Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.07.2012, Az.: 5 LA 182/10

Ersatzansprüche und Schmerzensgeldansprüche bei Verletzung der Fürsorgepflicht und des Persönlichkeitsschutzes durch einen Dienstherrn i.R.d. Erhebung von Vorwürfen gegen einen Lehrer

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.07.2012
Aktenzeichen
5 LA 182/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 19676
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2012:0713.5LA182.10.0A

Fundstellen

  • NVwZ-RR 2012, 765-766
  • NdsVBl 2013, 12-13
  • SchuR 2013, 165-167
  • ZBR 2012, 396

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Bei Ersatz- und Schmerzensgeldansprüche wegen einer Fürsorgepflichtverletzung durch den Dienstherrn sind die Belange des Beamten und gewichtige öffentliche Interessen in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Die Abwägung zwischen Fürsorgepflicht und öffentlichem Interesse ist einzelfallbezogen und nicht ohne Ansehen der äußeren Umstände zu treffen, zu denen auch das Verhalten der Beteiligten im Rahmen eines die konkreten Vorwürfe überspannenden Konflikts gehört.

  2. 2.

    Grundsätzlich verlangen in schulischen Konflikten der pädagogische Auftrag der Schule, eine gedeihliche Erziehungspartnerschaft mit den Eltern und das besondere Schutzbedürfnis der größtenteils minderjährigen Schüler von allen Beteiligten besondere Rücksichtnahme und Bereitschaft zur innerschulischen Schlichtung. Dieser Primat der innerschulischen Streitbelegung gebietet dem Schulleiter, neben der Wahrnehmung der Fürsorge für den einzelnen Lehrer auch dafür Sorge zu tragen, dass an der Schule kein Klima entsteht, in dem Konflikte nicht mehr innerschulisch beigelegt werden können, sondern mit außerschulischen - das heißt auch: juristischen - Mitteln ausgefochten werden. So wie kein Lehrer durch willkürliche, haltlose Denunziationen angreifbar und schlimmstenfalls erpressbar werden darf, müssen dabei Schüler und Eltern vermeintliches Fehlverhalten von Lehrern oder Fehlentwicklungen im Schulbetrieb gegenüber der Schulleitung grundsätzlich ohne die Angst äußern können, sich schon dadurch Benachteiligungen im Unterricht oder juristischer Inanspruchnahme auszusetzen.

Gründe

1

Der Zulassungsantrag bleibt ohne Erfolg, weil die Zulassungsgründe, auf die sich die Klägerin beruft, nicht vorliegen (§ 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO).

2

1.

Das Zulassungsvorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.

3

Ernstliche Zweifel im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils sind zu bejahen, wenn bei der Überprüfung im Zulassungsverfahren, also aufgrund der Begründung des Zulassungsantrags und der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts, gewichtige, gegen die Richtigkeit der Entscheidung sprechende Gründe zutage treten, aus denen sich ergibt, dass ein Erfolg der erstrebten Berufung mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg. Das ist der Fall, wenn ein einzelner tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird. Die Richtigkeitszweifel müssen sich auch auf das Ergebnis der Entscheidung beziehen; es muss also mit hinreichender Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein, dass die Berufung zur Änderung der angefochtenen Entscheidung führt.

4

Sind in der erstinstanzlichen Entscheidung eine oder mehrere Voraussetzungen eines geltend gemachten Anspruchs verneint worden, folgt daraus, dass ernstliche Zweifel im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nur dann vorliegen, wenn das Zulassungsvorbringen für jede verneinte Anspruchsvoraussetzung die Begründung der erstinstanzlichen Entscheidung erheblich in Frage stellt und gegebenenfalls das Vorliegen aller weiteren, nicht geprüften Anspruchsvoraussetzungen darlegt.

5

Das Verwaltungsgericht hat rechtsfehlerfrei das Vorliegen der mit der Klage geltend gemachten Ersatz- und Schmerzensgeldansprüche verneint, weil es schon an einer Fürsorgepflichtverletzung der Beklagten fehlt. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht der Rechtsprechung des Senats dabei entnommen, dass die Fürsorgepflicht des Dienstherrn und der Anspruch des Beamten auf Persönlichkeitsschutz nicht uneingeschränkt gelten, sondern die Belange des Beamten und gewichtige öffentliche Interessen in ein angemessenes Verhältnis zu setzen sind (Beschluss vom 13.2.2007 - 5 ME 62/07 - ). Zu diesem Verhältnis hat der beschließende Senat in dem vorgenannten Beschluss das Folgende ausgeführt:

"Der Schulleiter war nach Auffassung des Senats auch in Anbetracht der Schwere der Vorwürfe nicht gehalten, die betroffenen Schüler und deren Mitschüler gegen den Willen der Eltern zu vernehmen. Denn eine solche Einvernahme verstieße nicht nur gegen das inArt. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich verankerte natürliche Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder, das u.a. in dem Recht zur Ausübung der Personensorge (§ 1626 BGB) seinen Niederschlag findet. Sie stünde auch mit verwaltungsverfahrensrechtlichen Grundsätzen nicht im Einklang, da bei einer Weigerung zur Zeugenaussage - insoweit dürfte hier auf den maßgeblichen Willen der Eltern abzustellen sein - eine Pflicht zur Aussage nicht anzuerkennen ist. Eine solche Pflicht besteht nicht einmal im Verwaltungsverfahren (vgl. § 26 Abs. 3 Satz 1 VwVfG, § 1 Abs. 1 NdsVwVfG). Dass der Antragsgegnerin mithin die Zeugeneinvernahme als zulässiges Beweismittel zur Verfügung gestanden habe bzw. steht und ihr Absehen hiervon vom Verwaltungsgericht als unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung gebilligt worden sei, vermag der Senat aus diesen Gründen nicht zu erkennen. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Weigerung der Eltern, ihre Kinder als Zeugen vernehmen zu lassen, gerade dazu dient, die von der Antragsgegnerin für das Absehen einer weiteren Aufklärung angeführte Konfliktsituation der Schüler gegenüber ihren Eltern einerseits und der Schule sowie den Mitschülern andererseits zu vermeiden. Hierauf hat das Verwaltungsgericht zu Recht bei seiner Entscheidung, ob die Antragsgegnerin von einer weiteren Sachverhaltsaufklärung habe absehen dürfen, abgestellt."

6

Diese Erwägungen beanspruchen auch hier Geltung. Dass die Klägerin den nun geltend gemachten Anspruch nicht auf das Verhalten der Beklagten nach ihrer vorzeitigen Zurruhesetzung gründet, sondern eine Fürsorgepflichtverletzung in einer mangelhaften Aufklärung der gegen sie erhobenen Vorwürfe gerade in der letzten Phase ihrer aktiven Dienstzeit sieht, gebietet keine andere Bewertung. Der Senat macht sich insofern die zutreffende Begründung des angefochtenen Urteils zu eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

7

Im Hinblick auf das Vorbringen der Klägerin im Zulassungsverfahren ist allerdings das Folgende hervorzuheben bzw. zu ergänzen:

8

Die Abwägung zwischen Fürsorgepflicht und öffentlichem Interesse ist einzelfallbezogen und nicht ohne Ansehen der äußeren Umstände zu treffen, zu denen auch das Verhalten der Beteiligten im Rahmen eines die konkreten Vorwürfe überspannenden Konflikts gehört.

9

Grundsätzlich verlangen allerdings in schulischen Konflikten der pädagogische Auftrag der Schule, eine gedeihliche Erziehungspartnerschaft mit den Eltern und das besondere Schutzbedürfnis der größtenteils minderjährigen Schüler von allen Beteiligten besondere Rücksichtnahme und Bereitschaft zur innerschulischen Schlichtung. Dieser Primat der innerschulischen Streitbelegung gebietet dem Schulleiter, neben der Wahrnehmung der Fürsorge für den einzelnen Lehrer auch dafür Sorge zu tragen, dass an der Schule kein Klima entsteht, in dem Konflikte nicht mehr innerschulisch beigelegt werden können, sondern mit außerschulischen - das heißt auch: juristischen - Mitteln ausgefochten werden. So wie kein Lehrer durch willkürliche, haltlose Denunziationen angreifbar und schlimmstenfalls erpressbar werden darf, müssen dabei Schüler und Eltern vermeintliches Fehlverhalten von Lehrern oder Fehlentwicklungen im Schulbetrieb gegenüber der Schulleitung grundsätzlich ohne die Angst äußern können, sich schon dadurch Benachteiligungen im Unterricht oder juristischer Inanspruchnahme auszusetzen.

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Entsprechende Erwägungen hat der Schulleiter in seinen Vermerken vom 30. Mai 200 und vom 6. Februar 200 festgehalten. So hat er Verständnis dafür geäußert, dass der Klassenelternrat nicht mehr bereit sei, ein direktes Gespräch mit der Klägerin zu führen, weil seine Mitglieder befürchteten, durch "ständige, fast schon inflationäre" juristische Hinweise und Wortverdrehungen eingeschüchtert zu werden. Die betroffenen Eltern befürchteten, die eigenen Kinder würden verantwortlich vernommen. Aus eigenem Erleben schilderte er, dass die Klägerin schon den bloßen Umstand, dass der Klassenelternrat ihn zu einem weiteren Gespräch aufgesucht hatte, lautstark und aggressiv im Lehrerzimmer kommentiert habe.

11

Die gegen die Klägerin erhobenen Beschwerden hat er dagegen als relativierungsbedürftig und weitgehend gegenstandslos erachtet und folgerichtig davon abgesehen, ein Disziplinar- oder Strafverfahren einzuleiten. Dies hat er ausweislich der in den genannten Vermerken dokumentierten Reaktionen ("Unmut") auch den Eltern gegenüber vertreten und damit die Klägerin vor den Vorwürfen in Schutz genommen.

12

Die Ansicht der Klägerin, nach der Argumentation des Verwaltungsgerichts werde das Opfer zum Störer abgestempelt, geht angesichts dessen fehl. Die Klägerin verkennt sowohl die Reichweite der Fürsorgepflicht als auch ihren eigenen Anteil an dem Konflikt. Es ist ihr auch im Lichte der Fürsorgepflicht des Dienstherrn zuzumuten, die Einschätzung und auch die Abwehr der gegen sie erhobenen Vorwürfe zunächst der Schulleitung zu überlassen, die auch darüber entscheidet, ob ein Konflikt noch mit innerschulischen Mitteln beigelegt werden kann. Indem der Schulleiter die Vorwürfe in rechtlich nicht zu beanstandender Weise sowohl innerdienstlich als auch gegenüber den Eltern wesentlich relativiert hat, ist er der Fürsorgepflicht des Dienstherrn nachgekommen.

13

Dass der Konflikt dennoch nicht beigelegt werden konnte, beruht im Wesentlichen darauf, dass die einzelnen Vorwürfe der Eltern - entgegen der Wahrnehmung der Klägerin - nicht die einzige Ursache des Konflikts sind. Der Vertrauensverlust seitens der Eltern und auch die Empfehlung des Personalrats, die Abordnung der Klägerin nicht zu verlängern, beruhen auch auf dem weiter konfrontativen Verhalten der Klägerin, das sich nicht zuletzt in ihrer wiederholten Forderung, die Beschwerdeführer namentlich zu benennen und zu vernehmen, und zumindest einem aktenkundigen Strafverfahren gegen Eltern wegen übler Nachrede zeigt.

14

Nachdem die Vorwürfe als solche vage sind und die Schulleitung sie den Eltern gegenüber relativiert und für die Klägerin keine disziplinarischen Folgen daraus abgeleitet hat, bestand für weitere Ermittlungen aus schulischer Sicht kein Anlass. Das Gegenteil ist der Fall: Die begehrte Vernehmung der Schüler und die durch die Benennung der Beschwerdeführer mögliche straf- oder zivilrechtliche Inanspruchnahme der betreffenden Schüler und Eltern sind angesichts der bereits relativierten Vorwürfe nicht nur unverhältnismäßig, sondern wegen der damit verbundenen Einschüchterung der Betroffenen und der weiteren Eskalation des Konflikts kontraproduktiv und dem öffentlichen Interesse an einem vertrauensvollen Schulklima gegenläufig.

15

Die von der Klägerin geforderten weiteren Ermittlungen gehen angesichts dieser Umstände über die Inschutznahme der Klägerin hinaus und werden ihrerseits zu einem Angriffsmittel. Als solches sind sie jedenfalls in der vorliegenden Konstellation von der Fürsorge des Dienstherrn nicht mehr umfasst.

16

2.

Die Klägerin hat auch Verfahrensfehler im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO nicht hinreichend dargelegt.

17

Ein Verstoß gegen den aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden und in § 108 Abs. 2 VwGO konkretisierten Anspruch auf rechtliches Gehör - unter dem Aspekt der Überraschungsentscheidung - liegt vor, wenn ein Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf - selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen - nicht zu rechnen brauchte, weil dies im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen kann (vgl.BVerwG, Beschluss vom 25.5.2001 - BVerwG 4 B 81.00 -, [...]).

18

Das ist weder im Hinblick auf die Berichte des Schulleiters vom 30. Mai 200 und vom 6. Februar 200 noch im Hinblick auf die Frage der Kausalität zwischen einer etwaigen Fürsorgepflichtverletzung und der Dienstunfähigkeit der Klägerin der Fall.

19

Aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ergibt sich keineswegs "zwingend", dass diese Aspekte keine Erwähnung in der mündlichen Verhandlung gefunden haben. Das Protokoll trifft hierzu lediglich keine positive Aussage, schließt ihre Erwähnung aber nicht aus.

20

Die Berichte des Schulleiters waren der Klägerin darüber hinaus bekannt oder hätten ihr bekannt sein können. Aus dem Bericht vom 6. Februar 200 hat die Klägerin in der Klageschrift selbst umfänglich zitiert; der Bericht vom 30. Mai 200 war zumindest Gegenstand des schriftsätzlichen Vorbringens der Beklagten.

21

Daneben ist der Bericht vom 30. Mai 200 Inhalt der Beschwerdeakte, die der Klägerin im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu Az. 3 B 25/05 zur Einsicht gegeben worden ist. Die Einsichtnahme ergibt sich jedenfalls aus der dortigen Erledigungserklärung der Klägerin vom 7. November 200 und im Übrigen aus den der Klageschrift im hiesigen Verfahren beigefügten Kopien der in dieser Akte abgehefteten Beschwerden, deren Paginierung auch derjenigen des Berichts vom 30. Mai 200 entspricht.

22

Dass die Klägerin die Beschwerdeakte weder vorgerichtlich gesehen haben will noch im erstinstanzlichen Verfahren eingesehen hat, sie gleichwohl äußerlich detailliert beschreiben kann:

"eine mit rotem Aktendeckel eingefasste Verwaltungsakte. Im Gegensatz zu den drei anderen Verwaltungsakten befindet sich auf dieser roten Verwaltungsakte kein Stempel des Verwaltungsgerichts, welcher auf die Beziehung dieser Akte in einem vorangegangenen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens verweist",

23

spricht sodann dafür, dass die Akte im Wortsinne zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht und von der Klägerin oder ihrem Bevollmächtigten dort gesehen worden ist.

24

Auch die Frage der Kausalität zwischen der geltend gemachten Fürsorgepflichtverletzung und der vorzeitigen Dienstunfähigkeit war Gegenstand des schriftsätzlichen Vorbringens der Beklagten; hierauf hat die Klägerin auch erwidert.

25

Ein Verfahrensmangel liegt auch nicht darin, dass das Verwaltungsgericht keine weitere Beweisaufnahme über die Kausalität durchgeführt hat. Maßgeblich für die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorliegt, ist der materiell-rechtliche Standpunkt des Verwaltungsgerichts (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11.9.2009 - BVerwG 2 B 29.09 -, [...] Rn. 9). Fehlt es hiernach schon an einer Verletzung der Fürsorgepflicht und damit an einer notwendigen Anspruchsvoraussetzung, bedurfte es keiner weiteren Beweisaufnahme zur Kausalitätsfrage.

26

3. Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).