische Gericht in allen sechs von der Organisation untersuchten Fällen zur Rechtfertigung der Inhaftierung von Asylbewerber die gleichlautende Formulierung "es [sei] offensichtlich, dass sein endgültiges Ziel nicht die Republik Lettland [gewesen sei]". Diese Formulierung sei nie durch eine Analyse der persönlichen Umstände des Migranten gestützt worden (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, S. 46). Auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen bezeichnete die Inhaftierung von Asylsuchenden, darunter Überlebende von Folter oder sexueller Gewalt, Kinder und schwangere Frauen, durch lettische Behörden als willkürlich. Einige Menschen hätten versucht, Selbstmord zu begehen, weil sie mehrere Monate lang ohne konkreten Grund eingesperrt gewesen seien (Médecins sans Frontières (MSF), 15.11.2022, https://www.msf.org/serious-medical-issues-caused-unlawful-detention-migrants-latvia). Dementsprechend begründete auch das lettische Gericht Daugavpils die Inhaftierung der Antragsteller mit dem Haftgrund der Fluchtgefahr (wohl basierend auf Art. 13 Abs. 2 Nr. 2 des lettischen Asylgesetzes), rechtfertigte diese für den Antragsteller zu 1) jedoch ausschließlich mit dem illegalen Grenzübertritt und für die Antragstellerin zu 2) mit ihrer Aussage, dass ihr Ziel entweder Frankreich oder Deutschland sei. Für die Antragstellerin zu 3) und den Antragsteller zu 4) erfolgte keine eigene Prüfung von Haftgründen. Darüber hinaus lassen sich beiden Beschlüssen keinerlei Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und etwaigen milderen Mitteln wie etwa der Hinterlegung einer Sicherheitsleistung oder der Zuweisung eines Aufenthaltsorts unter Verfügung einer Meldeauflage entnehmen. Ebenso berücksichtigte das Gericht Daugavpils nicht die Minderjährigkeit und damit die besondere Schutzbedürftigkeit der Antragstellerin zu 3) (damals noch 17 Jahre alt) und des Antragstellers zu 4).

Gegen eine Inhaftierung aufgrund einer unzureichenden Prüfung von Haftgründen und Verhältnismäßigkeit können sich Asylbewerber in Lettland zudem nicht effektiv mit Rechtsmitteln zur Wehr setzen. Eine Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (CPT) ermittelte im Jahr 2022, dass in den letzten zwei Jahren inhaftierten irregulären Migranten und Asylbewerbern in keinem einzigen Fall die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre ursprüngliche Inhaftierung oder Ausweisungsverfügung mit Hilfe eines Rechtsvertreters anzufechten, entweder von Amts wegen oder nach eigener Wahl (European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment (CPT), Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 24).

Den Antragstellern droht in Lettland erneute Inhaftierung, ungeachtet der besonderen Schutzbedürftigkeit des minderjährigen Antragstellers zu 4) und auch trotz ihres zwischenzeitlichen Aufenthalts in Deutschland bzw. einer (legalen) Wiedereinreise im Rahmen des Dublin-Verfahrens. Denn die Anknüpfungspunkte für die Inhaftierung der Antragsteller von Dezember 2022 bis Februar 2023 waren zum einen ihre mangels gültigen Visums illegale Einreise nach Lettland im Dezember 2022 und zum anderen die vom Gericht Daugavpils angenommene Fluchtgefahr. Beide Umstände bestehen nach wie vor, denn durch die - ebenfalls illegale - Weiterreise nach Deutschland und ihre Rückführung nach Lettland wird ihr ehemals illegaler Aufenthalt nicht nachträglich legalisiert, sondern lediglich der vor der Weiterreise bestehende Zustand wiederhergestellt (ebenso zu Litauen: VG Hannover, Beschluss vom 25.08.2022 - 12 B 6475/21 -, juris Rn. 14). Durch ihre Ausreise nach Deutschland während des laufenden Asylverfahrens dürften die Antragsteller zudem die Einschätzung des lettischen Gerichts, es bestehe Fluchtgefahr, bestätigt haben. Folglich können sie nicht damit rechnen, noch einmal in einer offenen Einrichtung untergebracht zu werden, welche sie jederzeit wieder gen Deutschland verlassen könnten. Dass auch Dublin-Rückkehrer in Lettland in geschlossenen Einrichtungen inhaftiert werden, ergibt sich zudem aus den Recherchen von Amnesty International. Die NGO stellte fest, dass von den elf Asylsuchenden, welche während ihres Besuchs im Unterbringungszentrum für inhaftierte Ausländer in Mucenieki untergebracht waren, zwei im Rahmen der Dublin-Verordnung von Deutschland nach Lettland zurückgeschickt worden waren (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, S. 45).

Die Haftbedingungen in den Hafteinrichtungen für ausländische Staatsangehörige in Lettland lassen indes zum Teil erhebliche Mängel erkennen. Diese bestehen insbesondere in unzureichender Belüftung der Haftanstalten, fraglicher Einhaltung der Möglichkeiten zur Bewegung im Freien, der Beschränkung der Kontaktaufnahme von Asylbewerbern nach außen bzw. des Zugangs von NGOs und Rechtsbeiständen zu den Einrichtungen und der nicht kindgerechten Unterbringung minderjähriger Asylbewerber. Die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Garantien der Aufnahmerichtlinie werden in den beiden geschlossenen Unterbringungseinrichtungen für Asylbewerber in Lettland derzeit nicht eingehalten.

Nach Art. 3 EMRK hat der Staat dafür zu sorgen, dass die Haftbedingungen eines Asylbewerbers mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind, dass die Art und Weise des Vollzugs der Maßnahme die Gefangenen keinem Leid oder keiner Härte aussetzt, die über das unvermeidliche Maß an Leiden, das mit der Haft verbunden ist, hinausgeht, und dass ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden in Anbetracht der praktischen Erfordernisse der Haft angemessen gesichert sind (EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 99; EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 221; EGMR, Urteil vom 10.01.2012 - 42525/07 und 60800/08 (Ananyev u.a. ./. RussIand) -, HUDOC Rn. 141; vgl. auch EuGH, Urteil vom 18.04.2023 - C-699/21 -, juris Rn. 40). Die Beurteilung des Vorliegens des notwendigen Mindestmaßes an Schwere hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Inhaftierung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 219, EGMR, Urteil vom 06.03.2001 (Dougoz ./. Griechenland) -, HUDOC Rn. 44; EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 97). Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür, der Unterlegenheit und der Angst hervor und beeinträchtigen sie die Würde des Betroffenen, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Asylbewerber aufgrund ihrer Erfahrungen von Verfolgung und Flucht häufig besonders verletzlich sind (EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30696/09 (M.S.S. ./. Belgien u. Griechenland) -, HUDOC Rn. 232 f.).

In Fällen, in denen Inhaftierte über einen ausreichenden persönlichen Freiraum, d. h. regelmäßig mindestens 3 bis 4 m2 pro Person, verfügen, sind andere Aspekte der physischen Haftbedingungen für die Beurteilung der Einhaltung des Art. 3 EMRK von Bedeutung. Dazu gehören insbesondere der Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht oder natürliche Luft, die Verfügbarkeit von Belüftung, angemessene Heizungseinrichtungen, die Möglichkeit, die Toilette privat zu benutzen, und die Einhaltung der grundlegenden sanitären und hygienischen Anforderungen (EGMR, Urteil vom 10.01.2012 - 42525/07 und 60800/08 (Ananyev u.a. ./. RussIand) -, HUDOC Rn. 149; EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 106). Grundlegend für den Schutz des Wohlbefindens der Gefangenen ist, dass ausnahmslos allen Gefangenen täglich mindestens eine Stunde Bewegung an der frischen Luft zugestanden wird, vorzugsweise im Rahmen eines umfassenderen Programms von Aktivitäten außerhalb der Zelle (EGMR, Urteil vom 10.01.2012 - 42525/07 und 60800/08 (Ananyev u.a. ./. RussIand) -, HUDOC Rn. 150; EGMR, Urteil vom 20.10.2016 - 7334/13 (Mursic ./. Kroatien) -, HUDOC Rn. 133).

Auch nach Art. 10 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie müssen in Haft genommene Antragsteller die Möglichkeit haben, sich an der frischen Luft aufzuhalten. Die Mitgliedstaaten tragen nach Art. 10 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie dafür Sorge, dass Familienangehörige, Rechtsbeistand oder Berater und Personen, die von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannte einschlägig tätige Nichtregierungsorganisationen vertreten, unter Bedingungen, die den Schutz der Privatsphäre garantieren, mit Antragstellern Verbindung aufnehmen und sie besuchen können. Der Zugang zu der Hafteinrichtung darf nur dann eingeschränkt werden, wenn dies nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts objektiv für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Verwaltung der Hafteinrichtung erforderlich ist und der Zugang dadurch nicht wesentlich behindert oder unmöglich gemacht wird. Die Gesundheit, auch die psychische Gesundheit, der in Haft genommenen schutzbedürftigen Antragsteller ist nach Art. 11 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie ein vorrangiges Anliegen der nationalen Behörden. Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass bei in Haft befindlichen schutzbedürftigen Personen regelmäßige Überprüfungen stattfinden und diese Personen in angemessener Weise unterstützt werden, wobei der besonderen Situation der Personen, einschließlich ihrer Gesundheit, Rechnung getragen wird. Minderjährige sind nach Art. 11 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie in für sie geeigneten Unterkünften unterzubringen. Das Wohl des Minderjährigen nach Maßgabe von Artikel 23 Absatz 2 zu berücksichtigen ist ein vorrangiges Anliegen der Mitgliedstaaten. In Haft befindliche Minderjährige müssen Gelegenheit zu Freizeitbeschäftigungen einschließlich altersgerechter Spiel- und Erholungsmöglichkeiten erhalten.

Die beschriebenen Anforderungen werden weder im Daugavpils Immigration Detention Centre noch im Mucenieki Immigration Detention Centre hinreichend zuverlässig gewahrt.

Eine Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (CPT) besuchte im Mai 2022 mehrere Hafteinrichtungen in Lettland. Während des Besuch des CPT entsprachen sowohl in Daugavpils als auch in Mucenieki die materiellen Bedingungen in den Wohneinheiten im Allgemeinen einem guten Standard. Jede Wohneinheit bestand aus mehreren Mehrbettzimmern, die sich in einem guten Zustand befanden, reichlich Zugang zu natürlichem Licht und ausreichender künstlicher Beleuchtung hatten und gut belüftet und sauber waren. Sie waren auch angemessen möbliert (Betten mit komplettem Bettzeug, abschließbare Schränke, ein Kühlschrank und ein vollständig abgetrennter Sanitärbereich mit einer Toilette und einer Dusche). In beiden Einrichtungen galt für die ausländischen Staatsangehörigen ein System der offenen Tür, bei dem sie sich innerhalb ihrer Wohneinheit frei bewegen konnten. Sie konnten sich den ganzen Tag über in Gemeinschaftsräumen, die mit einem Fernsehgerät ausgestattet waren, und in einem Esszimmer mit Küchenzeile treffen, Brettspiele spielen und Bücher aus der Bibliothek ausleihen (CPT, Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 19).

Dem widerspricht die Darstellung ihrer Haftbedingungen durch die Antragsteller. Diese berichteten, sofern es in Daugavpils Gemeinschaftsräume gegeben hätte, seien diese jedenfalls verschlossen und für die Inhaftierten nicht zugänglich gewesen. In Mucenieki habe es lediglich einen Raum mit einem Fernseher gegeben, der jedoch stets überfüllt gewesen sei. Auch hätten sie die Fenster der Einrichtung in Daugavpils nur mit Einwilligung der Aufseher und in Mucenieki überhaupt nicht öffnen dürfen. Diese Darstellung der Antragsteller stimmt indes überein mit zahlreichen dokumentierten Beschwerden von Inhaftierten bei dem lettischen Ombudsmann über die unzureichende Belüftung der Haftanstalten im September 2022 (US Department of State (USDOS), 2022 Country Report on Human Rights Practices: Latvia, 20.04.2023, S. 2). Das US Department of State stellte ferner fest, dass Häftlinge in den lettischen Haftanstalten Vergeltungsmaßnahmen befürchteten, wenn sie sich über die Bedingungen in der Einrichtung beschwerten oder Missstände meldeten (US Department of State (USDOS), 2022 Country Report on Human Rights Practices: Latvia, 20.04.2023, S. 2). Die Einzelrichterin hat aufgrund dessen Zweifel daran, dass die Beobachtungen des CPT während des angekündigten Besuchs in den Hafteinrichtungen den dortigen Alltag exemplarisch abbilden. Es ist davon auszugehen, dass die Angestellten im Rahmen eines solchen Kontrolltermins auf restriktive Praktiken wie das von den Antragstellern beschriebene Verbot, die Fenster der Einrichtung zu öffnen, oder das Verschließen von Türen verzichten. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass die Haftbedingungen in Daugavpils und Mucenieki im Mai 2022 noch besser waren als zum Zeitpunkt der Inhaftierung der Antragsteller und auch besser als zum Entscheidungszeitpunkt. Denn im Jahr 2022 war die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen noch in Lettland tätig und unterstützte Menschen, die in den Einwanderungsgefängnissen Mucenieki und Daugavpils inhaftiert waren. Sie bot den Inhaftierten psychologische und psychosoziale Unterstützung sowie Hygienesets, Lebensmittel, Bücher, Brettspiele und Schreibwaren sowie finanzielle Hilfe. Im Dezember 2022, als auch die Antragsteller inhaftiert worden, stellte die Organisation ihre Aktivitäten jedoch bereits wieder ein (Médecins sans Frontières (MSF), https://www.msf.org/latvia).

Das CPT stellte bei seinem Besuch im Mai 2022 ferner fest, dass die internen Regeln für Unterbringungseinrichtungen für inhaftierte Ausländer und Asylbewerber vorsahen, dass inhaftierte ausländische Staatsangehörige Anspruch auf mindestens zwei Stunden Bewegung im Freien pro Tag haben. Das Mucenieki Immigration Detention Centre verfügte über zwei getrennte Höfe, einen für männliche Erwachsene und einen für Familien und Kinder, zu denen die Ausländer zwei Stunden pro Tag und in der Regel viel länger Zugang hatten. Die Abschiebungshafteinrichtung Daugavpils verfügte auch über zwei Bereiche für Bewegung im Freien. Aus der Prüfung einschlägiger Aufzeichnungen und Gesprächen mit Ausländern ermittelte das CPT jedoch, dass der Freigang nicht jeden Tag gewährt wurde und in der Regel nur bis zu einer Stunde dauerte (CPT, Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 19 f.). Auch diesen Feststellungen widersprechen die Antragsteller mit ihren Schilderungen, in Daugavpils hätten sie nur ein- oder zweimal in 30 Tagen an die frische Luft gehen dürfen und in Mucenieki überhaupt nicht. Was die Gewährung von Freigang an der frischen Luft angeht, so existieren nach Kenntnis der Einzelrichterin neben dem CPT-Bericht keine zuverlässigen und aktuellen Erkenntnismittel. Ärzte ohne Grenzen erwähnte in einem Bericht lediglich, dass ein Junge in einem der geschlossenen Aufnahmezentren ihnen mitgeteilt habe, dass er nur wenige Augenblicke am Tag in dem umzäunten Außenbereich spielen dürfe und dass die Aufseher die Minuten zählten (Médecins sans Frontières (MSF), 18.11.2022, https://msf.lu/en/news/press-releases/serious-medical-issues-caused-by-unlawful-detention-of-migrants-in-latvia). Aufgrund dessen sieht die Einzelrichterin es zumindest als offen an, ob die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs, ausnahmslos allen Gefangenen müsse täglich mindestens eine Stunde Bewegung an der frischen Luft zugestanden werden, in den Hafteinrichtungen für Ausländer in Lettland zuverlässig eingehalten wird.

Dagegen bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass Asylsuchende in den lettischen Hafteinrichtungen in einer Art und Weise überwacht und zugleich von der Außenwelt und damit von notwendigen Dienstleistungen wie medizinischer und rechtlicher Betreuung isoliert werden, die gegen die Vorgaben der Aufnahmerichtlinie verstößt.

Ärzte ohne Grenzen appellierte im November 2022 an die lettischen Behörden, die rechtswidrige und willkürliche Inhaftierung von Migranten und Asylbewerbern in Lettland unverzüglich zu beenden, weil diese schwerwiegende Folgen für deren psychische und physische Gesundheit habe. Sowohl die Zentren in Mucenieki als auch in Daugavpils würden stark videoüberwacht, was die Privatsphäre der Menschen erheblich einschränke. Der staatliche Grenzschutzdienst konfisziere persönliche Mobiltelefone bei der Ankunft und schränke so den Zugang der Menschen zur Kommunikation mit ihren Familien und sozialen Netzwerken außerhalb der Zentren ein. Der Mangel an externer Kommunikation beschränke auch ihren Zugang zu Informationen und Unterstützung, was zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit und einer Verschlechterung ihres Wohlbefindens und ihres Schutzes beitrage (Médecins sans Frontières (MSF), 15.11.2022, https://www.msf.org/serious-medical-issues-caused-unlawful-detention-migrants-latvia). Im Dezember 2022 beendete die Organisation sodann ihren Einsatz in Lettland mit der Begründung, dass die Behörden ihnen keinen uneingeschränkten Zugang zu den Patienten gewährten, die ihren Mitarbeitern eine Behandlung im Einklang mit der medizinischen Ethik ermöglichen würde (Médecins sans Frontières (MSF), https://www.msf.org/latvia). Die Beendigung des Einsatzes von Ärzte ohne Grenzen ist auch deswegen beunruhigend, weil jedenfalls in der Hafteinrichtung in Daugavpils schon zum Zeitpunkt des Besuchs des CPT Schwierigkeiten bei der Kommunikation mit dem medizinischen Personal der Einrichtung aufgrund von Sprachbarrieren bestanden. Die Prüfung der Krankenakten durch das CPT ergab ferner, dass das medizinische Personal der Einrichtung in mehreren Fällen den Anträgen der Inhaftierten auf Hinzuziehung eines Facharztes nicht nachkam (CPT, Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 19 f.). Dass ein Austausch mit dem medizinischen Personal in den Hafteinrichtungen mangels Dolmetscher nicht möglich gewesen sei und sie auch in Notsituationen keine medizinische Hilfe erhalten hätten, bestätigten auch die Antragsteller.

Die Isolation der Asylsuchenden beschränkt jedoch nicht nur ihren Zugang zu NGOs und medizinischer sowie psychologischer Betreuung, sondern auch zu einem Rechtsbeistand. Das CPT stellte bei seinem Besuch in der Hafteinrichtung in Daugavpils fest, dass erhebliche Hindernisse bei der Kommunikation der Inhaftierten mit ihren Anwälten bestanden, dies zum einen aufgrund der auf 15 bis 60 Minuten pro Tag beschränkten Nutzung von Mobiltelefonen, zum anderen aufgrund der Limitierung der zulässigen Zahl von Anwaltsbesuchen. Es sei lediglich ein gewisser rechtlicher Beistand per Telefon vom Lettischen Zentrum für Menschenrechte, einer NGO, geleistet worden, deren Vertreter inhaftierte Ausländer bei ihren Einwanderungs- und Asylverfahren auf Pro-bono-Basis unterstützten (CPT, Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 24). Die unzureichende rechtliche Betreuung ist umso verheerender, als Amnesty International bei seinen Recherchen in Lettland ermittelte, dass in den geschlossenen Haftzentren Daugavpils und Mucenieki untergebrachte Asylbewerber offenbar genötigt oder mittels Täuschung dazu bewegt wurden, Papiere über ihre Einwilligung in eine freiwillige Rückkehr ins Herkunftsland zu unterzeichnen (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, S. 7). In Mucenieki erhielt die Delegation des CPT zwar keine Beschwerden von Asylsuchenden wegen unzureichendem Zugang zu ihrem Rechtsbeistand (CPT, Report to the Latvian Government on the periodic visit to Latvia, 11.07.2023, S. 24), doch in welchem Lager die Antragsteller bei einer Rückführung nach Lettland inhaftiert werden würden, ist vollkommen offen.

Schließlich sind die Haftbedingungen in den beiden geschlossenen Einrichtungen für Ausländer in Lettland jedenfalls dem nur 12-jährigen Antragsteller zu 4) nicht zumutbar. Ärzte ohne Grenzen berichtete während seiner Tätigkeit in den lettischen Hafteinrichtungen, dass die Kinder, die dort in Gewahrsam gehalten würden, in ihrer psychischen Entwicklung ernsthaft gefährdet seien und oft Anzeichen einer schweren Beeinträchtigung zeigten (Médecins sans Frontières (MSF), 15.11.2022, https://www.msf.org/serious-medical-issues-caused-unlawful-detention-migrants-latvia). Nach der Darstellung der Antragsteller fehlte es zudem in beiden Hafteinrichtungen an altersgerechten Spiel- und Erholungsmöglichkeiten für den Antragsteller zu 4). Das Spielzimmer in Mucenieki hat ausweislich ihrer Schilderungen und der vorgelegten Videoaufnahme, die eine Sprossenwand als einziges Spielgerät, im Übrigen nur kahle Wände und leere Regale zeigt, eher "Alibifunktion".

Nicht entschieden zu werden braucht an dieser Stelle, ob eine Überstellung zulässig ist, wenn das Bundesamt aufgrund der bestehenden Anhaltspunkte dafür, dass Dublin-Rückkehren einschließlich Minderjährigen in Lettland eine Inhaftierung aufgrund nur unzureichender Prüfung und unter mangelhaften Vollzugsbedingungen droht, eine individuelle Garantieerklärung von den lettischen Behörden zur Sicherung einer adäquaten Aufnahme einholt. Da Schwierigkeiten bestehen dürften, nach einer Rückführung der Antragsteller noch zu kontrollieren, ob die getätigten Zusagen eingehalten werden, erscheint dies jedenfalls im Hinblick auf besonders vulnerable Betroffene wie den Antragsteller zu 4) problematisch.