Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 20.12.2016, Az.: 8 LB 184/15
Asyl; Berufung; Dublin III-Verfahren; systemische Mängel; Ungarn
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 20.12.2016
- Aktenzeichen
- 8 LB 184/15
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2016, 43366
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 11.05.2015 - AZ: 15 A 37/15
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1a AsylVfG
- § 34a AsylVfG
- § 77 Abs 1 S 1 AsylVfG
- Art 3 Abs 2 EUV 604/2013
Tenor:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichterin der 15. Kammer - vom 11. Mai 2015 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Der Beschluss ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger wendet sich gegen seine von der Beklagten beabsichtigte Rücküberstellung nach Ungarn im Rahmen des Dublin-Verfahrens.
Der Kläger ist kosovarischer Staatsangehöriger. Nach seinen Angaben reiste er am 15. Oktober 2014 auf dem Landweg mit seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern in das Bundesgebiet ein und stellte am 24. Oktober 2014 einen Asylantrag. In dem am selben Tage bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geführten Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates zur Durchführung des Asylverfahrens gab er an, keine Kenntnis vom konkreten Reiseweg zu haben.
Am 30. Oktober 2014 wurde der Beklagten ein EURODAC-Treffer bezüglich Ungarns mitgeteilt. Die Beklagte stellte daraufhin am 10. November 2014 ein Wiederaufnahmegesuch bei der ungarischen Asylbehörde. Diese erklärte sich unter dem 14. November 2014 mit Hinweis auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin III-Verordnung zur Wiederaufnahme des Klägers bereit. Sie teilte mit, dass der Kläger, seine Lebensgefährtin und die gemeinsamen Kinder am 2. Oktober 2014 in Ungarn einen Asylantrag gestellt hätten, das Asylverfahren nach deren Verschwinden aber am 27. Oktober 2014 eingestellt worden sei.
Mit Bescheid vom 17. November 2014 lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers auf Durchführung eines Asylverfahrens als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Zur Begründung führt die Beklagte aus, dass nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b der Dublin III-Verordnung Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig und daher gemäß § 27a des Asylverfahrensgesetzes der im Bundesgebiet gestellte Asylantrag unzulässig sei. Außergewöhnliche humanitäre Umstände, die sie zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin III-Verordnung veranlassen könnten, seien nicht ersichtlich. Das ungarische Asylsystem leide auch nicht an systemischen Mängeln. Die Anordnung der Abschiebung beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes. Der Bescheid wurde dem Kläger am 21. November 2014 zugestellt.
Am 28. November 2014 hat der Kläger vor dem Verwaltungsgericht Hannover Klage erhoben und die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt. Zur Begründung hat er auf systemische Mängel des ungarischen Asylsystems hingewiesen und eine behandlungsbedürftige Erkrankung geltend gemacht, deren medizinische Versorgung in Ungarn nicht sichergestellt sei.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 17. November 2014 aufzuheben.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen,
und zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid Bezug genommen.
Das Verwaltungsgericht Hannover - Einzelrichterin der 15. Kammer - hat mit Beschluss vom 9. Januar 2015 - 15 B 39/15 - die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. November 2014 angeordnet. Das Verwaltungsgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass nicht feststehe, ob die Abschiebung im Sinne von § 34a Abs. 1 des Asylverfahrensgesetzes durchgeführt werden könne. Es bestünden konkrete Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens in Ungarn. Insbesondere würden Asylbewerber und auch sogenannte Dublin-Rückkehrer praktisch ausnahmslos inhaftiert, wobei sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung als auch hinsichtlich der Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Haftanordnung Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Praxis vorlägen. Kritisch sei auch die Behandlung der Asylanträge von sogenannten Dublin-Rückkehrern zu bewerten. Selbst wenn gesetzlich der Zugang zum Asylverfahren und die vollständige Prüfung der Asylgründe vorgesehen seien, gelte eine Ausnahme, wenn der Asylbewerber seinen Antrag stillschweigend oder ausdrücklich zurückgenommen habe. In diesen Fällen werde der erneut zu stellende Asylantrag als unzulässig oder offensichtlich unbegründet angesehen, ohne dass einem Rechtsmittel hiergegen aufschiebende Wirkung zukomme.
Mit Urteil vom 11. Mai 2015 hat das Verwaltungsgericht Hannover - Einzelrichterin der 15. Kammer - den Bescheid der Beklagten vom 17. November 2014 aufgehoben. Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung ausgeführt, dass der angefochtene Bescheid rechtswidrig sei und den Kläger in seinen Rechten verletze. Dessen Asylantrag sei nicht nach § 27a des Asylverfahrensgesetzes unzulässig. Die Beklagte gehe zwar zu Recht davon aus, dass grundsätzlich Ungarn für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei, weil der Kläger dort seinen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt und die ungarischen Behörden dem Wiederaufnahmeersuchen der Beklagten zugestimmt und ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages erklärt hätten. Die Beklagte sei aber ausnahmsweise zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung verpflichtet, weil das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn systembedingte Mängel aufwiesen, die gleichsam zwangsläufig eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der in diesen Mitgliedsstaat überstellten Asylbewerber befürchten lasse. Dies gelte insbesondere mit Blick auf die sogenannte Asylhaft. Auch wenn in diesem Bereich Verbesserungen zu beobachten seien, bestünden Anhaltspunkte dafür, dass die Asylhaft nicht ausnahmsweise, sondern in einer Vielzahl von Fällen und systematisch verhängt werde. Die Haftgründe seien ungewöhnlich offen und weitreichend ausgestaltet. Die Haft werde gewöhnlich schematisch ohne Berücksichtigung individueller Besonderheiten bei den betroffenen Personen verhängt. Betroffen seien in zahlreichen Fällen auch sogenannte Dublin III-Rückkehrer. Die Haftbedingungen seien in Bezug auf die menschliche Behandlung der Asylsuchenden als kritisch einzustufen. Es gebe Mängel in der medizinischen Versorgung und ärztlichen Betreuung. Teilweise sei der hygienische Mindeststandard nicht gewährleistet. Asylbewerber würden systematisch wie Angeklagte in Strafverfahren zu Terminen außerhalb der Einrichtung gefesselt und in Handschellen aus- und vorgeführt. Effektive Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Anordnung der Asylhaft bestünden nicht. Sei aufgrund dieser systemischen Mängel nicht Ungarn, sondern Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, erweise sich auch die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes gestützte Anordnung der Abschiebung nach Ungarn als rechtwidrig.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache durch Beschluss vom 9. November 2015 - 8 LA 113/15 - zugelassene Berufung der Beklagten.
Die Beklagte nimmt zur Begründung der Berufung Bezug auf den angegriffenen Bescheid, ihr erstinstanzliches Vorbringen und ihren Berufungszulassungsantrag.
Vertiefend führt sie aus, dass systemische Mängel des ungarischen Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen nicht bestünden. Schutzsuchende hätten in Ungarn Zugang zu einem funktionierenden Asylsystem, die Unterbringungs- und Versorgungssituation entspreche internationalen Standards und es stehe eine Integrationsunterstützung für Personen mit Schutzstatus bereit. Im Jahr 2015 seien in Ungarn 177.135 Asylanträge gestellt worden. Ungarn verfüge in drei offenen Aufnahmeeinrichtungen über etwa 1.000 Plätze, würde bei Erreichen der Kapazitätsgrenzen aber die erforderlichen Maßnahmen ergreifen. Zwar seien Dublin-Rückkehrer nicht mehr generell von der Asylhaft ausgenommen. Es ergebe sich auch aus einigen Quellen, dass sogenannte Dublin-Rückkehrer häufiger als Ersteinreisende von Asylhaft betroffen seien. Diese würden aber nicht regelmäßig in Asylhaft genommen. Tatsächlich seien im ersten Halbjahr 2015 492 Personen und damit 0,7 % aller Asylantragsteller in Asylhaft genommen worden. Es seien nicht alle Asylhaftplätze belegt gewesen. Dies spreche für einen maßvollen Umgang der ungarischen Behörden mit der Asylhaft. Die Zahlen ließen den Rückschluss zu, dass Menschen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsstaaten deutlich seltener mit der Anwendung von Asylhaft rechnen müssten. Die Haftbedingungen seien auch nicht an sich menschenunwürdig. Es komme dort nicht systematisch zu Menschenrechtsverletzungen. Die medizinische Versorgung sei hinreichend gewährleistet. Auch die Anwendung der seit dem 1. August 2015 in Ungarn geltenden Rechtslage, wonach Serbien sicherer Drittstaat sei, die Asylverfahren verkürzt und Asylanträge abgelehnt würden, wenn sich ein Asylbewerber länger als 48 Stunden aus der ihm zugewiesenen Unterkunft entferne, begründe keine systemischen Mängel des Asylverfahrens.
Asylsuchende würden im Rahmen des Dublin-Verfahrens auch tatsächlich nach Ungarn überstellt. Deutschland habe im Jahr 2015 14.587 und vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Mai 2016 5.075 Ersuchen an Ungarn gestellt. Tatsächlich seien im Jahr 2015 192 Personen, vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Mai 2016 135 Personen, im Juni 2016 30 Personen, im Juli 2016 19 Personen und im August 2016 30 Personen von Deutschland nach Ungarn überstellt worden. Aus der geringen Zahl tatsächlich erfolgter Überstellungen könne nicht hergeleitet werden, dass Ungarn zur Übernahme nicht bereit sei. Ungarn stimme den Übernahmeersuchen weiterhin zu und erkläre sich damit grundsätzlich für die Bearbeitung der betroffenen Asylanträge zuständig.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 11. Mai 2015 - Einzelrichterin der 15. Kammer - zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Beiakte A) verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet über die Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.
Die nach Zulassung durch den Senat statthafte und auch sonst zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. November 2014 zu Recht aufgehoben. Der Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger dadurch in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
In dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats liegen die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nicht vor (1.) mit der Folge, dass auch die Abschiebungsanordnung zu Unrecht erlassen wurde (2.) und der Bescheid insgesamt aufzuheben ist (vgl. zur Statthaftigkeit der Anfechtungsklage: BVerwG, Urt. v. 27.10.2015 - BVerwG 1 C 32.14 -, BVerwGE 153, 162, 165 f.).
1. Nach Absatz 1 Nr. 1 Buchst. a des § 29 AsylG, der mit Wirkung vom 6. August 2016 an die Stelle des von der Beklagten angewendeten § 27a AsylG a.F. getreten ist (vgl. Art. 6 Nrn. 6 und 7, Art. 8 Abs. 1 des Integrationsgesetzes vom 31.7.2016, BGBl. I S. 1939), ist ein Asylantrag unzulässig, wenn nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31 - Dublin III-VO -), nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt.
Zwar wäre nach Art. 7, 13 Abs. 1 Satz 1, 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO an sich Ungarn für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig, da kein anderes vorrangiges Kriterium nach Art. 8 bis 12 Dublin III-VO erfüllt ist und Ungarn der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze der Kläger aus einem Drittstaat kommend - ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal - überschritten hat. Diese Zuständigkeit wäre auch zwischenzeitlich nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO, wonach die Zuständigkeit zwölf Monate nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts endet, wieder entfallen, weil sie nur dann erlischt, wenn der Asylbewerber innerhalb von zwölf Monaten nach dem Tag des illegalen Grenzübertritts keinen Asylantrag stellt. Diese einschränkende Auslegung des Wortlauts ergibt sich daraus, dass Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO als maßgeblichen Zeitpunkt für die Zuständigkeitsbestimmung den Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat festlegt (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 47).
Gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO ist die Zuständigkeit Ungarns aber ausgeschlossen und die Zuständigkeit der Beklagten begründet worden. Der Kläger kann nicht an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO bestimmten anderen Mitgliedstaat als Ungarn überstellt werden, da die Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuchs nach Art. 21 Abs. 1 UAbs. 3 Dublin III-VO abgelaufen ist. Es erweist sich auch als unmöglich, den Kläger nach Ungarn zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EUGrCh mit sich bringen.
Der Senat hat hierzu in seinem Urteil vom 15. November 2016 - 8 LB 92/15 - ausgeführt:
"Systemische Mängel sind solche, die entweder bereits im Asyl- und Aufnahmeregime selbst angelegt sind und von denen alle Asylbewerber oder bestimmte Gruppen von Asylbewerbern deshalb nicht zufällig und im Einzelfall, sondern vorhersehbar und regelhaft betroffen sind, oder aber tatsächliche Umstände, die dazu führen, dass ein theoretisch sachgerecht konzipiertes und nicht zu beanstandendes Asyl- und Aufnahmesystem – aus welchen Gründen auch immer – faktisch ganz oder in weiten Teilen seine ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllen kann und weitgehend unwirksam wird (Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 , a.a.O., juris Rn. 42 m.w.N.)
Zur Bestimmung der wesentlichen Kriterien für das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wird auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu dem mit Art. 4 EUGrCh übereinstimmenden Art. 3 EMRK zurückgegriffen (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015, a.a.O., juris Rn. 43; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 , a.a.O., juris Rn. 112). Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie absichtlich über Stunden erfolgt und entweder tatsächliche körperliche Verletzungen oder schwere körperliche oder psychische Leiden verursacht. Als erniedrigend ist eine Behandlung dann anzusehen, wenn sie eine Person demütigt oder herabwürdigt und fehlenden Respekt für ihre Menschenwürde zeigt oder diese herabmindert oder wenn sie Gefühle der Furcht, Angst oder Unterlegenheit hervorruft, die geeignet sind, den moralischen oder psychischen Widerstand der Person zu brechen (EGMR, Urt. v. 21.1.2011 - 30696/09 -, M.S.S. v. Belgium and Greece, juris Rn. 220). Die Behandlung bzw. Misshandlung muss dabei, um in den Schutzbereich des Art. 3 EMRK zu fallen, einen Mindestgrad an Schwere erreichen. Dessen Beurteilung ist allerdings relativ, hängt also von den Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie mitunter auch vom Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., juris Rn. 219).
Zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EUGrCh sowie mit der GFK und der EMRK, muss sich das Gericht die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 - 10 B 6/14 -, juris Rn. 9), was dem Maßstab des "real risk" in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entspricht (vgl. BVerwG, Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 -, juris Rn. 32).
Das erfordert eine aktuelle Gesamtwürdigung der zur jeweiligen Situation vorliegenden Berichte und Stellungnahmen, wobei regelmäßigen und übereinstimmenden Berichten von internationalen Nichtregierungsorganisationen besondere Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschl. v. 21.4.2016 - 2 BvR 273/16 -, juris Rn. 11; vgl. auch EuGH, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., juris Rn. 90-91). Das gilt insbesondere für die Stellungnahmen des UNHCR angesichts der Rolle, die diesem in Hinblick auf die Überwachung der Einhaltung der GFK (vgl. dort Art. 35) übertragen worden ist (vgl. EuGH, Urt. v. 30.5.2013 - C-528/11 -, juris Rn. 44).
Dabei ist auf die Situation abzustellen, die der betreffende Asylbewerber bei einer Rücküberstellung in den an sich zuständigen Staat nach der Dublin II-VO voraussichtlich vorfinden würde, d.h. es kommt auf die rechtliche und tatsächliche Ausgestaltung des Asylverfahrens und die Aufnahmebedingungen an, die Dublin-Rückkehrer in einer vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Lage antreffen, wohingegen die Situation von Flüchtlingen in anderen rechtlichen oder tatsächlichen Lagen keine unmittelbare Rolle spielt, sondern allenfalls ergänzend herangezogen werden kann, sofern sich diese Verhältnisse auch auf die Situation des betreffenden Asylbewerbers auswirken (können) (vgl. Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015 , a.a.O., juris Rn. 49).
Maßgeblich für die Bewertung der rechtlichen und tatsächlichen Situation des Asylsystems des Mitgliedstaats, in den der Asylbewerber überstellt werden soll, ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. EGMR, Urt. v. 6.6.2013 - 2283/12 -, Mohammed v. Austria, Rn. 96 ["If the applicant has not yet been removed when the Court examines the case, the relevant time will be that of the proceedings before the Court".]; EGMR, Urt. v. 3.4.2014 - 71932/12 -, Mohammadi v. Austria, Rn. 63; BVerfG, Beschl. v. 21.4.2016, a.a.O., juris Rn. 11; aA: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016 - A 11 S 974/16 -, juris Rn. 26, 24 [Zeitpunkt der Einreise in das Bundesgebiet]). Das ergibt sich nicht nur aus der Regelung des § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, sondern auch aus der Überlegung, dass ein Asylbewerber ansonsten in einen zuvor nicht, jedoch mittlerweile mit systemischen Mängeln des Asylverfahrens behafteten Mitgliedstaat (rück)überstellt werden könnte. Zwar regelt Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO (gleichlautend: Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO), dass bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats von der Situation auszugehen ist, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt. Jedoch bezieht sich diese Vorschrift nur auf die Bestimmung des regulär zuständigen Mitgliedstaats. Im Falle systemischer Mängel des Asylverfahrens ist in Hinblick auf die nunmehr auch in Art. 3 Abs. 2 Satz 2 und 3 Dublin III-VO übernommene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Schutz des Asylbewerbers eine Ausnahme zu machen. Dabei wird an die Unmöglichkeit der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat angeknüpft, so dass maßgeblich der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, der der potentiellen Überstellung zeitlich am nächsten kommt, sein muss.
Zusammenfassend liegt eine systemisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK (insbesondere) vor, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er als den nach der Dublin II-VO "zuständigen" Staat überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbarer Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris Rn. 126; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 25.6.2015, a.a.O., juris Rn. 46).
bb. Nach diesen Maßstäben bestehen in Ungarn aktuell grundlegende Defizite sowohl hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren als auch in Bezug auf dessen Ausgestaltung sowie in Hinblick auf die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens, die in ihrer Gesamtheit betrachtet, zur Überzeugung des Senats die Annahme rechtfertigen, dass dem Kläger bei einer Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK droht (ebenfalls systemische Mängel annehmend: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris [auf die Lage im Oktober 2016 abstellend]; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., juris [auf die Lage im Jahr 2014 abstellend]; Englischer High Court of Justice, Urt. v. 5.8.2016 - [2016] EWHC 2049 [Admin] -, Ibrahimi & Abasi v. Secretary of State for the Home Department; Finnisches Oberstes Verwaltungsgericht, Urt. v. 20.4.2016 - KHO:2016:53 - [keine sichere Feststellung möglich, dass Ungarn keine systemischen Mängel aufweist]; VG Arnsberg, Urt. v. 16.9.2016 - 7 K 2918/15.A -, juris; VG Münster, Beschl. v. 23.8.2016 - 2 L 1277/16.A -, juris; VG Köln, Beschl. v. 16.8.2016 - 20 L 1609/16.A -, juris; VG München, Beschl. v. 4.8.2016 - M 24 S 16.50492 -, juris; VG München, Beschl. v. 19.7.2016 - M 12 S 16.50456 -, juris; VG München, Beschl. v. 8.7.2016 - M 8 S 16.50302 -, juris; VG Frankfurt [Oder], Beschl. v. 31.5.2016 - 7 L 14/16.A -, juris; VG Gelsenkirchen, Urt. v. 31.5.2016 - 18a K 5911/14.A -, juris; VG Berlin, Beschl. v. 27.5.2016 - 6 L 276.16 A -, juris; VG Braunschweig, Urt. v. 25.5.2016 - 1 A 49/16 -, n.v.; VG Dresden, Urt. v. 18.3.2016 - 7 K 1935/15.A -, juris; VG Potsdam, Urt. v. 11.3.2016 - VG 12 K 216/15.A -, juris; VG Aachen, Urt. v. 10.3.2016 - 5 K 1049/15.A -, juris; VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 9.3.2016 - 7 L 353/16.F.A -, juris; VG Köln, Urt. v. 7.3.2016 - 16 K 3587/15.A -, juris; VG Göttingen, Beschl. v. 12.1.2016 - 2 B 295/15 -, juris; VG Freiburg, Urt. v. 4.1.2016 - A 5 K 1838/13 -, juris; VG Oldenburg, Urt. v. 2.11.2015 - 12 A 2572/15 -, juris; systemische Mängel verneinend: EGMR, Urt. v. 3.7.2014, a.a.O. [verbleibende Mängel, jedoch Verbesserung hinsichtlich Asylhaft, nunmehr inhaltliche Prüfung des Asylgesuchs nach Rücküberstellung und keine Anwendung der sicheren Drittstaatenregelung mehr]; EGMR, Urt. v. 6.6.2013, a.a.O. [Mängel vorhanden, jedoch keine Empfehlung des UNHCR zur Unterlassung von Rücküberstellungen, geplante Gesetzesänderungen hinsichtlich Asylhaft und Verringerung der Haftzahlen]; VG Cottbus, Beschl. v. 13.9.2016 - 5 L 308/16.A -, juris; VG München, Urt. v. 31.8.2016 - M 7 K 15.50718 -, juris; VG München, Beschl. v. 5.8.2016 - M 1 S 16.50383 -, juris; VG Ansbach, Beschl. v. 28.6.2016 - AN 3 S 16.50214 -, juris; VG München, Urt. v. 10.6.2016 - M 12 K 16.50103 -, juris; VG Osnabrück, Urt. v. 18.5.2016 - 5 A 68/16 -, juris; VG Würzburg, Urt. v. 30.3.2016 - W 2 K 14.50204 -, juris; VG Frankfurt a. M., Beschl. v. 7.3.2016 - 5 L 432/16.F.A -, juris; VG Berlin, Urt. v. 4.3.2016 - 23 K 323.14 A -, juris; VG Gießen, Urt. v. 15.2.2016 - 2 K 4455/15.GI.A -, juris; VG Augsburg, Beschl. v. 27.1.2016 - Au 4 S 16.50004 -, juris; VG Dresden, Urt. v. 12.1.2016 - 2 K 1695/15.A -, juris; VG Stade, Beschl. v. 4.11.2015 - 1 B 1749/15 -, juris; offen gelassen: Österreichischer VGH, Entscheidung v. 8.9.2015 - Ra 2015/18/0113 -).
(1) Bei einer Rücküberstellung nach Ungarn droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung ohne individualisierte Prüfung von Haftgründen.
Nach den auf die Jahre 2013 und 2014 bezogenen Auskünften des UNHCR wurden in diesem Zeitraum Dublin-Rückkehrer grundsätzlich – mit Ausnahme von Familien und besonders "verletzlichen" Asylbewerbern – in Haft genommen (Stellungnahmen an das VG Düsseldorf vom 9.5.2014 [UNHCR 2014/I] und 30.9.2014 [UNHCR 2014/II]; ebenso: Auskunft von Pro Asyl an VG Düsseldorf vom 31.10.2014 [Pro Asyl 2014]).
Hinsichtlich des Zeitraums Anfang Januar 2015 bis Ende November 2015 hat die ungarische Asylbehörde gegenüber dem Menschenrechtskommissar des Europarats angegeben, dass 332 von 1.338 Dublin-Rückkehrern in Haft genommen worden seien (Third Party Intervention by the Council of Europe Commissioner for Human Rights, Applications No. 44825/15 and No. 44944/15, 17.12.2015, Rn. 41 [CoECfHR 2015]). Ob vor diesem Hintergrund die Auskünfte des Auswärtigen Amts zutreffen, dass es keine offiziellen statistischen Informationen darüber gebe, ob Dublin-Rückkehrer regelmäßig oder ausnahmsweise inhaftiert werden (Auskunft an das VG Regensburg vom 27.1.2016 [AA 2016]; Auskunft an das VG Potsdam vom 21.6.2016) kann letztlich nicht geklärt werden. Jedenfalls lässt die Auskunft der ungarischen Asylbehörde darauf schließen, dass der Anteil der inhaftierten Dublin-Rückkehrer im Jahr 2015 zwar gesunken, das Risiko der Inhaftierung jedoch beachtlich geblieben ist, zumal offenbar insbesondere männliche, alleinstehende Dublin-Rückkehrer – wie der Kläger – betroffen sind (vgl. CoECfHR 2015, Rn. 41).
Hinsichtlich des Jahres 2016 lassen sich den vorhandenen Erkenntnismitteln nur Angaben zum Verhältnis der inhaftierten Asylbewerber zur Gesamtheit aller in Ungarn befindlichen Asylbewerber (d.h. nicht nur der Dublin-Rückkehrer) entnehmen, was nur bedingt einen Rückschluss auf die Inhaftierungsquote von Dublin-Rückkehrern zulässt, zumal die Zahlen nicht den Eindruck vollständiger Kohärenz vermitteln, zumindest jedoch erheblich variieren. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge (Hungary: Key Asylum Figures as of 1 September 2016 [HHC 2016/I]) befanden sich unter Bezugnahme auf Angaben des UNHCR am 29. August 2016 233 von insgesamt 707 Asylbewerbern in Asylhaft, während nach einem früheren Bericht des Hungarian Helsinki Committee (The Reception Infrastructure for Asylum-Seekers in Hungary, Juni 2016 [HHC 2016/II]) am 30. Mai 2016 702 Asylbewerber inhaftiert und 1583 in offenen Einrichtungen untergebracht waren. Laut Angaben von Amnesty International (Stranded hope, Hungary’s sustained attack on the rights of refugees and migrants, September 2016, S. 24 [AI 2016/I]) befanden sich unter Verweis auf das Hungarian Helsinki Committee am 1. August 2016 700 der insgesamt 1.200 registrierten Asylbewerber in Asylhaft. Unabhängig von der Divergenz dieser Inhaftierungszahlen legen deren beachtliche Höhen auch für das Jahr 2016 den Schluss nahe, dass nach wie vor ein wesentlicher Anteil der Dublin-Rückkehrer in Haft genommen wird.
Die Asylhaft kann bis zu einer Dauer von 72 Stunden durch die ungarische Asylbehörde angeordnet werden und bis zu einer Dauer von 6 Monaten gerichtlich verlängert werden, wobei (spätestens) alle 60 Tage eine Haftprüfung stattzufinden hat (aida, Country Report: Hungary, November 2015, S. 63 [aida 2015]; bordermonitoring.eu / Pro Asyl, Gänzlich unerwünscht – Entrechtung, Kriminalisierung und Inhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn, Juli 2016, S. 26 [BM-PA 2016]).
Die Entscheidung, ob ein Asylbewerber in Asylhaft genommen oder einer offenen Aufnahmeeinrichtung zugewiesen wird, wird nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln regelmäßig ohne nachvollziehbare Gründe, mithin willkürlich, vorgenommen (CoECfHR 2015, Rn. 22; HHC 2016/II; Human Rights Watch, Hungary: Locked Up for Seeking Asylum, 1.12.2015 [HRW 2015]; diplomatisch zurückhaltend: United Nations - General Assembly - Human Rights Council, Report of the Working Group on Arbitrary Detention - Mission to Hungary, 3.7.2014, Rn. 105). Zwar dürfte das ungarische Asylhaftrecht nach dessen Neuregelung im Jahr 2015 nunmehr im Wesentlichen in Einklang mit den Vorgaben der Richtlinie 2013/33/EU (Abl. 2013, L 180/96; AufnahmeRL) stehen (ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., juris Rn. 36). Nach Art. 8 AufnahmeRL darf Haft nicht allein wegen der Beantragung internationalen Schutzes, sondern nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung aus bestimmten Haftgründen angeordnet werden, wenn dies erforderlich und keine weniger einschneidende Maßnahme wirksam ist. Jedoch sind die Haftgründe "Vermutung der ausschließlichen Asylantragstellung zur Verzögerung oder Verhinderung der Abschiebung", "Fluchtgefahr" und "Gefahr für die öffentliche Sicherheit" sehr weit gefasst und gestatten dadurch eine – oftmals willkürliche – praktische Auslegung, die faktisch die Inhaftierung jedes Asylbewerbers ermöglicht (vgl. BM-PA 2016, S. 24; aida 2015, S. 60-61).
Behördliche und gerichtliche Haftanordnungen und -prüfungen erfolgen im Regelfall schematisch ohne Prüfung des Einzelfalls und ohne Abwägung milderer Mittel (aida 2015, S. 61-62; UNHCR comments and recommendations on the draft modification of certain migration, asylum-related and other legal acts for the purpose of legal harmonisation, 7.1.2015, S. 12; UNHCR 2014/I; UNHCR 2014/II). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil vom 5. Juli 2016 (9912/15, O.M. v. Hungary, Rn. 52, 54) hinsichtlich einer gerichtlichen Haftanordnung aus dem Jahr 2014 festgestellt, dass der Fall nicht hinreichend individualisiert bewertet worden ist und sich die Haft am Rande der Willkür bewegte ("the applicant`s detention verged on arbitrariness"). Selbst eine Arbeitsgruppe des ungarischen Obersten Gerichtshofs (Kuriá) ist in einem "Report on the courts` refugee law-related jurisprudence" vom 13. Dezember 2014 zu dem Ergebnis gekommen, dass der Rechtsschutz in Zusammenhang mit der Asylhaft ineffizient ist; die von der Arbeitsgruppe abgegebenen Empfehlungen haben jedoch an der Rechtspraxis wohl nichts geändert (aida 2015, S. 69). Dabei leidet der Rechtsschutz unter anderem daran, dass die von Amts wegen beigeordneten Rechtsanwälte regelmäßig eine passive Rolle während der gerichtlichen Haftprüfung einnehmen, ohne sich ernsthaft für ihre Mandanten einzusetzen (aida 2015, S. 70; BM-PA 2016, S. 26). Hinzu kommt, dass Alternativen zur Asylhaft zwar im ungarischen Asylgesetz in Gestalt der Hinterlegung einer Sicherheitsleistung, der Zuweisung eines Aufenthaltsorts sowie der Verfügung einer Meldeauflage vorgesehen sind, jedoch sich deren Einsatz in der Praxis auf die Anordnung von Sicherheitsleistungen in seltenen Fällen und meist nur auf Initiative des Asylbewerbers beschränkt (CoECfHR 2015, Rn. 18; aida 2015, S. 61; BM-PA 2016, S. 25).
(2) Die Haftbedingungen in den ungarischen Asylhaftanstalten lassen nach der bestehenden Auskunftslage ebenfalls zum Teil erhebliche Mängel erkennen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., juris Rn. 39). Die ausgelasteten, allerdings nicht (mehr) überfüllten Asylhaftanstalten (aida 2015, S. 59) weisen den Erkenntnismitteln zufolge zahlreiche Missstände auf.
Inhaftierte Asylbewerber werden wie Strafgefangene behandelt, indem sie zu gerichtlichen Anhörungen oder anderen Terminen außerhalb der Haftanstalt mit Handschellen und angeleint gebracht werden (UNHCR 2014/I; aida 2015, S. 65; HRW 2015). Hygienische Mindeststandards (Duschen, Toiletten) werden teilweise nicht eingehalten und Häftlinge beklagen sich über einen zu geringen Nährwert der Mahlzeiten und den daraus resultierenden Gewichtsverlust (UNHCR 2014/I). Zudem wird auch über Beschimpfungen, Schikanierungen und Gewaltanwendungen seitens des Wachpersonals berichtet (UNHCR 2014/I; Pro Asyl 2014; AI 2016/I, S. 25-26). Im Herbst 2015 stellte die Nichtregierungsorganisation "Human Rights Watch" bei einem Besuch von fünf Haftanstalten fest, dass dort Schwangere, begleitete und unbegleitete Kinder sowie Menschen mit Behinderungen für lange Zeit festgehalten wurden, wobei Frauen und Familien mit kleinen Kindern die Einrichtungen teilweise mit alleinstehenden Männern teilen mussten. In der Haftanstalt "Nyirbator" wurde die Organisation darauf aufmerksam, dass die dort inhaftierten Asylbewerber Hautausschlag und Stiche von Bettwanzen aufwiesen und bei Temperaturen von um die 5° C mit unzureichender Kleidung ausgestattet waren (HRW 2015).
Eine grundlegende medizinische Versorgung wird in den Asylhaftanstalten zwar angeboten (AA 2016), jedoch wird nach den zur Verfügung stehenden Berichten mit den unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen nicht in einer auf den Einzelfall abstellenden Weise umgegangen. So werden immer wieder die gleichen Tabletten für unterschiedliche Krankheiten verabreicht (UNHCR 2014/I; aida 2015, S. 65; AI 2016/I, S. 25). Zudem bestehen eine adäquate Behandlung regelmäßig erschwerende Kommunikationsprobleme auf Grund fehlender Dolmetscher (CoECfHR 2015, Rn. 20). So berichtet die Nichtregierungsorganisation "Cordelia Foundation" über einen im Rahmen eines Besuchs in einer Haftanstalt wahrgenommenen Fall, in dem einem syrischen Flüchtling bei der Ankunft dessen Diabetesmedikamente abgenommen worden waren und im Rahmen der medizinischen Eingangsuntersuchung die daraufhin einsetzende Unterzuckerung nicht wahrgenommen wurde. Nachdem die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation das medizinische Personal darauf aufmerksam gemacht hatten, begründeten diese den Vorfall mit dem Fehlen eines Dolmetschers für die arabische Sprache bei der Untersuchung (Cordelia Foundation, From torture to detention, 2016, S. 25).
(3) Ein weiterer systemischer Mangel besteht darin, dass sich nicht ausschließen lässt, dass Ungarn Dublin-Rückkehrer ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge weiter nach Serbien als "sicheren Drittstaat" abschiebt, was einen indirekten Verstoß gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK zur Folge hätte, weil Serbien seinerseits kein Asylverfahren aufweist, das eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe garantiert. Als sichere Drittstaaten können solche Staaten anerkannt werden, in denen die Bestimmungen der GFK und EMRK eingehalten werden und ein ordnungsgemäßes Asylverfahren gesetzlich gewährleistet ist (vgl. Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU [Abl. 2013, L 180/60]; Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG), während als sichere Herkunftsstaaten solche Staaten deklariert werden können, in denen generell weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung noch willkürliche Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts droht (vgl. Anhang I Satz 1 zur RL 2013/32/EU; Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG).
Nachdem Ungarn zwischen Januar 2013 und Juli 2015 die Anwendung der Regelung über sichere Drittstaaten in Bezug auf Serbien ausgesetzt hatte, ist Serbien im Rahmen einer gesetzlichen Neuregelung durch Regierungserlass wieder zu einem sicheren Drittstaat erklärt worden (CoECfHR 2015, Rn. 34; UNHCR, Hungary as a Country of Asylum, Mai 2016, S. 14-16 [UNHCR 2016/I]). Seitdem werden auch Abschiebungen von Ungarn nach Serbien vollzogen. Nach auf der Auskunft der ungarischen Asylbehörde beruhenden Angaben des UNHCR hat Ungarn im Zeitraum vom 15. September 2015 bis zum 31. März 2016 298 Personen, davon 220 Drittstaatsangehörige (ohne in den Transitzonen Zurückgewiesene), nach Serbien unter Anwendung des Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Republik Serbien über die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt (Abl. 2007, L 334/46; Rücknahmeabkommen) abgeschoben (UNHCR 2016/I, Rn. 68-69).
Die Anerkennung Serbiens als sicherer Drittstaat durch Ungarn stellt einen Verstoß gegen das europarechtliche Konzept des sicheren europäischen Drittstaats dar, wonach ein Drittstaat von den Mitgliedstaaten nur dann als sicherer Drittstaat betrachtet werden darf, wenn er die GFK ohne geografischen Vorbehalt ratifiziert hat und deren Bestimmungen einhält, über ein gesetzlich festgelegtes Asylverfahren verfügt sowie die EMRK ratifiziert hat und die darin enthaltenen Bestimmungen, einschließlich der Normen über wirksame Rechtsbehelfe, einhält (Art. 39 Abs. 2 RL 2013/32/EU). Diesen Anforderungen genügt Serbien nicht. Der UNHCR empfiehlt seit 2012, Serbien wegen grundlegender Mängel des Asylsystems nicht als sicheren Drittstaat einzustufen und Asylbewerber nicht dorthin abzuschieben (Serbia as a Country of Asylum, August 2012, Rn. 81; UNHCR 2016/I, Rn. 71); diese Bewertung des serbischen Asylsystems als mangelhaft wird auch von der Europäischen Kommission geteilt (Serbia Progress Report, Oktober 2014, S. 52).
Die in Ungarn gegen die Asylantragsablehnung auf der Grundlage der sicheren Drittstaatenregelung vorgesehene gerichtliche Überprüfung erweist sich nicht als Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die ungarische Asylbehörde hat dem aus einem sicheren Drittstaat eingereisten Asylbewerber eine Anhörungsfrist von drei Tagen einzuräumen, innerhalb derer er geltend machen kann, weshalb der Drittstaat in seinem Einzelfall nicht als sicherer Drittstatt zu qualifizieren ist, bevor sie den Antrag als unzulässig ablehnen kann (aida 2015, S. 27). Dagegen hat der Asylbewerber lediglich eine Klagefrist von sieben Tagen (UNHCR 2016/I, S. 16). Im gerichtlichen Verfahren muss er den vollen Beweis erbringen, dass er in Serbien nicht die Möglichkeit hatte, sein Asylgesuch anzubringen (aida 2015, S. 45), was in der Praxis schon wegen der gesetzlich vorgegebenen Entscheidungsfrist des Gerichts von acht Tagen, des faktisch eingeschränkten Zugangs zu rechtlichem Beistand und des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags nahezu unmöglich sein dürfte (UNHCR 2016/I, S. 16; BM-PA 2016, S. 18-19; aida 2015, S. 28). Unter anderem wegen des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet (Kommission leitet gegen Ungarn Vertragsverletzungsverfahren wegen asylrechtlicher Verstöße ein, Pressemitteilung vom 10.12.2015 [Kommission 2015]). Selbst in Fällen, in denen die ungarischen Gerichte Rechtsschutz gegen die Asylantragsablehnung gewährt haben, folgt die ungarische Asylbehörde der gerichtlichen Entscheidung offenbar nicht und lehnt die Anträge ein zweites Mal als unzulässig mit der Folge ab, dass erneut Rechtsschutz in Anspruch genommen werden muss (UNHCR 2016/I, S. 17; BM-PA 2016, S. 19)
Im Falle des Klägers ist eine weitere Abschiebung nach Serbien nicht sehr wahrscheinlich, allerdings auch nicht von vornherein ausgeschlossen. Zwar scheint Serbien lediglich Flüchtlinge mit gültigen Personaldokumenten zurückzunehmen (UNHCR 2016/I, S. 17), über die der Kläger nach seinen Angaben nicht verfügt (vgl. Bl. 38 Beiakte A). Auch hat das Auswärtige Amt in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Regensburg vom 27. Januar 2016 erläutert, dass eine Übernahme durch Serbien ohnehin ausgeschlossen sei, wenn zwischen dem Grenzübertritt von Serbien nach Ungarn und dem Antrag auf Rückübernahme mehr als ein Jahr verstrichen sei (ebenso: aida 2015, S. 25). Jedoch knüpft der Beginn dieser Jahresfrist nicht an den Grenzübertritt, sondern an die Kenntnis davon, dass der Drittstaatsangehörige bzw. der Staatenlose die geltenden Voraussetzungen für die Einreise, die Anwesenheit oder den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt (Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Rückübernahmeabkommen). Zudem ist diese Frist verlängerbar, wenn rechtliche oder tatsächliche Hindernisse für die rechtzeitige Übermittlung des Ersuchens bestehen (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 Rückübernahmeabkommen). Ebenfalls kann nicht von vorneherein ausgeschlossen werden, dass Ungarn den für die Überstellung nach Serbien erforderlichen Nachweis erbringen kann, dass sich der Kläger in Serbien aufgehalten hat oder dort durchgereist ist. Zwar ist insofern nach Art. 9 Abs. 1 i.V.m. Anhang 3 Rückübernahmeabkommen grundsätzlich ein Nachweis insbesondere durch Ein- bzw. Ausreisestempel bzw. Reisedokumente wie Hotelrechnungen oder mit Namen versehenen Tickets erforderlich. Ein solcher Nachweis kann von den ungarischen Behörden in der Regel nicht erbracht werden (AA 2016). Jedoch genügt gemäß Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Anhang 4 Rückübernahmeabkommen auch eine Glaubhaftmachung durch Erklärungen der betroffenen Person oder Dritter. Hinzutretend besteht die Gefahr, dass die Aufnahmebereitschaft Serbiens im vorliegenden Fall deshalb erhöht ist, weil der Kläger aus dem von Serbien nicht als eigenständiger Staat anerkannten Kosovo stammt und Serbien ihn daher als eigenen Staatsangehörigen betrachten könnte, was zugleich die Gewährung effektiven Asylrechtsschutzes – "gegenüber eigenen Staatsangehörigen" – von vorneherein ausschließen würde.
(4) Das ungarische Asylverfahren weist weitere erhebliche Mängel auf, die den Kläger als Dublin-Rückkehrer zwar nur teilweise unmittelbar betreffen, jedoch aufzeigen, dass die zuvor ausgeführten Defizite nicht die einzigen Mängel des ungarischen Asylverfahrens sind, sondern vielmehr einen Teil von systemisch angelegten Defiziten darstellen. So hat die Europäische Kommission im Dezember 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, weil zu befürchten sei, "dass es im Rahmen von Rechtsbehelfen nicht möglich ist, auf neue Fakten und Umstände zu verweisen, und dass Ungarn Entscheidungen im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen nicht automatisch aussetzt, sondern dass Antragsteller bereits vor Verstreichen der Frist für die Einlegung eines Rechtsbehelfs oder vor der Prüfung des Rechtsbehelfs effektiv gezwungen werden, ungarisches Hoheitsgebiet zu verlassen". Außerdem bestünden "im Hinblick auf das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht nach Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bedenken hinsichtlich der Tatsache, dass gemäß den neuen ungarischen Vorschriften zur gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen über die Ablehnung eines Asylantrags eine persönliche Anhörung der Antragsteller fakultativ ist". Zudem scheine "der Umstand, dass gerichtliche Entscheidungen von Gerichtssekretären auf vorgerichtlicher Ebene getroffen werden, einen Verstoß gegen die Asylverfahrensrichtlinie und Artikel 47 der Grundrechtecharta zu begründen" (Kommission 2015). Weiterhin dürfen die ungarischen Gerichte auf Grund einer zum 1. September 2015 in Kraft getretenen Gesetzesänderung die Entscheidungen der ungarischen Asylbehörde nicht mehr abändern, sondern diese lediglich anweisen, den Fall erneut zu prüfen, was in der Praxis dazu führt, dass diese häufig ihre Entscheidung ohne vertiefte Prüfung lediglich wiederholt und erneut Rechtsschutz gesucht werden muss (BM-PA 2016, S. 16, 19; UNHCR 2016/I, S. 17).
Darüber hinaus erschwert Ungarn den Zugang zum Asylverfahren für aus Serbien kommende Flüchtlinge erheblich, indem an der Grenze zu Serbien im September 2015 fertiggestellte Grenzzäune errichtet und Transitzonen eingerichtet worden sind, in denen seit März 2016 lediglich einem Kontingent von insgesamt 30 Flüchtlingen täglich die Asylantragstellung erlaubt wird (UNHCR 2016/I, Rn. 22). Dadurch müssen zahlreiche Flüchtlinge teilweise wochenlang unter äußerst prekären Bedingungen vor den Grenzzäunen campieren (Amnesty International, So schlecht wie möglich, August 2016 [AI 2016/II]), wodurch Ungarn permanent gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK verstoßen dürfte (VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016, a.a.O., juris Rn. 43). Zudem berichtet der UNHCR über exzessive Gewalteinsätze gegen Flüchtlinge in den Transitzonen sowie in den ungarischen Polizeigefängnissen in Gestalt von Bissen nicht angeleinter Polizeihunde, Einsatz von Pfefferspray und Schlägen (Hungary: UNHCR concerned about new restrictive law, increased reports of violence, and deterioration of the situation at border with Serbia, 15.7.2016). In einem Fall ist laut UNHCR ein syrischer Flüchtling zu Tode gekommen, nachdem die ungarische Polizei eine größere Gruppe von Flüchtlingen beim Versuch der Überquerung des Grenzflusses Tisza in diesen zurückgedrängt hatte (UNHCR alarmed at refugee death on Hungary-Serbia border, 6.6.2016 [UNHCR 2016/II]). Human Rights Watch hat ebenfalls 12 Fälle übermäßiger Gewaltanwendung durch ungarische (Polizei)Behörden im Zusammenhang mit dem Grenzregime dokumentiert (Hungary: Failing to Protect Vulnerable Refugees, 20.9.2016).
Auf Grund einer Gesetzesänderung im Juli 2016 ist die ungarische Polizei ermächtigt worden, fremde Staatsangehörige, die sich innerhalb eines Bereichs von 8 km Entfernung zur Grenze unrechtmäßig aufhalten und dort aufgegriffen werden, unmittelbar nach Serbien – ohne Durchführung eines Asylverfahrens – zurückzuschieben, was gleichfalls eine Verletzung des Refoulement-Verbots des Art. 33 Abs. 1 GFK darstellt (AI 2016/I, S. 9, 19-21; UNHCR 2016/II).
Auch die in Ungarn auf Grund einer im September 2015 in Kraft getretenen Gesetzesänderung praktizierte Strafverfolgung von Flüchtlingen allein wegen illegalen Grenzübertritts verstößt zumindest gegen den Grundsatz der Nichtbestrafung unrechtmäßig einreisender, schutzbedürftiger Flüchtlinge aus Art. 31 Abs. 1 GFK (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016, a.a.O., juris Rn. 43). Zwischen dem 15. September 2015 und dem 21. August 2016 erfolgten 2841 Verurteilungen fast ausschließlich zur Ausweisung verbunden mit einem ein- bis zweijährigen Einreiseverbot (AI 2016/I, S. 19). Die beschleunigten Massenverfahren wecken zudem erhebliche rechtsstaatliche Bedenken in Hinblick auf eine effektive Strafverteidigung durch passiv bleibende, beigeordnete Pflichtverteidiger, die nicht erfolgende Aussetzung des Verfahrens wegen Asylantragstellung und der unterbleibenden schriftlichen Übersetzung der Anklageschrift sowie des Urteils in die Muttersprache des Angeklagten (UNHCR 2016/I, S. 21-23; AI 2016/II). Die unterbleibenden schriftlichen Übersetzungen sind zudem Gegenstand des von der Europäischen Kommission gegen Ungarn eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens (Kommission 2015).
Durch mehrere Gesetzesänderungen zum 1. April 2016 und 1. Juni 2016 besteht selbst für Flüchtlinge, die in Ungarn einen Schutzstatus erhalten, die Gefahr der anschließenden Verelendung und Obdachlosigkeit (vgl. BM-PA 2016, S. 23; Hungarian Helsinki Committee, Hungary: Recent legal amendments further destroy access to protection, April - June 2016; UNHCR 2016/I, S. 7; vgl. zur bereits zuvor bestehenden defizitären Situation: UNHCR, Stellungnahme an das VG Freiburg vom 30.9.2014, S. 6). So sind die zeitlich begrenzte finanzielle Unterstützung anerkannter Flüchtlinge im Rahmen von sog. "Integrationsverträgen" ebenso wie das frei zur Verfügung stehende monatliche Taschengeld für Asylbewerber in Höhe von 24 € sowie die finanzielle Bildungsunterstützung für minderjährige Flüchtlinge ersatzlos gestrichen worden. Der zulässige Verbleib von Flüchtlingen in offenen Asyleinrichtungen nach ihrer Anerkennung wurde von 60 auf 30 Tage und der Zugang zu einer Basisgesundheitsversorgung von einem Jahr auf sechs Monate reduziert. Zwar verpflichtet Art. 3 EMRK die Vertragsstaaten nicht aus sich heraus dazu, jedermann in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen und Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen. Jedoch kann sich die Verpflichtung zur Versorgung mittelloser Asylsuchender mit einer Unterkunft und einer materiellen Grundausstattung aus europarechtlichen Verpflichtungen wie der Richtlinie 2011/95/EU (Abl. 2011, L 337/9; QualifikationsRL) ergeben (vgl. EGMR, Urt. v. 21.1.2011, a.a.O., Rn. 249-250; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 -, juris Rn. 40). Insbesondere ist es mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn sich ein Asylbewerber, der von staatlicher Unterstützung vollständig abhängig ist und sich in einer gravierenden Mangel- oder Notsituation befindet, staatlicher Gleichgültigkeit ausgesetzt sieht (vgl. EGMR, Urt. v. 21.12.2011, a.a.O., Rn. 253). Die QualifikationsRL garantiert anerkannten Flüchtlingen den Zugang zu Sozialhilfeleistungen, zu medizinischer Versorgung und – für Minderjährige – zum Bildungssystem zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörigen des aufnehmenden Staats (Art. 29 Abs. 1, Art. 30 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1) sowie den Zugang zu Wohnraum zu gleichwertigen Bedingungen wie sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet aufhaltenden Drittstaatsangehörigen (Art. 32 Abs. 1). Die genannten Gesetzesänderungen stellen die Gewährleistung dieser Garantien in Ungarn zumindest ernsthaft in Frage.
Schließlich fügen sich die rechtlichen und tatsächlichen Asylverfahrensdefizite in die generelle Ausrichtung der ungarischen Flüchtlingspolitik und -gesetzgebung ein. Sowohl die in den Jahren 2015 und 2016 beschlossenen asylrechtlichen Gesetzesänderungen als auch die politische Rhetorik der ungarischen Regierung legen den Schluss nahe, dass es sich um bewusst zur Verringerung der Flüchtlingszahlen angelegte, systemische Mängel handelt. So kommt der UNHCR zu dem Resümee, dass Ungarn im Jahr 2015 und im ersten Quartal 2016 fortschreitend den Zugang zu seinem Staatsgebiet beschränkt sowie Asylbewerber von der Beantragung von Flüchtlingsschutz abgeschreckt hat und dass wesentliche Aspekte des ungarischen Rechts sowie der ungarischen Praxis ernste Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit internationalem und europäischem Recht geben (UNHCR 2016/I, S. 26-27). Der ungarische Ministerpräsident Orbán äußerte in einer Pressekonferenz am 26. Juli 2016 (Die Zeit online, Orbán nennt Einwanderung "Gift"): "Jeder einzelne Migrant stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar. (…) Für uns ist Migration keine Lösung, sondern ein Problem. (…) Nicht Medizin, sondern ein Gift, wir wollen es nicht und schlucken es nicht."
An diesen Ausführungen hält der Senat mangels neuerer Erkenntnisse zu dem Asylverfahren und den Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn auch für das vorliegende Verfahren fest.
Die Ablehnung des Antrags auf Durchführung des Asylverfahrens als unzulässig ist darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine realistische Möglichkeit besteht, dass der Kläger innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft nach Ungarn überstellt werden könnte.
Der dem Dublin-System innewohnende Beschleunigungsgedanke gebietet es in einer solchen Situation, vom Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen (ebenso: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 -, juris Rn. 48; Urt. v. 5.7.2016 - A 11 S 974/16 -, juris Rn. 44; VG Kassel, Beschl. v. 28.1.2016 - 3 L 11/16.KS.A -, juris Rn. 5; VG Köln, Urt. v. 22.12.2015 - 2 K 3464/15.A -, juris Rn. 69). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat der Mitgliedstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, darauf zu achten, dass eine Situation, in der die Grundrechte des Asylbewerbers verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats verschlimmert wird; erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten der Dublin III-VO selbst prüfen (Urt. v. 14.11.2013 - C-4/11 -, juris Rn. 35; Urt. v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 -, juris Rn. 108). Aus diesem Beschleunigungsgebot folgt unter anderem ein Anspruch des Asylbewerbers auf Sachprüfung in einem effektiven und zügigen Verfahren (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 5.10.2015 - 5 B 259/15.A -, juris Rn. 30). Den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin III-VO zufolge soll eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren; sie soll insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Um diesen Anspruch auf effektiven Zugang zum Asylverfahren und auf zügige Sachprüfung nicht ins Leere laufen zu lassen, hat ein Mitgliedstaat sein Selbsteintrittsrecht auszuüben, wenn die Überstellung an den an sich für zuständig erachteten Mitgliedstaat wegen dessen mangelnder Aufnahmebereitschaft aussichtslos erscheint. Dem steht nicht entgegen, dass der Asylbewerber keinen Anspruch auf Prüfung seines Asylantrags in einem bestimmten Staat besitzt und daher die Beachtung der Überstellungsfrist kein subjektives, einklagbares Recht des Asylbewerbers darstellt, so dass sich dieser nach deren Ablauf nicht auf den dadurch erfolgten Zuständigkeitswechsel berufen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 16.9.2015 - 13 A 2159/14.A -, juris Rn. 68 bis 81 mit weiteren Nachweisen). Denn hier handelt es sich nicht um die im Hinblick auf das Beschleunigungsgebot unproblematische Situation, dass ein Asylbewerber in einen zwar mittlerweile unzuständigen, jedoch weiterhin aufnahmebereiten und -fähigen Mitgliedstaat überstellt werden soll, sondern um die umgekehrte Konstellation, dass ein Asylbewerber in einen grundsätzlich zuständigen, jedoch nicht aufnahmebereiten oder -fähigen Mitgliedstaat abgeschoben werden soll (vgl. Sächsisches OVG, Beschl. v. 5.10.2015, a.a.O., juris Rn. 31).
Im Falle des Klägers ist nicht erkennbar, dass dessen Rücküberstellung nach Ungarn innerhalb der Überstellungsfrist von sechs Monaten (Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO) tatsächlich noch im Bereich des - realistisch betrachtet - Möglichen liegt. Das hätte die Beklagte im Rahmen ihrer prozessualen Mitwirkungspflichten substantiiert darlegen müssen, weil im vorliegenden Fall erhebliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Überstellung unwahrscheinlich ist und ihr auf Grund ihrer Mitwirkung bei der Durchführung von Dublin-Überstellungen bekannt ist, wie Ungarn derzeit in vergleichbaren Fällen reagiert (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., juris Rn. 42; sowie zur Darlegungslast bei Ablauf der Überstellungsfrist und nicht positiv feststehender, fortbestehender Wiederaufnahmebereitschaft: BVerwG, Urt. v. 27.4.2016 - BVerwG 1 C 24/15 -, juris Rn. 23).
Im 2. bzw. 3. Quartal 2015 bzw. 1. bzw. 2 Quartal 2016 hat die Beklagte 3.565, 4.303, 3.215 bzw. 3.305 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet, Ungarn hat in 2.665, 2.570, 1.556 bzw. 673 Fällen zugestimmt und in 61, 40, 75 bzw. 90 Fällen ist tatsächlich eine Rücküberstellung erfolgt (BT-Drs. 18/6860, S. 45 f.; Auskunft der Beklagten an das VG Osnabrück v. 15.8.2016), was Rücküberstellungsquoten von 1,71 %, 0,93 %, 2,33 % bzw. 2,72 % in Bezug auf die Übernahmeersuchen und von 2,29 %, 1,56 %, 4,82 % bzw. 13,37 % (3,3 % im 4. Quartal 2015 laut VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 5.7.2016, a.a.O., juris Rn. 42) in Bezug auf die erteilten Zustimmungen ergibt. Die sehr niedrige Anzahl der tatsächlichen Überstellungen erklärt sich wohl hauptsächlich damit, dass Ungarn bei der Überstellung von Dublin-Rückkehrern am Flughafen Budapest nur ein Kontingent von 12 Personen aus sämtlichen Mitgliedstaaten täglich zwischen Montag und Donnerstag akzeptiert (Auskunft des BAMF v. 20.11.2015 an das VG Köln; BM-PA 2016, S. 7). Des Weiteren hat der das Büro des ungarischen Ministerpräsidenten leitende Minister in einem Pressegespräch am 26. Mai 2016 angekündigt, dass niemand nach Ungarn zurückgesandt werden könne, sondern die betreffenden Asylbewerber vielmehr nach Griechenland zu schicken seien (Pressegespräch der ungarischen Regierung, No one can be sent back to Hungary, v. 26.5.2016). Damit korrespondierend lehnt das ungarische Dublin-Unit in letzter Zeit offenbar über das Netzwerk "DubliNet" – nach erteilter Zustimmung zum Übernahmeersuchen – die Rücküberstellung (zunächst) mit folgendem Hinweis ab (vgl. E-Mail v. 7.7.2016, Blatt 133 der Gerichtsakte): "We kindly inform you that - with regard to our previous communication - we can not accept any incoming Dublin transfers. Therefore we kindly ask you to cancel the transfer and we also ask you not to plan any Dublin transfer to Hungary in the future.”
Zwar hat die Beklagte in ihrer Auskunft vom 15. August 2016 an das Verwaltungsgericht Osnabrück und im Schriftsatz vom 22. September 2016 erklärt, dass auch in den Monaten Mai, Juni, Juli und August 2016 Rücküberstellungen von 35, 30,19 bzw. 30 Asylbewerbern nach Ungarn stattgefunden hätten. Auf die Ablehnungen des ungarischen Dublin-Units reagiere sie, indem sie antworte, dass die Ablehnung nicht akzeptiert werde, und sie den bereits bekannt gegebenen Überstellungstermin bestätige. Das ändert jedoch nichts daran, dass die politischen und behördlichen Erklärungen der ungarischen Seite sowie das hohe Vollzugsdefizit und der damit verbundene Überstellungsrückstau offenbaren, dass Ungarn nur sehr widerwillig und zurückhaltend Dublin-Rücküberstellungen zulässt. Im Falle des Klägers kommt hinzu, dass seit dem Rücknahmeersuchen der Beklagten und der Zustimmung der ungarischen Asylbehörde mehr als zwei Jahre verstrichen sind, was die Rücknahmebereitschaft Ungarns zusätzlich in Frage stellt.
2. Unter Berücksichtigung dieser Umstände erweist sich die im angefochtenen Bescheid erlassene Abschiebungsanordnung nicht nur mangels Zuständigkeit eines anderen Staats, sondern auch deshalb als rechtswidrig, weil § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung voraussetzt. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Den zuvor gemachten Ausführungen zufolge kann indes nicht von einer realistischen Möglichkeit zur Durchführung der Abschiebung ausgegangen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor. Insbesondere wirft das Verfahren keine abstrakte, höchstrichterlich ungeklärte Frage des revisiblen Rechts von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, sondern nur die in tatsächlicher Hinsicht grundsätzlich bedeutsame Frage auf, ob das Asylverfahren in Ungarn mit systemischen Mängeln behaftet ist.