Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 08.02.2024, Az.: 2 A 106/24

Armut; Frauen; Obdachlosigkeit; Systemische Schwachstellen; Verelendung; Systemische Mängel im Asylsystem Italiens

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
08.02.2024
Aktenzeichen
2 A 106/24
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2024, 12542
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGBRAUN:2024:0208.2A106.24.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Geflüchteten droht in Italien nach wie vor eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit (Fortsetzung VG Braunschweig, Urteil vom 09.05.2023 - 2 A 277/22 -, juris).

  2. 2.

    Dublin-Rückkehrer stehen beim Zugang zum Asylverfahren und zur Unterbringung in Italien vor denselben Problemen wie andere Asylbewerber.

  3. 3.

    Im Jahr 2023 wurden die für die Registrierung von Asylanträgen zuständigen Questuras mehrfach von italienischen Zivilgerichten verurteilt, nachdem sie Asylsuchenden monatelang den Zugang zum Verfahren verwehrt hatten.

  4. 4.

    Dass Asylbewerber während ihres vorigen Aufenthalts in Italien in einem Camp untergebracht waren, garantiert ihnen nicht, erneut Aufnahme in eine Erstaufnahmeeinrichtung zu finden. Art. 23 des Aufnahmeerlasses, der der Präfektur den Entzug der Aufnahmebedingungen ermöglicht, findet nach Angaben des italienischen Innenministeriums auch auf Dublin-Rückkehrer Anwendung.

  5. 5.

    Frauen, insbesondere ausländische Frauen, sind auf dem italienischen Arbeitsmarkt erheblich benachteiligt. Bei den in Italien lebenden Ausländern ist die Wahrscheinlichkeit, von absoluter Armut betroffen zu sein, mehr als viermal so hoch wie bei Inländern.

  6. 6.

    Obdachlose Geflüchtete wurden in Italien im Jahr 2023 mehrfach Opfer von Gewalttaten und hunderte obdachlose Menschen starben an Unterkühlung und unbehandelten Krankheiten.

  7. 7.

    Notschlafstellen für die Nacht sind in Italien keine Unterkünfte, welche die elementaren Bedürfnisse von Geflüchteten erfüllen könnten.

  8. 8.

    Die italienische Regierung behindert und vereitelt weiterhin gezielt den Zugang von Geflüchteten zum Asylverfahren in der EU, zuletzt durch die Initiierung eines Abkommens der EU-Kommission mit Tunesien zur Eindämmung irregulärer Migration und den Abschluss eines weiteren Abkommens mit Albanien.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig durch die Beklagte und die angeordnete Abschiebung nach Italien.

Sie ist irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und muslimischen Glaubens aus G-Stadt.

Die Klägerin verließ den Irak am 07.04.2023 und reiste über die Türkei und Italien am 24.05.2023 nach Deutschland ein. Am 12.06.2023 stellte sie einen förmlichen Asylantrag bei der Beklagten. Im Irak leben noch ihre Mutter und ihre drei Brüder; ihr Vater ist verstorben.

Aufgrund eines Eurodac-Treffers der Kategorie 2 (IT2...) vom 25.05.2023 ermittelte die Beklagte, dass bereits am 13.05.2023 in der Gemeinde Augusta auf Sizilien der illegale Grenzübertritt der Klägerin mittels Abnahme von Fingerabdrücken registriert worden war.

In der Anhörung bei der Beklagten zur Zulässigkeit ihres Asylantrags am 23.06.2023 berichtete die Klägerin, sie sei von der Marine aufgegriffen worden, als sie mit vielen anderen Flüchtlingen in einem Boot unterwegs gewesen sei. Die Flucht sei traumatisch für sie gewesen. Danach habe sie sich sieben Tagen lang in einer Einrichtung in Italien aufgehalten habe. Sie und die anderen Flüchtlinge hätten lange nichts zu trinken und zu essen gehabt und es sei ihnen schlecht gegangen. Nach der Abnahme ihrer Fingerabdrücke habe man ihr einen Zettel gegeben und sie aufgefordert, das Land zu verlassen. Zu den Gründen ihrer Ausreise aus dem Irak sei sie in Italien nicht befragt worden. Gesundheitlich leide sie unter Thalassämie (einer im Mittelmeerraum verbreiteten Form von Anämie) und müsse deswegen alle paar Monate zu einer Blutuntersuchung gehen und gegebenenfalls Vitamine einnehmen.

In ihrer persönlichen Anhörung am selben Tag führte die Klägerin aus, dass sie Analphabetin sei und ausschließlich Kurdisch-Sorani spreche. Im Irak habe sie als Reinigungskraft in einer Firma gearbeitet, sei dann jedoch gekündigt worden, weil ihr Ehemann mehrfach in der Firma Probleme gemacht habe. Sie habe den Irak verlassen müssen, weil ihre Brüder sie zusammengeschlagen und mit dem Tode bedroht hätten, nachdem sie sich von ihrem drogenabhängigen Ehemann habe scheiden lassen, der zuvor sie und auch ihre Kinder misshandelt habe. Ihre Brüder hätten sie auch gezwungen, ihre vier minderjährigen Söhne, für die sie das Sorgerecht erstritten habe, wieder an ihren Vater zurückzugeben. Ihre Mutter habe sie unterstützt und ihr eine große Menge Goldschmuck gegeben. Damit habe sie zunächst einen Umzug von G-Stadt nach H-Stadt und eine dortige Mietwohnung finanziert und später den Schlepper für die Ausreise aus der Türkei nach Italien. In Italien habe sie kein Geld mehr gehabt und Unterstützung durch eine kurdische Familie erhalten.

Am 19.07.2023 stellte die Beklagte ein Übernahmeersuchen an die italienischen Behörden, das diese nicht beantworteten.

Mit Bescheid vom 04.01.2024, abgesandt am 16.01.2024, lehnte die Beklagte den Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte das Fehlen von Abschiebungsverboten fest (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung der Klägerin nach Italien an (Ziffer 3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 15 Monate (Ziffer 4). Sie begründete die Ablehnung im Wesentlichen damit, dass die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags mit Ablauf des 19.09.2023 auf Italien übergegangen sei. Der Klägerin drohe in Italien keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, insbesondere keine Obdachlosigkeit.

Die Klägerin hat am 19.01.2024 Klage erhoben und einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz gestellt (2 B 107/24).

Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und argumentiert, das italienische Asylsystem weise schwerwiegende Mängel auf und zudem halte Italien die Regelungen des Dublin-Abkommens nicht mehr ein.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid des Bundesamtes vom 04.01.2024 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die elektronische Asylakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheidet ohne mündliche Verhandlung über die Klage, weil die Beteiligten mit Schriftsätzen vom 01.02.2024 und 02.02.2024 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.

Die Klage ist zulässig und begründet.

Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 - 1 C 32.14 -, juris Rn. 14 f.). Die Klägerin hat auch innerhalb der Wochenfrist des §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG nach der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheids Klage erhoben.

Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 04.01.2024 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Ihr Asylantrag wurde zu Unrecht als unzulässig abgelehnt.

Rechtsgrundlage für die Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG, wonach ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.06.2013, S. 31) (Dublin III-VO), für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung eines Ausländers in einen sicheren Drittstaat (§ 26a) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Absatz 1 Nummer 1) an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

Die Zuständigkeit Italiens ergibt sich grundsätzlich aus Art. 13 Abs. 1, 18 Abs. 1 Buchst. a, 20, 21, 22 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedsstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO).

Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien gemäß den beiden in Artikel 22 Absatz 3 dieser Verordnung genannten Verzeichnissen, einschließlich der Daten nach der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 festgestellt, dass ein Antragsteller aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig. Die Zuständigkeit endet zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. a Dublin III-VO ist der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat verpflichtet, einen Antragsteller, der in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat, nach Maßgabe der Artikel 21, 22 und 29 aufzunehmen. Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen. Abweichend von Unterabsatz 1 wird im Fall einer Eurodac-Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 dieses Gesuch nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 2 Dublin III-VO innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Artikel 15 Absatz 2 jener Verordnung gestellt. Nach Art. 22 Abs. 1 Dublin III-VO nimmt der ersuchte Mitgliedstaat die erforderlichen Überprüfungen vor und entscheidet über das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt des Gesuchs. Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO bestimmt, dass, wenn innerhalb der Frist von zwei Monaten gemäß Absatz 1 keine Antwort erteilt wird, davon auszugehen ist, dass dem Aufnahmegesuch stattgegeben wird, was die Verpflichtung nach sich zieht, die Person aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

Die Beklagte hat innerhalb der Zwei-Monats-Frist nach der Eurodac-Treffermeldung vom 25.05.2023 für die Klägerin am 19.07.2023 ein Aufnahmegesuch, basierend auf Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO an die italienischen Behörden gestellt. Auf dieses Gesuch haben die italienischen Behörden ihrerseits nicht innerhalb von zwei Monaten geantwortet. Damit wird die Zustimmung der italienischen Behörden zur Überstellung der Klägerin fingiert und Italien ist grundsätzlich mit Ablauf des 19.09.2023 für die Behandlung des Asylantrags der Klägerin zuständig geworden.

Die Zuständigkeit Italiens ist jedoch aus verfahrensbezogenen Gründen auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat (die Bundesrepublik) die Prüfung der in Kapitel III der Verordnung vorgesehenen Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat zuständig ist, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat (hier Italien) zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta für Grundrechte der Europäischen Union (GRC) mit sich bringen. Kann die Überstellung nicht an einen aufgrund der genannten Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 Dublin III-VO der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat (die Bundesrepublik) zuständig.

Im Zusammenhang mit der Beurteilung eines ernsthaften Risikos einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK ist stets von dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten auszugehen, der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, da er die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglicht, und der von jedem Mitgliedstaat verlangt, dass dieser, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Damit gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EUV steht (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 81 ff.; BVerwG, Beschluss vom 07.03.2022 - 1 B 21/22 -, juris Rn. 13). Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar. Insoweit obliegt es den nationalen Gerichten zu prüfen, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 85).

Systemische Mängel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO können erst angenommen werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen im zuständigen Mitgliedstaat aufgrund größerer Funktionsstörungen regelhaft so defizitär sind, dass anzunehmen ist, dass dort dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC, Art. 3 EMRK droht (BVerwG, Beschluss vom 19.03.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9). Es kann sich dabei um systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen handeln. Diese fallen nur dann ins Gewicht, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 90 ff.; BVerwG, Beschluss vom 07.03.2022 - 1 B 21/22 -, juris Rn. 13). Erforderlich ist die reale Gefahr, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, dass das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet, oder, dass der Betroffene während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare menschliche Grundbedürfnisse (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in zumutbarer Weise befriedigen kann (Nds. OVG, Urteil vom 15.11.2016 - 8 LB 92/15 -, juris Rn. 41).

Nach der aktuellen Rechtsprechung der erkennenden Kammer droht Schutzsuchenden in Italien im Falle ihrer Rückführung eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit sowohl im Zeitraum bis zur förmlichen Registrierung ihres Asylantrags als auch nach Zuerkennung eines Schutzstatus und dem Ausscheiden aus dem staatlichen Aufnahmesystem (siehe VG Braunschweig, Beschluss vom 24.08.2023 - 2 B 208/23 -, n. v.; Beschluss vom 01.12.2022 - 2 B 278/22 -, juris Rn. 28 ff. = AuAS 2023, 7; Urteil vom 09.05.2023 - 2 A 277/22 -, juris Rn. 35 ff.; im Ergebnis ebenso z. B. Nds. OVG, Beschluss vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 -, juris Rn. 21; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 07.06.2023 - 11 A 2343/19.A -, juris Rn. 47, und vom 22.03.2023 - 11 A 1086/21.A -, juris Rn. 62 ff.). Ferner ist aufgrund aktueller Erkenntnisse davon auszugehen, dass es Italien nicht nur an den Kapazitäten, sondern auch an der Bereitschaft fehlt, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu ermöglichen. Dies führt dazu, dass die den Bestimmungen der Dublin III-VO zugrundeliegende Prämisse gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedsstaaten hinsichtlich Italiens erschüttert ist.

Für die Anwendung von Art. 4 GRC ist es gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO sich zwar unmittelbar nicht auf die Phase nach erfolgter Anerkennung als international Schutzberechtigter bezieht, dass aber das Verbot des Art. 4 GRC absoluten Charakter genießt und daher die Anwendung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRC führen darf. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt (EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 -, juris Rn. 88 f.; VG Berlin, Urteil vom 26.06.2020 - 31 K 921.18 A - Rn. 20 ff., juris Rn. 20 ff.; VG Hannover, Urteil vom 12.02.2021 - 4 A 2210/18 -, juris Rn. 25).

Eine Gefahr von Obdachlosigkeit besteht für die Klägerin wie auch für andere Geflüchtete in Italien zum einen im Vorfeld der förmlichen Registrierung als Asylsuchende, weil Geflüchtete in dieser Phase kein Recht auf Unterkunft haben.

Weil die italienischen Behörden im Falle der Klägerin nicht auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes reagiert haben, würde sie voraussichtlich auf den Flughäfen Rom-Fiumicino oder Mailand-Malpensa in Italien ankommen. Am Flughafen wird Dublin-Rückkehrern von der Polizei eine Einladung ("verbale di invito") ausgehändigt, der zu entnehmen ist, welche Quästur für ihr Asylverfahren zuständig ist. Im Falle der Klägerin dürfte es sich aufgrund ihrer Registrierung in Augusta um eine Präfektur im süditalienischen Sizilien handeln. Erst nach Meldung bei der zuständigen Questura wird das Asylverfahren wiederaufgenommen. Dublin-Rückkehrer haben nur wenige Tage Zeit, auf eigene Faust bei der zuständigen Präfektur zu erscheinen. Sie werden weder begleitet noch über die Anreisemöglichkeiten informiert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) Österreich, Länderinformation Italien, 27.07.2023, S. 4).

Die Registrierung als Asylsuchender erfolgt in Italien in einem mehrstufigen Verfahren. Der erste Schritt ist das Identifizierungs- und Registrierungsverfahren, bei dem entweder bei der Grenzpolizei oder bei der Einwanderungsbehörde der Polizei ("Questura") die Fingerabdrücke abgenommen werden und ein Foto gemacht wird ("Fotosegnalamento"). Auf das Fotosegnalamento folgt ein zweiter Schritt, der in der förmlichen Registrierung des Asylantrags besteht, die ausschließlich bei der Questura im nationalen Hoheitsgebiet durchgeführt wird. Die formale Registrierung des Antrags ("Verbalizzazione" oder "Formalizzazione") erfolgt mittels eines Formulars, das mit den grundlegenden Informationen zur persönlichen Geschichte des Antragstellers, der Reise nach Italien und den Gründen für die Flucht aus dem Herkunftsland ausgefüllt wird. Das Formular wird vom Asylbewerber unterschrieben und vor der Anhörung an die Territorialkommission gesandt. Erst mit dem Ausfüllen des Formulars ist die formale Phase des Antrags auf internationalen Schutz abgeschlossen (Associazione per Gli Studi Giuridici sull'Immigrazione (ASGI), Country Report: Registration of the asylum application, 20.05.2022).

Die italienische Gesetzgebung legt fest, dass ein Antragsteller das Recht hat, eine Unterkunft zu erhalten, sobald er den Willen bekundet hat, internationalen Schutz zu suchen. Die Aufnahme in das Asylsystem erfolgt dabei jedoch erst nach der Formalisierung des Antrags mit dem Ausfüllen des entsprechenden Formulars. Diese Praxis hat zur Folge, dass Asylbewerber, einschließlich Dublin-Rückkehrer, bis zur Registrierung ihres Asylantrags ohne Unterkunft - und damit auch ohne angemessene medizinische Behandlung - bleiben (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Italy, Februar 2022, S. 12). Vor der förmlichen Registrierung ihres Asylantrags haben Geflüchtete lediglich Anspruch auf medizinische Notversorgung. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich (BFA) schildert in seiner aktuellen Länderinformation vom 27.07.2023, dass Dublin-Rückkehrer beim Zugang zum Verfahren und zur Unterbringung vor denselben Problemen stehen wie andere Asylwerber. Es gibt für sie keine speziell reservierten Unterbringungsplätze (BFA, Länderinformation Italien, 27.07.2023, S. 11 f.).

Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln kann sich die Wartezeit bis zur förmlichen Registrierung des Asylantrags auf mehrere Wochen oder sogar Monate erstrecken. Denn das "Fotosegnalamento" und die förmliche Registrierung des Antrags auf internationalen Schutz finden nicht immer gleichzeitig statt. Art. 26 Abs. 2 des Gesetzesdekrets Nr. 25/2008 sieht zwar vor, dass der formlose Antrag auf internationalen Schutz innerhalb von drei Tagen behördlich zu dokumentieren ist, wobei die Frist bei einer großen Zahl von Asylbewerbern auf bis zu zehn Tage verlängert werden kann. In der Praxis werden diese Fristen jedoch nur selten eingehalten, was auf die hohe Zahl der Asylanträge und den Mangel an Polizeipersonal zurückzuführen ist. Vor allem in großen Ballungsräumen wie Mailand, Rom und Neapel erhalten Asylbewerber oft erst nach einigen Wochen oder sogar Monaten eine Einladung ("invito") zu einem Termin, um bei der Questura förmlich ihren Antrag zu stellen (Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 26; ASGI, a. a. O.; Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières (MSF), Informal settlements: social marginality, obstacles to access to healthcare and basic needs for migrants, asylum seekers and refugees, Februar 2018, S. 3). Im Zuge der Pandemie haben sich die Wartezeiten zumindest in den Städten weiter verlängert (SFH, Situation of asylum seekers and beneficiaries of protection with mental health problems in Italy, Februar 2022, S. 12). Darüber hinaus kann es auch nach der Registrierung des Asylantrags noch zu einigen Wochen Wartezeit bis zur Unterbringung des Asylbewerbers kommen (BFA, Länderinformation Italien, 27.07.2023, S. 11 f.)

Zudem stellen spezielle Anforderungen der lokalen Questura-Büros weitere Hindernisse beim Zugang zum Asylverfahren dar. Die Questura von Neapel etwa nimmt keine von Asylbewerbern persönlich eingereichten Anträge an, sondern registriert nur solche Anträge, die über Rechtsanwälte oder NGOs eingereicht werden. Der Termin zur Asylantragstellung wird je nach Arbeitsbelastung erst nach einem oder sogar mehreren Monaten vergeben. In Rom beschränkte die Questura im Jahr 2020 den Zugang auf etwa 20 Antragsteller pro Tag. Im Oktober 2020 verurteilte das Berufungsgericht Rom das Innenministerium zum Schadenersatz, nachdem es festgestellt hatte, dass ein Antragsteller mindestens fünfmal versucht hatte, Zugang zur Polizeistation zu erhalten, und zweimal auf der Straße vor der Einwanderungsbehörde geschlafen hatte, um zu den ersten Antragstellern zu gehören. Währenddessen war er gezwungen, auf der Straße zu leben, da er mangels Registrierung keinen Zugang zum Aufnahmesystem hatte, obwohl er unter gesundheitlichen Problemen litt (ASGI, a. a. O.). Viele Questura-Büros hatten im Jahr 2022 noch immer nicht im nationalen Recht verankerte Bedingungen festgelegt, die potenzielle Asylbewerber erfüllen müssen, bevor sie Zugang zum Asylverfahren erhalten. Mehrere lokale Questura-Büros berichteten, dass nur eine begrenzte Anzahl von Asylanträgen pro Tag oder pro Woche angenommen wird. In der Questura von Mailand werden beispielsweise nur montags Namen für die Anmeldung zur Beantragung von internationalem Schutz gesammelt, wobei jedes Mal maximal etwa 120 Personen zugelassen werden. Da es keine Regeln für das Anstehen gibt, versammeln sich die Asylsuchenden bereits Sonntagabend vor der Polizeiwache und übernachten dort. Dabei sollen einige Menschen Opfer von repressiver Gewalt durch Polizeibeamte geworden sein (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 51-53).

Obwohl in Art. 4 und 5 des italienischen Aufnahmeerlasses klargestellt wird, dass das Fehlen eines Wohnsitzes kein Hindernis für den Zugang zu internationalem Schutz darstellt, verweigerten Questura-Büros darüber hinaus in einigen Fällen den Zugang zum Verfahren wegen des fehlenden Nachweises des Wohnsitzes, z. B. durch einen Mietvertrag oder eine Gastfreundschaftserklärung einschließlich des Ausweises der aufnehmenden Person. Dies war zum Beispiel in Latium (Rom), Kampanien (Neapel), Friaul-Julisch Venetien (Pordenone), Sizilien (Palermo, Syrakus), Sardinien (Cagliari), Piemont (Novara) und der Lombardei (Mailand) der Fall. Im Juni 2020 gab das Zivilgericht Triest der Klage eines pakistanischen Staatsangehörigen statt und wies die Questura von Pordenone an, seinen Asylantrag zu registrieren, was diese bis dahin mit Verweis auf einen fehlenden Wohnsitz verweigert hatte. Im Dezember 2020 gab das Gericht von Florenz einem Eilantrag statt, der sich gegen die Ablehnung des Asylantrags durch die Questura von Florenz wegen fehlender Unterlagen zur Bescheinigung des Wohnsitzes richtete. Es ist anzunehmen, dass es zu derartigen Vorgängen auch infolge der Rückführung von Personen im Rahmen des Dublin-Verfahrens kommt. Im August 2021 verhinderte die Questura von Udine (Friaul-Julisch Venetien) die Formalisierung eines Asylantrags und erteilte einem irakischen Asylbewerber, der zuvor einen Asylantrag in Deutschland gestellt hatte, stattdessen eine Ausweisung. In dieser Angelegenheit ist ein Berufungsverfahren vor dem Zivilgericht von Triest anhängig (ASGI, a. a. O.). Außerdem wies das Zivilgericht von Triest am 24.03.2023 die Questura von Udine an, innerhalb von 30 Tagen den Antrag einer 62-jährigen Nigerianerin auf internationalen Schutz zu registrieren, die seit Oktober 2022 versucht hatte, Zugang zum Asylverfahren zu erhalten, aber nur eine Ausweisungsverfügung erhalten hatte. Das Zivilgericht Rom ordnete mit Beschluss vom 31.03.2023 den sofortigen Zugang eines georgischen Staatsbürgers zum Asylverfahren an, da die in den letzten Wochen von der Questura Rom eingeführte neue Praxis, Termine für die Formalisierung des Antrags erst Monate nach dem Antrag festzulegen, nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen vereinbar sei. Am 18.01.2023 hat das Zivilgericht von Bologna einer Gruppe von Asylbewerbern das Recht auf Zugang zum Verfahren zuerkannt, denen seit August 2022 der Zugang zum Verfahren und die Unterbringung in Ermangelung eines Wohnsitzes verweigert worden war (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 51-53).

Dass die Klägerin nach eigenen Angaben während ihres einwöchigen Aufenthalts in Italien in einem Camp untergebracht war, garantiert ihr nicht, erneut Aufnahme in eine Erstaufnahmeeinrichtung zu finden. In Italien existiert bis heute kein standardisiertes Verfahren zur Wiederaufnahme von Dublin-Rückkehrern in das Asylsystem (aida, Country Report: Italy. Update 2022, S. 83). Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass dieselbe Verfahrensweise noch einmal auf die Klägerin angewandt werden wird. Darüber hinaus drohen Rückkehrer, die vor ihrer Ausreise aus Italien in Aufnahmezentren für Asylbewerber gelebt haben, bei ihrer Rückkehr Probleme zu bekommen, eine neue Unterkunft zu beantragen. Aufgrund ihrer ersten Ausreise und gemäß den Regeln für den Entzug der Aufnahmebedingungen kann die Präfektur ihnen den Zugang zum Aufnahmesystem verweigern. Gemäß Artikel 13 und 23 Abs. 1 des Aufnahmeerlasses (Decreto legislativo n. 142/2015) kann der Entzug der Aufnahmebedingungen beschlossen werden, wenn der Asylbewerber das Zentrum verlässt, ohne die zuständige Präfektur darüber zu informieren (aida, Country Report: Italy. Update 2022, S. 80). Art. 23 des Aufnahmeerlasses findet nach Angaben des italienischen Innenministeriums auch auf Dublin-Rückkehrer Anwendung, wenn diese die Aufnahmeeinrichtung ohne vorherige Mitteilung an die Präfektur verlassen haben. Eine Wiederaufnahme ist nur dann vorgesehen, wenn das Verlassen durch höhere Gewalt oder unvorhersehbare Umstände oder in jedem Fall durch schwerwiegende persönliche Gründe verursacht wurde (Italienisches Innenministerium, Information on procedural elements and rights of applicants subject to a Dublin transfer to Italy, 12.04.2023, Frage 1.4, https://t1p.de/6em8t, zuletzt abgerufen am 08.02.2024).

Ferner droht der Klägerin ebenso wie auch anderen Geflüchteten in Italien Obdachlosigkeit nach ihrem Ausscheiden aus dem Asylverfahren im Falle der Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus durch die italienischen Behörden.

Das italienische System basiert auf der Annahme, dass Personen mit Schutzstatus für sich selbst sorgen können und müssen. Nach der Gewährung eines Schutzstatus sind anerkannte Geflüchtete nicht mehr berechtigt, in Erstaufnahmeeinrichtungen oder CAS ("Centro di Accoglienza Straordinaria") zu bleiben. Zwar dürfen sie zunächst SAI-Unterkünfte ("Sistema di accoglienza ed integrazione", ehemals SPRAR/SPROIMI) aufsuchen. Die Knappheit der verfügbaren Plätze im SAI-Netz und zahlreiche Verfahrensfragen führen jedoch häufig dazu, dass die Person aus der Aufnahmeeinrichtung, in der sie als Asylbewerber akzeptiert wurde, entlassen wird, bevor ihre Aufnahme in ein SAI-Zentrum geregelt ist. Der Schutzberechtigte ist dann gezwungen, das Aufnahmesystem vorübergehend zu verlassen (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 235). Zudem ist auch die Zeitdauer, für die anerkannte Schutzberechtigte in SAI-Unterkünften verbleiben dürfen, begrenzt. Art. 38 des Dekrets des italienischen Innenministeriums vom 18.11.2019 legt fest, dass die Aufnahme im SAI-System sechs Monate andauert. Nur in einigen Fällen, die im Dekret genannt werden, können die Aufnahmebedingungen mit angemessener Begründung und mit vorheriger Genehmigung durch die zuständige Präfektur um weitere sechs Monate verlängert werden. Zusätzliche sechs Monate können gewährt werden, wenn anhaltende schwerwiegende gesundheitliche Gründe vorliegen oder um den Abschluss des Schuljahres zu ermöglichen (Art. 39 des Dekrets). Art. 5 des Gesetzesdekrets 130/2020 sieht vor, dass alle untergebrachten Personen nach Ablauf der Aufenthaltsdauer in weitere Integrationswege einbezogen werden sollen, für die die zuständigen Gemeinden im Rahmen der verfügbaren personellen, instrumentellen und finanziellen Ressourcen verantwortlich sind (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 236-237).

Trotzdem zeigt der Jahresbericht des Aufnahmesystems SPRAR/SIPROIMI (nunmehr SAI), dass Flüchtlinge, die in SPRAR/SIPROIMI-Einrichtungen untergebracht sind, bei der Erlangung der Wohnautonomie auf viele Hindernisse stoßen. Im Jahr 2018 erhielten weniger als 5 % der im Zweitaufnahmesystem untergebrachten Personen einen Wohnzuschuss, wenn ihre Zeit im System endete, und weniger als 1 % wurde bei Mietverfahren unterstützt, wenn sie die Aufnahmeeinrichtungen verließen. Das italienische Wohnungswesen ist zudem strukturell nicht auf die Bedürfnisse von Personen mit internationalem Schutzstatus eingestellt. In den letzten dreißig Jahren lag der Anteil der Sozialwohnungen am gesamten Wohnungsmarkt konstant lediglich zwischen 5 und 6 %. Darüber hinaus sind die Kriterien für die Zuteilung von Sozialwohnungen in vielen Fällen für viele Einwanderer nachteilig, selbst wenn sie nur über ein sehr geringes Einkommen verfügen, da eine Mindestwohnsitzdauer verlangt wird (UNHCR, ASGI and SUNIA, The refugee house - Guide to housing autonomy for beneficiaries of international protection in Italy, Februar 2021, S. 5-6). Weitere Kriterien, die von einigen Regionen für die Zuweisung einer Sozialwohnung verlangt werden, sind etwa ein Wohnsitz in der Gemeinde, in der der Antrag gestellt wird, keine vorherige Zuweisung von öffentlichem Wohnraum oder das Fehlen einer illegalen Beschäftigung (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 239).

Sowohl vor ihrer förmlichen Registrierung als Asylantragstellerin als auch nach der Zuerkennung eines Schutzstatus wird die Klägerin somit voraussichtlich gezwungen sein, mangels Zugang zu Aufnahmeeinrichtungen und sonstigem öffentlichem Wohnraum eine Unterkunft auf dem privaten Markt zu suchen. Doch die tatsächliche Verfügbarkeit von Mietwohnungen ist knapp, weil mehr als 75 % der Familien in Italien Eigentümer des Hauses sind, in dem sie wohnen, und 60 % der Immobilien im Besitz von Einzelpersonen sind, die sie als Hauptwohnsitz nutzen, während Mietwohnungen nur 10 % aller auf dem nationalen Territorium verfügbaren Wohnungen ausmachen. Italien ist also ein Land der kleinen Eigentümer, die meist nur ein Haus für den Mietmarkt zur Verfügung haben. Die Knappheit von Mietobjekten und die Notwendigkeit, mit einer großen Anzahl von Gesprächspartnern in Kontakt zu treten, benachteiligt die Flüchtlinge erheblich, weil sie in der Regel über eine geringe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügen und bei der Interaktion mit Privatpersonen und Wohnungsbaugesellschaften mit sprachlichen Problemen konfrontiert sind (UNHCR, ASGI and SUNIA, a. a. O., S. 7-8).

Es ist unwahrscheinlich, dass die Klägerin überhaupt in der Lage wäre, die finanziellen Mittel für eine private Wohnung aufzubringen. Sie hat nach eigenen Angaben all ihre finanziellen Mittel aus dem ihr von ihrer Mutter überlassenen Goldschmuck für ihren Umzug nach H-Stadt im Irak und sodann für den Schlepper ausgegeben, um aus der Türkei nach Italien reisen zu können. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie über weitere Ersparnisse verfügt. Folglich wird sie eine Arbeitsstelle benötigen, um die Miete zahlen zu können. Doch im Allgemeinen bestehen für Geflüchtete Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt. In Anbetracht der derzeit hohen Arbeitslosigkeit in Italien ist es für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus äußerst schwierig, Arbeit zu finden. Schwarzarbeit ist verbreitet. Viele Zuwanderer arbeiten in der Landwirtschaft, oft unter prekären Bedingungen und sind anfällig für Ausbeutung. Üblicherweise sind die wenigen Arbeitsplätze, die Asylsuchenden und Schutzberechtigten zur Verfügung stehen, schlecht bezahlt und zeitlich begrenzt. Der Lohn reicht in der Regel nicht aus, um eine Wohnung zu mieten (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 71). Insbesondere die Erwerbs- und Beschäftigungsquoten von Frauen in Italien liegt mit nur 57,6 % im dritten Quartal 2023 deutlich unter dem EU-Durchschnitt, bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit im März 2022 sogar bei nur 45,4 % (Auswärtiges Amt/Bundesministerium des Innern und für Heimat/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Gemeinsamer Bericht zur Aufnahmesituation von Asylantragstellenden sowie anerkannt Schutzberechtigten in Italien, 30.09.2022, S. 19; im Vergleich zu 75,9 % Beschäftigungsquote von Frauen in Deutschland im dritten Quartal 2023, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/188794/umfrage/erwerbsquote-in-den-eu-laendern/, aufgerufen am 08.02.2024). Die Klägerin ist Analphabetin und spricht ausschließlich Kurdisch-Sorani. Sie hat im Irak als Reinigungskraft gearbeitet. Es erscheint äußerst fernliegend, dass die Klägerin ohne Qualifikationen, ohne festen Wohnsitz und ohne jegliche Kontakte und Erfahrungen auf dem italienischen Arbeitsmarkt innerhalb kürzester Zeit eine Arbeitsstelle finden würde, die ihr so hohe Einkünfte ermöglichen würde, dass sie damit eine Wohnung und den eigenen Unterhalt finanzieren könnte. Auch wenn die Klägerin - was aufgrund der Einheit der Rechtsordnung abzulehnen ist - auf eine Tätigkeit in der "Schattenwirtschaft" verwiesen werden würde, bildet dies in Ansehung der in diesem Bereich anzutreffenden Bedingungen keine hinreichende Grundlage für die Annahme, diese Tätigkeit könnte eine Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse gewährleisten (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 29.12.2023 - 1a L 1896/23.A -, juris).

Das im März 2019 als Armutsbekämpfungsmaßnahme eingeführte Bürgergeld ("Reddito di Cittadinanza"; ersetzt das Arbeitslosengeld) für Personen mit geringem Einkommen hat die italienische Regierung im Mai 2023 wieder abgeschafft und durch eingeschränktere Programme ersetzt (Human Rights Watch (HRW), Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2023, 11.01.2024, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103162.html, aufgerufen am 08.02.2024). Weitere Sozialleistungen obliegen den Regionen und Kommunen, welche eigene Regeln bezüglich der Höhe der Leistungen und des Empfängerkreises festlegen. So wird etwa die kommunale Beihilfe für arbeitslose Mütter ("Assegno di maternità die comuni") nur dann gewährt, wenn die Mutter ihren Antrag innerhalb von sechs Monaten nach dem Geburtsdatum bei der Wohnsitzgemeinde eingereicht hat (Patronato Acli, https://www.patronato.acli.it/assegno-maternita-dello-stato-2021-a-chi-spetta, aufgerufen am 08.02.2024). Das italienische Sozialsystem ist sehr schwach, garantiert keinerlei Nothilfe und stützt sich auf traditionelle Familienstrukturen. Flüchtlinge können meist nicht auf solche Strukturen in Italien zurückgreifen (BFA, Länderinformation Italien, 01.07.2022, S. 22). Nach Angaben des nationalen Statistikinstituts ISTAT aus dem Jahr 2023 lebten im Jahr 2022 fast 10 Prozent der italienischen Bevölkerung in absoluter Armut, ein Anstieg gegenüber 2021, der auf die Auswirkungen der Inflation zurückzuführen ist. Bei den in Italien lebenden Ausländern war die Wahrscheinlichkeit, von absoluter Armut betroffen zu sein, mehr als viermal so hoch (Human Rights Watch (HRW), Jahresbericht zur Menschenrechtssituation im Jahr 2023, 11.01.2024, https://www.ecoi.net/de/dokument/2103162.html, aufgerufen am 08.02.2024).

Zusätzlich zu den oben beschriebenen Problemen haben Geflüchtete insbesondere in den letzten Jahren eine zunehmende Stigmatisierung und Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt erlebt. Laut dem Jahresbericht des Aufnahmesystems SPRAR/SIPROIMI berichten 67,4 % der Aufnahmezentren über Schwierigkeiten beim Zugang zu Wohnraum aufgrund der unsicheren Arbeitsverhältnisse der Schutzberechtigten, während 55,5 % feststellen, dass eines der Hauptprobleme in Bezug auf den Zugang zu Wohnraum für Personen mit internationalem Schutz das Misstrauen von Immobilienagenturen und Immobilieneigentümern ist (UNHCR, ASGI and SUNIA, a. a. O., S. 7-8). Sowohl in der Phase vor der Registrierung des Asylantrags als auch dann, wenn anerkannte Geflüchteten auf die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung warten, kommt die Schwierigkeit hinzu, dass viele Vermieter die Vorlage einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung fordern, weil sie befürchten, als "Beherberger irregulärer Migranten" angesehen zu werden, was nach italienischem Recht als Straftat gilt (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 67).

Zwar gibt es regional organisierte Notunterkünfte, die meist von Trägern des sog. Dritten Sektors, also nicht staatlich von Nichtregierungsorganisationen oder kirchlichen Organisationen, betrieben werden. Diese sind jedoch nicht langfristig ausgerichtet, manche von ihnen haben Verträge mit der Gemeinde und werden vor allem zu Winterzeiten geöffnet. Die Dauer dieser Projekte der Aufnahme hängt von der Verfügbarkeit der finanziellen Mittel ab, sie sind mithin nicht kontinuierlich garantiert. Diese Einrichtungen haben nur wenige Plätze zur Verfügung, die die Nachfrage nach Unterbringung derer, die auf der Straße leben müssen, nicht decken. Die Familieneinheit kann nicht immer berücksichtigt werden, sodass Eltern gegebenenfalls nur separate Plätze für sich und ihre Kinder angeboten werden. Die Plätze unterliegen zudem einem Rotationssystem und sind nur für kurze Zeit nutzbar, damit möglichst viele Menschen für einige Tage dort unterkommen können. Neben der Rotation müssen die Bewohner in der Zeit ihres Aufenthaltes die Zentren tagsüber verlassen und haben keine Möglichkeit, ein geregeltes Leben zu führen. Ein Großteil des Tages muss für die Deckung der Grundbedürfnisse, z. B. in die Nahrungsfindung (Schlangestehen vor karitativen Suppenküchen), investiert werden, was es den Geflüchteten unter anderem unmöglich macht, sich eine Arbeit zu suchen (SFH, Situation von aus dem Ausland zurückkehrenden Schutzberechtigten (insbes. hinsichtlich einer Unterkunft), 29.04.2022, S. 4-5; SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 68).

Weil somit davon ausgegangen werden muss, dass die Klägerin, bevor ihr Zugang zum Aufnahmesystem gewährt wird bzw. nachdem dieser Zugang mit dem Abschluss des Asylverfahrens erloschen ist, weder eine Sozialwohnung noch eine Wohnung auf dem privaten Wohnungsmarkt noch einen dauerhaften Platz in einer Notunterkunft finden wird, droht ihr in diesen Phasen ein Leben auf der Straße.

Aufgrund mangelnder Kapazitäten des offiziellen Aufnahmesystems oder weil sie ihr Recht auf Zugang zum Aufnahmesystem verloren haben, sind viele Asylbewerber und Schutzberechtigte obdachlos und leben auf der Straße oder in informellen Siedlungen, besetzten Häusern oder Barackensiedlungen in verschiedenen italienischen Städten, in der Regel unter unzumutbaren Bedingungen (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 69). Aktuelle Berichte dokumentieren zudem, dass Asylsuchende auch infolge der verzögerten oder verweigerten Registrierung ihrer Anträge obdachlos werden. So prangerte etwa die Vereinigung "Assemblea antirazzista" im Juni 2022 an, dass über 60 Asylbewerber in der norditalienischen Stadt Trient (Trentino-Südtirol) seit Monaten obdachlos waren, während sie auf die Registrierung ihrer Asylanträge und die Zuweisung eines Platzes im Aufnahmesystem warteten (Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), InfoMigrants, 15.06.2022, https://www.infomigrants.net/en/post/41210/italy-over-60-asylum-seekers-in-trento-homeless-for-months, aufgerufen am 08.02.2024). Im August 2022 hatte sich die Situation noch immer nicht verbessert und Helfer machten die Langsamkeit der Bürokratie für die Notsituation verantwortlich (l'Adige, 12.08.2022, https://www.ladige.it/cronaca/2022/08/12/centinaia-di-immigrati-sotto-i-ponti-di-trento-in-attesa-di-asilo-negato-il-diritto-ad-un-posto-letto-1.3286747, aufgerufen am 08.02.2024). Die Betreiber eines Pfarrwohnheims in der italienischen Stadt Ravenna (Emilia-Romagna) berichteten von ständigen Wohnungsanfragen von obdachlosen jungen Migranten, die sich in der Schwebe befänden, während sie auf Papiere und die Aufnahme in die Erstaufnahmeeinrichtungen CAS ("Centri di accoglienza straordinari") warteten, die immer mehr überfüllt seien. Sie beklagten die überlangen Wartezeiten für die Legalisierung der Migranten (Vatican News, Sr. Maria's experience of running a center for migrants and the homeless, 16.09.2022, https://www.vaticannews.va/en/church/news/2022-09/sisters-project-maria-giovanni-titone-migrants-welcoming.html, aufgerufen am 08.02.2024). In ganz Italien sollen geschätzt 10.000 Ausländer, darunter Asylsuchende und anerkannte Schutzberechtigte, in informellen Siedlungen oder besetzten Häusern leben und dort nur begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung, Rechtsberatung, Bildung und anderen öffentlichen Dienstleistungen haben (BFA, Länderinformation Italien, 27.07.2023, S. 11).

Sofern andere Verwaltungsgerichte (VG Bremen, Beschluss vom 13.01.2022 - 6 V 828/21, 8345068 -, juris; VG Greifswald, Urteil vom 17.11.2022 - 3 A 1301/22 HGW -, juris Rn. 38; VG Dresden, Beschluss vom 02.11.2022 - 12 L 745/22.A, 9468164 -, juris, VG Cottbus, Urteil vom 08.09.2022 - VG 5 K 754/19.A, 7791080 -, juris; VG Köln, Urteil vom 25.08.2022 - 8 K 7119/19.A -, juris Rn. 58) die Gefahr einer Obdachlosigkeit damit abtun, dass die Geflüchteten auf kommunale Notunterkünfte zugreifen könnten, überzeugt dies aus den ausgeführten Gründen nicht. Es ist nicht nachvollziehbar, dass Notunterkünfte eine gangbare Lösung sein sollen, insbesondere, wenn die Gerichte zugleich einräumen, dass die genaue Anzahl an Plätzen in Notunterkünften schwierig auszumachen ist, sich die Plätze aufgrund der Covid-19-Pandemie reduziert haben, die Nachfragen infolge der Wirtschaftskrise indes gestiegen sind und Italien keinen nationalen Plan hat, der eine Erhöhung der Anzahl an Plätzen für die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen vorsieht. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass die von mehreren Gerichten zitierte Zahl von 10.000 Obdachlosen in ganz Italien im Jahr 2018 (vgl. VG Bremen, a. a. O., VG Greifswald, a. a. O.: VG Würzburg, Urteil vom 29.09.2022 - W 4 K 21.30332 -, juris Rn. 53; .VG Stuttgart, Urteil vom 21.07.2022 - A 4 K 1253/22 -, juris Rn. 46), somit von nur etwa 0,016 % der Bevölkerung, deutlich zu niedrig angesetzt ist. Das Nationale Institut für Statistik (ISTAT) geht für das Jahr 2021 von 500.000 wohnungslosen Menschen aus, die auf der Straße oder in Behelfsunterkünften, etwa in Lagern und geduldeten oder spontanen Siedlungen, leben. Im Winter 2014 ermittelte das Institut zudem durch Erhebungen in Kantinen- oder Nachtasyleinrichtungen eine Zahl von 50.724 Obdachlosen, die landesweit auf der Straße lebten. Es wird davon ausgegangen, dass dieser Anteil der Bevölkerung in den letzten zehn Jahren als Folge der Wirtschaftskrise zugenommen hat (ISTAT, 29.10.2021, Censimento 2021 anche per le persone più difficili da rilevare, https://www.istat.it/it/files//2021/10/Popolazioni-speciali_Comunicato-stampa.pdf, aufgerufen am 08.02.2024). 15 % der Wohnungslosen sind Frauen; 58 % der Wohnungslosen sind Ausländer, wobei deren Quote in einzelnen Großstädten wie Mailand sogar bei 73 % liegt (Quotidiano Piemontese, 07.01.2022, https://www.quotidianopiemontese.it/2022/01/07/i-clochard-in-italia-sono-un-popolo-di-50-mila-invisibili-pari-a-un-capoluogo-di-provincia/, aufgerufen am 08.02.2024; SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 68). Dafür, dass der Anteil der Obdachlosen unter den Einwohnern Italiens deutlich höher sein dürfte, spricht auch eine Studie der Fondazione Rodolfo De Benedetti (fRDB) aus dem Jahr 2018 in Mailand, wo ein Anteil der Obdachlosen an der Bevölkerung von 0,2 % ermittelt wurde (Associazione NAGA, Più fuori che dentro, Dezember 2021, S. 62).

Ein, wenn auch nur vorübergehendes, Leben in Obdachlosigkeit würde für die Klägerin eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen.

Die Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Flüchtlingen in besetzten Häusern, Slums und auf der Straße sind miserabel. Sie leben am Rande der Gesellschaft, ohne Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation. Sie kampieren meist in kleinen Gruppen in Randgebieten, wo die Polizei sie nicht finden kann, um sie für das Schlafen im Freien zu bestrafen. Infolgedessen haben sie nicht nur keinen Zugang zu territorialen Sozial- und Gesundheitsdiensten, sondern auch zu den elementarsten Gütern wie Wasser, Lebensmitteln und Strom. Ihr Alltag besteht aus der Deckung ihrer Grundbedürfnisse, wie der Suche nach Nahrung und einem Schlafplatz (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 58, 69). Geflüchtete ohne festen Wohnsitz haben zudem kaum Zugang zu medizinischen Leistungen, denn, um sich beim nationalen Gesundheitsdienst (SSN) anzumelden, müssen sich Asylbewerber oder Personen mit Schutzstatus an das örtliche ASL ("azienda sanitaria locale", lokale Gesundheitsbehörde) wenden und dort u. a. eine gültige Aufenthaltserlaubnis, eine Wohnsitzbescheinigung bzw. eine Erklärung über den tatsächlichen Aufenthalt, wie auf der Aufenthaltserlaubnis angegeben, sowie eine Steueridentifikationsnummer vorlegen. Dies stellt ein schwer überwindbares Hindernis dar sowohl für asylsuchende Personen, deren Anträge noch nicht formell bei der Questura registriert wurde, als auch für Personen mit internationalem Schutz, die obdachlos geworden sind und deshalb Schwierigkeiten haben, ihre Aufenthaltserlaubnis zu verlängern und/oder einen Wohnsitznachweis zu erbringen. Die Angabe einer fiktiven Adresse oder der Adresse einer Nichtregierungsorganisation als Wohnsitz wird von vielen Behörden nicht zugelassen (SFH, Reception conditions in Italy Updated, Januar 2020, S. 73, 75).

Zudem mangelt es in Italien an Unterstützungsleistungen für Obdachlose. In Barletta (Apulien) forderten Vertreter von Hilfsorganisationen, den in der Region als Hilfsarbeiter in der Landwirtschaft tätigen Geflüchteten ein öffentliches Wohnheim zur Verfügung zu stellen, nachdem diese dort seit Langem in Zeltlagern in der freien Natur oder in leerstehenden Gebäuden leben müssen (Giuseppe di Bisceglie, Corriere della Sera, 14.10.2022, https://corrieredelmezzogiorno.corriere.it/bari/cronaca/22_ottobre_14/sotto-ponti-tende-stracci-cosi-migranti-vivono-degrado-barletta-7454595c-4bce-11ed-b1b7-e093d9351754.shtml, aufgerufen am 08.02.2024). Aus der Stadt Triest (Friaul-Julisch Venetien) wird berichtet, dass die Polizei Geldstrafen von bis zu 500 Euro gegen obdachlose Asylbewerber verhängt (Agenzia Nazionale Stampa Associata (ANSA), InfoMigrants, 18.07.2022, http://www.infomigrants.net/en/post/41972/homeless-refugees-fined-in-trieste, aufgerufen am 08.02.2024). Zudem werden Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit teilweise gezielt behindert. Die Stadt Ventimiglia (Ligurien) nahe der italienisch-französischen Grenze verhängte ein mit Geldstrafen bewehrtes Verbot, obdachlosen Migranten Essen zu geben. Die Kirche, in der Hunderte von Menschen eine Notunterkunft gefunden hatten, wurde von den Behörden im Jahr 2017 geschlossen (Angela Giuffrida, The Guardian, 20.09.2022, https://www.theguardian.com/world/2022/sep/20/all-we-want-is-to-be-able-to-live-migrants-left-destitute-in-italian-border-town, aufgerufen am 08.02.2024).

Obdachlose Geflüchtete wurden in Italien im vergangenen Jahr mehrfach Opfer von Gewalttaten. Im Juni 2023 wurde ein obdachloser Migrant aus Ghana in der Nähe von Neapel von zwei jungen Männern zu Tode geprügelt (ANSA, InfoMigrants, https://www.infomigrants.net/en/post/49845/homeless-migrant-beaten-to-death-in-italy, 22.06.2023, aufgerufen am 08.02.2024). Im selben Zeitraum wurden fünf Polizeibeamte in der italienischen Stadt Verona unter dem Vorwurf der Folter und Körperverletzung an Migranten und Obdachlosen festgenommen. Zwei der Verdächtigen werden auch rassistische Hassverbrechen gegen Schwarze und afrikanische Migranten vorgeworfen (Lorenzo Tondo, The Guardian, 07.06.2023, https://www.theguardian.com/world/2023/jun/07/five-italian-police-accused-of-torturing-migrants-and-homeless-people, aufgerufen am 08.02.2024). Im Jahr 2023 sind in italienischen Städten 415 obdachlose Menschen u. a. an Unterkühlung und unbehandelten Krankheiten verstorben, ein Anstieg im Vergleich zum Jahr 2022 (Zita Dazzi, La Repubblica, 25.01.2024, La strage invisibile dei senza tetto in Italia: 415 morti in un anno per ipotermia e solitudine, https://milano.repubblica.it/cronaca/2024/01/25/news/clochard_morti_italia_senza_tetto_dati-421974383/, aufgerufen am 08.02.2024). Anfang des Jahres 2024 starben allein an sechs Tagen elf weitere obdachlose Menschen (Alex Corlazzoli, Il Fatto Quotidiano, 08.01.2024, https://www.ilfattoquotidiano.it/2024/01/08/senza-fissa-dimora-11-morti-in-una-settimana-le-vittime-sono-in-aumento/7403054/).

Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in einem Urteil vom 27.03.2023 (13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 59) im Hinblick auf die anerkannt Schutzberechtigten in Italien drohende Obdachlosigkeit die Auffassung vertritt, "eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit [sei] für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not", ist dies nicht vereinbar mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs; die Wertungen des OVG entbehren darüber hinaus einer hinreichenden sachlichen Grundlage. Das Oberverwaltungsgericht bezieht sich zur Rechtfertigung seiner Position zudem fälschlicherweise auf ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.05.2020 (1 C 34/19, juris, s. Bezugnahme in OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27.03.2023 - 13 A 10948/22.OVG -, juris Rn. 47), in welchem das Gericht aber tatsächlich nicht behauptet, Obdachlosigkeit stelle grundsätzlich keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dar. Stattdessen hebt das Bundesverwaltungsgericht das Bedürfnis, eine Unterkunft zu finden, als elementar und damit das Fehlen einer Unterkunft als typische Situation extremer materieller Not hervor (BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 34/19 -, juris Rn. 19, ebenso: EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-297/17 u.a. (Ibrahim) -, juris Rn. 90; EuGH, Urteil vom 19.03.2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris Rn. 92).

Soweit der Senat argumentiert, in Italien "[existierten] auch außerhalb der staatlichen Strukturen zahlreiche private Unterbringungsmöglichkeiten - namentlich Schlafplätze und Notunterkünfte -, betrieben etwa von Kirchen und Freiwilligenorganisationen" sowie "regional und kommunal zahlreiche Angebote, die temporäre Unterkunft, Versorgung und Verpflegung anbieten" (a. a. O., juris Rn. 63), geht er offenbar davon aus, dass es anerkannten Flüchtlingen zumutbar sei, ein Leben auf der Straße zu führen, sofern sie die Nächte dabei gelegentlich in Notschlafstellen verbringen können. Im Übrigen hätte der Senat seiner Entscheidung eine unzutreffende Definition von Obdachlosigkeit zugrunde gelegt, denn diese ist, im Gegensatz zum weiteren Oberbegriff der Wohnungslosigkeit, davon gekennzeichnet, dass Menschen im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten müssen - also gerade nicht dauerhaft bei Freunden oder in karitativen oder kommunalen Einrichtungen Unterkunft finden können. Notschlafstellen für die Nacht sind indes in Italien keine Unterkünfte, welche die elementaren Bedürfnisse der anerkannten Schutzberechtigten erfüllen könnten. Sie bieten Obdachlosen gerade keinen festen und zuverlässigen Schlafplatz und Rückzugsraum, sondern ihre Zugänglichkeit ist typischerweise auf bestimmte Öffnungszeiten beschränkt und abhängig von den tagesaktuellen Kapazitäten. Es ist Schutzberechtigten gerade nicht zuzumuten, "sich darüber zu informieren, an welchem Ort noch Kapazitäten bestehen und ihren Aufenthalt schließlich dorthin zu verlagern" (a. a. O., juris Rn. 69), also ihre Tage herumreisend auf der Suche nach dem nächsten Schlafplatz für die Nacht zu verbringen. Genauso wenig können sie darauf verwiesen werden, in "informellen Siedlungen [...] einen hinreichenden Schutz vor extremen Witterungsverhältnissen zu finden" (a. a. O., Rn. 70). Bei informellen Siedlungen handelt es sich häufig um Behelfslager bestehend aus Zelten oder Papphütten, in denen Geflüchtete unter unwürdigen Umständen und ohne Zugang zu sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Hygienevorrichtungen und Heizung leben müssen (aida, Country Report: Italy, 2022 Update, 31.05.2023, S. 157 f.).

Systemische Mängel des italienischen Asylsystems liegen darüber hinaus darin, dass die italienische Regierung den Zugang von Geflüchteten zum Asylverfahren zielgerichtet behindert und vereitelt. Die Situation Geflüchteter hat sich durch den Wechsel zu der rechtsextremen Regierung unter Giorgia Meloni noch verschärft. Die Menschenrechtskommissarin des Europarates zeigte sich nach einem Länderbesuch in Italien im Juni 2023 besorgt über die Erklärungen hochrangiger italienischer Politiker, die eine systematische Politik des Abfangens auf See und der Rückführung von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten fordern, um deren Ankunft zu verhindern (Council of Europe - Commissioner for Human Rights, Report following her visit to Italy from 19 to 23 June 2023, 21.11.2023, S. 7).

Die auf Zurückweisung und Abschreckung fokussierte italienische Asylpolitik wirkt sich auch auf Dublin-Verfahren aus. Bereits Anfang Dezember 2022 verkündeten die italienischen Behörden einen Aufnahmestopp für Dublin-Rückkehrer. Das italienische Innenministerium teilte in seinem Schreiben vom 05.12.2022 mit (deutsche Übersetzung nach VG Regensburg, Beschluss vom 23.01.2023 - RO 13 S 23.50009 -, juris):

"Hiermit möchten wir Sie darüber informieren, dass die Mitgliedstaaten aufgrund plötzlich aufgetretener technischer Gründe im Zusammenhang mit der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmemöglichkeiten aufgefordert werden, Überstellungen nach Italien ab morgen vorübergehend auszusetzen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung unbegleiteter Minderjähriger. Weitere und detailliertere Informationen zur Dauer der Aussetzung folgen."

In einem weiteren Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 07.12.2022 heißt es (deutsche Übersetzung nach VG Regensburg, a. a. O.):

"Ich schreibe im Anschluss an die vorherige Mitteilung vom 5. Dezember 2022 über die Aussetzung von Überstellungen, mit Ausnahme von Fällen der Familienzusammenführung unbegleiteter Minderjähriger, aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Aufnahmemöglichkeiten. In Anbetracht der hohen Zahl von Ankünften sowohl an den See- als auch an den Landgrenzen möchte ich Sie in diesem Zusammenhang über die Notwendigkeit einer Neuplanung der Aufnahmeaktivitäten für Drittstaatsangehörige informieren, auch unter Berücksichtigung des Mangels an verfügbaren Aufnahmeplätzen."

Die Überstellungen nach Italien sind bisher nicht wiederaufgenommen worden (Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 10.03.2023, S. 2: "Das Dublin-System krankt. Italien weigert sich seit Monaten, Asylbewerber zurückzunehmen."). Nach Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) der Schweiz aus Juli 2023 gibt es nach wie vor kein Signal oder konkretes Datum, wann der vorübergehende Aufnahmestopp aufgehoben werden wird (SEM, Italien: Dublin-Überstellungen und Rückübernahmeabkommen, 13.07.2023, https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html, aufgerufen am 08.02.2024). Von den 12.452 Übernahmeersuchen, die Deutschland in den ersten acht Monaten des Jahres 2023 gemäß dem Dublin-Verfahren an Italien gerichtet hatte, stimmte Rom nur zehn zu. Italiens Ministerpräsidentin Meloni erklärte, dass die Umverteilung von Migranten aus ihrer Sicht "zweitrangig" sei. Der einzige Weg, "das Problem für alle zu lösen" sei die Erstankünfte von Migranten in Italien zu unterbinden (Thomas Jansen, FAZ, 14.09.2023, https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/lampedusa-ruft-notstand-aus-mehr-als-7000-migranten-an-zwei-tagen-19173907.html, aufgerufen am 08.02.2024).

Das OVG Nordrhein-Westfalen führte im Beschluss vom 16.06.2023 (11 A 1132/22.A - asyl.net: M31640) aus, dass die Schreiben der italienischen Behörden vom 05. und 07.12.2022 nicht eine lediglich vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen darstellten. Soweit das Bundesamt ausführe, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien nicht ausgelastet seien, so spreche dies letztlich dafür, dass die Begründung für die Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben sei. Sollte die Aussetzung der Überstellungen damit nicht auf "technischen Gründen" bzw. der Auslastung des Aufnahmesystems beruhen, sondern auf dem (politischen) Willen der italienischen Behörden, so wäre in keiner Weise absehbar, ob, wann und unter welchen Bedingungen Überstellungen nach Italien bzw. ein Zugang zum italienischen Asylverfahren für Dublin-Rückkehrer wieder möglich sein würden. Die Zustimmungen zu Wiederaufnahmeersuchen anderer EU-Staaten, die die italienischen Behörden erteilten, hätten offensichtlich keinen Einfluss auf die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens.

Die Asylum Information Database (aida) führt in einem aktuellen Bericht vom 31.05.2023 aus, die Zahl der Plätze im Aufnahmesystem Italiens sei im Vergleich zum bestehenden Bedarf, einschließlich der Plätze für schutzbedürftige Personen, weitgehend unzureichend. Der Zugang zum Aufnahmesystem für alle, die Anspruch darauf hätten, stelle sich als Utopie dar (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 118). Aus der Weigerung der italienischen Behörden, Asylsuchende im Dublin-Verfahren rückzuübernehmen, ergeben sich erhebliche Zweifel jedoch nicht nur an der Verfügbarkeit ausreichender Aufnahmekapazitäten (so auch VG Braunschweig VG Braunschweig, Urteil vom 21.03.2023 - 7 A 446/19 -, n. v.), sondern bereits an der Bereitschaft Italiens, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren (so Nds. OVG, Beschluss vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 -, juris Rn. 21; VG Gießen, Beschluss vom 28.03.2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; VG Arnsberg, Urteil vom 24.01.2023 - 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 47; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28.02.2023 - 1a L 180/23.A -, juris Rn. 8; VG Stade, 22.03.2023 - 10 A 1884/22 -, n. v.; VG Köln, Beschluss vom 13.04.2023 - 26 L 403/23.A -, juris Rn. 11; anders VG Regensburg, Beschluss vom 23.01.2023 - RO 13 S 23.50009 -, juris; VG Bremen, Beschluss vom 16.03.2023 - 3 B 127/23 -, n. v.; VG Göttingen, Beschluss vom 06.01.2023 - 1 B 170/22 -, juris; VG Trier, Beschluss vom 05.04.2023 - 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Düsseldorf, Beschluss vom 27.03.2023 - 12 L 695/23.A -, juris Rn. 17; VG Hamburg, Urteil vom 27.03.2023 - 9 A 1520/20 -, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 17.03.2023 - 6 B 123/23 MD -, juris). Auch das höchste Verwaltungsgericht der Niederlande, der Raad van State, urteilte mit Beschluss vom 26.04.2023, dass sich die niederländischen Behörden gegenüber Italien nicht mehr auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens berufen und weiterhin davon ausgehen könnten, dass Italien seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen werde (Uitspraak 202207368/1/V1, https://www.raadvanstate.nl/actueel/nieuws/april/geen-asielzoekers-terug-naar-italie/@136978/202207368-1-v1/, aufgerufen am 08.02.2024).

Denn der Aufnahmestopp kann nicht losgelöst von dem sonstigen Umgang Italiens mit Asylsuchenden betrachtet werden. Vielmehr ist er nur eine weitere Ausprägung des Abschottungskurses der italienischen Regierung, welche bereits in den regelmäßigen Verstößen der italienischen Grenzschutzbehörden gegen das Non-Refoulement-Gebot zum Ausdruck kommen. Dieses Prinzip ist u. a. verankert in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der bestimmt, keiner der vertragschließenden Staaten werde einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Italien führt jedoch in erheblichem Maße Asylsuchende im Rahmen sog. "Push-backs", Rückschiebungen ohne individuelle Prüfung der Asylanträge, nach Libyen, nach Griechenland oder Slowenien zurück.

Im Hinblick auf die Migration von Geflüchteten aus Libyen nehmen die italienischen Behörden die "Push-backs" in der Regel nicht selbst vor, sondern delegieren diese an andere Akteure. Die italienische Regierung verlängerte am 02.02.2023 erneut die Vereinbarung ("Memorandum of Understanding") mit Libyen, welche die Bereitstellung von Finanzmitteln, Ausrüstung und technischer Unterstützung für die libyschen Behörden, insbesondere die libysche Küstenwache, für Patrouillen und die Rettung von Booten in internationalen Gewässern vorsieht. Die italienischen Behörden setzten sich dabei zum wiederholten Male über eine Entscheidung des Strafgerichts von Trapani in Sizilien vom 23.05.2019 hinweg, demzufolge das Abkommen gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung verstößt. Der Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für Libyen berichtete, dass zwischen Januar und Ende Oktober 2022 insgesamt 19.308 Personen von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht worden sein sollen, während 1.286 Personen als tot oder vermisst auf See gemeldet wurden (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 34 f.). Aufgrund mehrerer Schiffsunglücke sind zwischen Januar und Oktober 2023 fast 1.600 Menschen im zentralen Mittelmeer gestorben oder vermisst gemeldet worden (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees, Fact Sheet Italy, 11.12.2023, S. 2). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates kritisierte, dass die Vereinbarung zwischen Italien und Libyen keine verbindlichen Verpflichtungen zur Einführung eines Menschenrechtsüberwachungssystems enthält, obwohl Libyen nach Ansicht des UNHCR Libyen nicht die Kriterien für die Einstufung als sicherer Ort für die Ausschiffung nach einer Rettung auf See erfüllt und obwohl glaubwürdige Informationen darauf hindeuten, dass Migranten und Flüchtlinge in Libyen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen ausgesetzt waren. Die libysche Küstenwache hat sich wiederholt als ineffektiv bei der Reaktion auf Notrufe erwiesen und verwendet gewalttätige Praktiken, z. B. Manöver, bei denen das Boot in Seenot in Gefahr gerät, beschädigt oder versenkt wird, Schüsse und bewaffnete Drohungen gegen Boote von Migranten und privaten Schiffen, einschließlich italienischer Fischer und NGOs für Such- und Rettungsmaßnahmen (Council of Europe - Commissioner for Human Rights, Report following her visit to Italy from 19 to 23 June 2023, 21.11.2023, S. 13-14).

Im Jahr 2023 initiierte die italienische Regierung zudem ein umstrittenes Abkommen der EU mit Tunesien, obwohl es zahlreiche Hinweise auf schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten in Tunesien gibt. Die Vereinbarung zwischen der Europäischen Kommission und Tunesien sieht die Bereitstellung von 105 Millionen Euro an europäischen Geldern vor, um die irreguläre Migration nach und aus Tunesien einzudämmen (Mixed Migration Center, A damaging deal: abuses, departures from Tunisia continue following EU agreement, 15.09.2023, https://mixedmigration.org/articles/eu-tunisia-damaging-deal/, aufgerufen am 08.02.2024; Council of Europe - Commissioner for Human Rights, Report following her visit to Italy from 19 to 23 June 2023, 21.11.2023, S. 14-15). Schließlich schloss die italienische Regierung im November 2023 ein weiteres Abkommen mit Albanien, welches vorsieht, dass über das Mittelmeer kommende Migranten zukünftig in geschlossenen Aufnahmezentren in Albanien untergebracht werden sollen (Tagesschau, Kritik an Migrations-Deal mit Italien, 07.11.2023, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/italien-albanien-aufnahmezentren-migranten-100.html, aufgerufen am 08.02.2024). Gefährdete Personen sollen zwar von der Regelung ausgenommen werden und ihre Verfahren in Italien führen können. Nach Auffassung der Menschenrechtskommissarin des Europarates kann die Ausschiffung von Menschen nach Albanien die Bereitstellung angemessener Hilfe zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse unangemessen verzögern und damit das Leiden der auf See Geretteten verlängern. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass auf Schiffen keine adäquate Gefährdungsbeurteilung durchgeführt werden kann, da dies spezielles Fachwissen, sorgfältige Überlegungen und wesentliche Verfahrensgarantien erfordert, die an Bord von Schiffen grundsätzlich nicht gegeben sind. Durch das Memorandum werde eine extraterritoriale Ad-hoc-Asylregelung geschaffen, die durch viele rechtliche Unklarheiten gekennzeichnet sei (Council of Europe - Commissioner for Human Rights, Report following her visit to Italy from 19 to 23 June 2023, 21.11.2023, S. 15). Amnesty International verurteilte das Abkommen mit der Begründung, dass Italien damit gegen seine Verpflichtungen nach internationalem und EU-Recht sowie gegen die italienische Verfassung verstoße (Amnesty International, The Italy-Albania agreement on migration: Pushing boundaries, threatening rights, 19.01.2024, S. 10). Am 13. Dezember stoppte der oberste Richter des albanischen Verfassungsgerichts die Ratifizierung des Abkommens und erklärte, dass am 08.02.2024 eine öffentliche Anhörung stattfinden werde, um zu entscheiden, ob das Abkommen gegen die albanische Verfassung verstoße (Sou-Jie van Brunnersum, InfoMigrants, 29.12.2023, https://www.infomigrants.net/en/post/54201/2023-eu-migration-trends-border-patrols-homelessness-and-offshore-detention, aufgerufen am 08.02.2024).

Währenddessen werden Schiffe privater Seenotrettungsorganisationen immer wieder in den italienischen Häfen festgesetzt und am Auslaufen zu Rettungseinsätzen gehindert (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 29 ff.). Die Menschenrechtskommissarin des Europarates stellte fest, dass die Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen zunehmend auf vielfältige Weise behindert werden, unter anderem durch Verzögerungen bei der Zuweisung von Häfen für die Ausschiffung, Einreiseverbote in Hoheitsgewässer und strafrechtliche Ermittlungen. Einige NGO-Schiffe wurden auch von den Behörden beschlagnahmt, weil sie angeblich technische Anforderungen nicht erfüllten. Darüber hinaus kritisierte die Menschenrechtskommissarin, dass NGOs in der politischen Debatte nach wie vor ins Visier genommen werden und Gegenstand von Verleumdungskampagnen sind. Durch die Umsetzung des Gesetzesdekrets Nr. 1/2023, gepaart mit der Praxis der Zuweisung weit entfernter Häfen zur Anlandung wird nach der Auffassung der Menschenrechtskommissarin die Bereitstellung von lebensrettender Hilfe durch Schiffe von NGOs behindert (Council of Europe - Commissioner for Human Rights, Report following her visit to Italy from 19 to 23 June 2023, 21.11.2023, S. 10-12).

"Push-backs" von Italien nach Griechenland erfolgen ebenfalls auf dem Seeweg und auf Grundlage eines bilateralen Rückübernahmeabkommens aus dem Jahr 1999. Diese Praxis verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon am 21.10.2014 (Az. 16643/09, Sharifi u. a. v. Italien u. Griechenland, abrufbar unter https://hudoc.echr.coe.int) als Verletzung von Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK, welcher Kollektivausweisungen verbietet. Italien behauptete in der Folgezeit, diese Zurückweisungen eingestellt zu haben, doch aktuelle Recherchen belegen das Gegenteil. Geflüchtete werden noch immer von den adriatischen Häfen aus mit Personenfähren zurück nach Griechenland transportiert. Allein im Zeitraum zwischen Januar und Mitte November 2022 führten die italienischen Behörden auf diesem Weg an die 2.000 "Push-backs" und Rückübernahmen durch (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 37 ff.). Oft werden die Geflüchteten, darunter auch Minderjährige, zuvor tagelang inhaftiert und während der stundenlangen Überfahrt in geheimen Gefängnissen in Frachträumen, Garagen oder defekten Toiletten der Schiffe angekettet oder mit Handschellen gefesselt (SRF Investigativ, 18.01.2023, https://www.srf.ch/news/pushbacks-eingesperrt-auf-der-touristenfaehre-im-mittelmeer, aufgerufen am 08.02.2024). Der italienischen Organisation Associazione per Gli Studi Giuridici Sull'Immigrazione (ASGI) zufolge werden ähnliche Rückführungen auch mit Migranten durchgeführt, welche auf dem Seeweg von Kroatien oder Albanien aus nach Italien einreisen (ASGI, 02.04.2021, https://www.asgi.it/asilo-e-protezione-internazionale/network-porti-adriatici-respingimenti-e-riammissioni/, aufgerufen am 08.02.2024).

Schließlich praktizierten die italienischen Behörden auch informelle Rückübernahmen nach Slowenien, welche häufig in Kettenabschiebungen über Kroatien nach Bosnien-Herzegowina endeten. Allein im Jahr 2020 kam es zu 1.240 "Push-backs" von Italien nach Slowenien (Euro-Mediterranean Human Rights Monitor, 26.01.2021, https://reliefweb.int/report/italy/rome-court-decision-against-italy-s-illegal-migrant-pushbacks-significant-step-enar, aufgerufen am 08.02.2024). Mit Urteil vom 18.01.2021 entschied das Zivilgericht Roms (Az. 56420/2020, https://medea.asgi.it/wp-content/uploads/2021/04/Translation-Rome-ruling-on-chain-pushbacks-def.pdf, aufgerufen am 08.02.2024), die italienischen Behörden missachteten mit diesem Vorgehen das Recht des betroffenen Antragstellers auf einen wirksamen Rechtsbehelf, verstießen gegen die Notwendigkeit einer individuellen Prüfung seines Asylgesuchs und setzten ihn der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung aus. Infolge dieser Entscheidung wurden im Jahr 2021 lediglich sechs Menschen nach Slowenien rücküberstellt. Ab Ende Juli 2021 wurden sodann an der ostitalienischen Grenze jedoch wieder gemischte Patrouillen unter Beteiligung der italienischen und slowenischen Polizei durchgeführt. Im Jahr 2022 wurden 13.000 Migranten an der Landgrenze zwischen Slowenien und Italien von der Grenzpolizei registriert (zum Vergleich im Jahr 2021: 5.181 Migranten). Im Dezember 2022 bestätigte der Unterstaatssekretär des Innenministeriums Emanuele Prisco bei einem Besuch in Triest die politische Absicht der Regierung, die informelle Rückübernahme an der Grenze zu Slowenien wiederaufzunehmen. Jüngsten Informationen zufolge hat die Region Friaul-Julisch Venetien 65 mobile Kameras mit Fotofallen gekauft, um sie in den Grenzgebieten von Triest und der Provinz Gorizia zu platzieren (aida, Country Report: Italy. 2022 Update, 31.05.2023, S. 39-41).

Diese Erkenntnisse bestätigen die Einschätzung, dass es Italien nicht nur an den Kapazitäten, sondern auch an der Bereitschaft mangelt, Geflüchteten ordnungsgemäßen Zugang zum Asylverfahren zu gewähren. Auch die Klägerin ist ihren Angaben zufolge bereits von dieser Abschottungspolitik betroffen gewesen, als die italienischen Behörden ihr während ihres ersten Aufenthalts in Italien keine Gelegenheit gaben, einen Asylantrag zu stellen und ihre Verfolgungsgründe zu schildern, sondern sie stattdessen zum Verlassen des Landes aufforderten. Es ist nicht ersichtlich, warum die italienischen Behörden die Klägerin allein aufgrund der zwischenzeitlichen Einleitung eines Asylverfahrens in Deutschland bei einer Rückkehr nach Italien anders behandeln sollten, zumal sie nicht einmal ihr Einverständnis mit einer Rückführung der Klägerin erteilt haben.

Auch wenn die beschriebenen Praktiken jedenfalls weit überwiegend solche Asylbewerber betreffen dürften, welche erst kürzlich ins italienische Hoheitsgebiet eingereist sind, erschüttern sie dennoch das Vertrauen der EU-Mitgliedsstaaten in die Annahme, dass Italien die menschenrechtlichen Garantien, welche dem Dublin-Verteilungssystem zugrunde liegen, zuverlässig achtet und umsetzt. Die Erkenntnisse hinsichtlich des Vorgehens der italienischen Behörden an den Außengrenzen der europäischen Union verwehren es den Behörden und Gerichten anderer EU-Mitgliedsstaaten somit, sich ohne individuelle Prüfung der Aufnahmebedingungen für die jeweiligen Asylantragsteller auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zu berufen. Selbst wenn Italien die im Dezember 2022 verkündeten Aufnahmestopps widerruft und Dublin-Rücküberstellungen wieder ermöglicht, erfordern die festgestellten systemischen Mängel im Asylverfahren Italiens in jedem Einzelfall eine eingehende Untersuchung und Prüfung der Aufnahmebedingungen, welche der jeweilige Antragsteller bei einer Rückführung nach Italien zu erwarten hat. Eine individuelle Zusicherung der italienischen Behörden, dass die Klägerin entgegen des Aufnahmestopps wiederaufgenommen werden und dass bei einer Rücküberstellung eine angemessene Unterbringung erfolgen und möglichen besonderen (medizinischen) Erfordernissen Rechnung getragen werden wird, würde diesen Anforderungen, selbst wenn die Beklagte eine solche noch einholen würde, an sich nicht genügen (anders VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 -, juris Rn. 41; VG Berlin, Beschluss vom 22.12.2022 - 33 L 376/22 A -, juris Rn. 36; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22.02.2022 - 1a K 2967/19.A -, juris Rn. 62). Denn ein Vertrauen in derartige Auskünfte der italienischen Behörden ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr bzw. noch nicht wieder gerechtfertigt.

Dementsprechend sind die Feststellung, dass Abschiebungsverbote in Bezug auf Italien nicht vorliegen, die Abschiebungsanordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ebenso rechtwidrig und waren aufzuheben.