Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 13.08.2010, Az.: 11 ME 313/10

Rechtmäßigkeit eines Versammlungsverbots im Falle einer durch Auflagen möglichen Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; Örtliche und zeitliche Begrenzung einer Veranstaltung als risikovermindernde Auflage; Durchführung einer stationären Kundgebung anstatt einer als Aufzug geplanten Versammlung; Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.V.m. Art. 8 GG bei Erlass eines Versammlungsverbots

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
13.08.2010
Aktenzeichen
11 ME 313/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 22744
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0813.11ME313.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 12.08.2010 - AZ: 10 B 3508/10

Fundstellen

  • KommJur 2010, 475-477
  • NVwZ-RR 2010, 889
  • NordÖR 2010, 416-418

Amtlicher Leitsatz

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.V.m. Art. 8 GG gebietet, dass ein Versammlungsverbot dann unterbleibt, wenn die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch Auflagen (wie örtliche und zeitliche Begrenzung der Veranstaltung) hinreichend abgewehrt werden kann (hier Beschränkung einer als Aufzug geplanten Versammlung auf eine stationäre Kundgebung).

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer - vom 12. August 2010 geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Verbotsverfügung des Antragsgegners vom 11. August 2010 wird mit folgenden Maßnahmen wiederhergestellt:

  1. 1.

    Die für den 14. August 2010 angemeldete Versammlung des Antragstellers findet stationär in Bad Nenndorf auf einem von dem Antragsgegner dem Antragsteller zuzuweisenden geeigneten Ort von 9.00 bis 11.00 Uhr statt.

  2. 2.

    Der Antragsteller hat den von dem Antragsgegner für erforderlich gehaltenen Auflagen Folge zu leisten.

    Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt. Die weitergehende Beschwerde des Antragstellers wird zurückgewiesen.

    Die Kosten des Verfahrens tragen der Antragsteller und der Antragsgegner je zur Hälfte.

    Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 5.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

1

Der Antragsteller meldete am 10. Februar 2010 für den DGB und das "Bündnis Bad Nenndorf ist bunt" für den morgigen Sonnabend, den 14. August 2010, einen Aufzug in der Zeit von 10.30 Uhr bis 18.00 Uhr in Bad Nenndorf an. Diese Demonstration richtet sich gegen den für denselben Tag geplanten Aufzug des Herrn B., den dieser mit Schreiben vom 29. Januar 2010 für das "Gedenkbündnis Bad Nenndorf" als "Trauermarsch" unter dem Motto "Gefangen, Gefoltert, Gemordet - Damals wie heute - Besatzer raus -" für die Zeit von 11.00 Uhr bis 21.30 Uhr angemeldet hat.

2

Der Antragsgegner hatte mit Bescheid vom 29. Juli 2010 die Anmeldung des Aufzuges des Antragstellers mit einer verkürzten Aufzugstrecke und unter Auflagen bestätigt. Den Aufzug des Herrn B. hatte der Antragsgegner mit Bescheid vom 26. Juli 2010 ebenfalls mit einer verkürzten Aufzugstrecke und unter Auflagen bestätigt. Dagegen haben sowohl der Antragsteller als auch Herr B. Klage erhoben und um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.

3

Mit für sofort vollziehbar erklärten Bescheiden vom 11. August 2010 verbot der Antragsgegner unter Aufhebung seiner Bescheide vom 26. und 29. Juli 2010 beide Versammlungen. Dagegen haben sowohl der Antragsteller als auch Herr B. Rechtsmittel eingelegt.

4

Mit Beschluss vom 12. August 2010 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage des Herrn B. gegen die Verbotsverfügung des Antragsgegners vom 11. August 2010 wiederhergestellt. Für den von Herrn B. angemeldeten Aufzug hat es den im Bescheid vom 26. Juli 2010 festgelegten Streckenverlauf sowie die in demselben Bescheid verfügten Auflagen mit Ausnahme des dritten und des fünften Absatzes der Auflage Nr. 1 für maßgebend erklärt. Es hat den dritten und den fünften Absatz der Auflage Nr. 1 wie folgt neu gefasst: Ein Lautstärkepegel von 90 dB(A) gemessen in 1 m Abstand von der Emissionsquelle (Lautsprecher) darf durch zum Einsatz kommende Lautsprecherwagen nicht überschritten werden. Die Anlage ist entsprechend einzustellen und zu plombieren. Im Übrigen hat es den Antrag abgelehnt. Gegen den stattgebenden Teil des Beschlusses hat der Antragsgegner Beschwerde eingelegt, die der Senat mit Beschluss vom heutigen Tag (11 ME 315/10) zurückgewiesen hat.

5

Das Verwaltungsgericht hat den Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Verfügung vom 11. August 2010 mit Beschluss vom 20. August 2010 abgelehnt. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Antragstellers.

6

Die Beschwerde des Antragstellers hat teilweise Erfolg.

7

Allerdings ist das Verwaltungsgericht nach der hier angesichts des erheblichen Zeitdrucks nur möglichen vorläufigen Prüfung zutreffend davon ausgegangen, dass es für den Fall der Durchführung der Versammlung des Antragstellers in der vorgesehenen Form zu einer unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit durch Angehörige der linksautonomen Szene kommen würde. Ob auch die Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands auf der angemeldeten Aufzugstrecke erfüllt sind, kann derzeit dagegen nicht mit der erforderlichen Gewissheit festgestellt werden. Jedenfalls ist der Senat anders als das Verwaltungsgericht der Auffassung, dass die Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch Beschränkung der Versammlung des Antragstellers auf eine stationäre Kundgebung sowie durch andere Auflagen erheblich verringert werden können, so dass das von dem Antragsgegner verhängte und vom Verwaltungsgericht bestätigte vollständige Versammlungsverbot mit Rücksicht auf die hohe Bedeutung des Grundrechts aus Art. 8 GG unverhältnismäßig sein dürfte.

8

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. etwa Beschl. v. 14.5.1985 - 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 -, BVerfGE 69, 315) ist die Anordnung eines Versammlungsverbotes nicht zu beanstanden, wenn die Prognose mit hoher Wahrscheinlichkeit ergibt, dass der Veranstalter und sein Anhang Gewalttätigkeiten beabsichtigen oder ein solches Verhalten Anderer zumindest billigen werden. Eine solche Demonstration wird als unfriedlich von der Gewährleistung des Art. 8 GG überhaupt nicht erfasst. Steht dagegen kollektive Unfriedlichkeit nicht zu befürchten, ist also nicht damit zu rechnen, dass eine Demonstration im ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt oder dass der Veranstalter oder sein Anhang einen solchen Verlauf anstreben oder zumindest billigen, dann muss für die friedlichen Teilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit auch dann erhalten bleiben, wenn einzelne andere Demonstranten oder eine Minderheit Ausschreitungen begehen. Ein vorbeugendes Verbot der gesamten Veranstaltung wegen befürchteter Ausschreitungen einer gewaltorientierten Minderheit ist nur unter den strengen Voraussetzungen und unter verfassungskonformer Anwendung des § 15 VersG statthaft. Dazu gehört eine hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose sowie die vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten (z.B. durch die räumliche und/zeitliche Beschränkung eines Verbots) ermöglichen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.5.1985, a.a.O.; Beschl. v. 6.6.2007 - 1 BvR 1423/07 -, NJW 2007, 6168).

9

Hiervon ausgehend liegen konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass zu dem vom Antragsteller angemeldeten Aufzug eine nicht unerhebliche Anzahl von Demonstranten aus der linksautonomen Szene mit dem Ziel anreisen wird, bei sich bietender Gelegenheit aus der Versammlung heraus in gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei oder Teilnehmern des Aufzugs von Herrn B. zu treten. Der Antragsgegner hat unter Heranziehung von Berichten des Verfassungsschutzes und der Polizeidirektion Göttingen plausibel dargelegt, dass eine nicht unerhebliche Anzahl von Linksextremisten nach Bad Nenndorf kommen wird, um die Demonstration der Rechtsextremisten zu verhindern oder zumindest in ihrem Ablauf zu stören. Die Erfahrung aus vergleichbaren Situationen in anderen Städten zeigt, dass zumindest ein Teil dieser gewaltbereiten Personen sich an der von dem Antragsteller als friedlich geplanten Versammlung beteiligen und auch gegen den ausdrücklichen Willen des Veranstalters bereit ist, Gewalttätigkeiten zu begehen. Aus diesem Grund ist es bei summarischer Prüfung nicht zu beanstanden, dass der von dem Antragsteller beabsichtigte Aufzug untersagt worden ist, zumal die erforderliche zeitliche und räumliche Trennung der beiden Demonstrationszüge nicht hinreichend gewährleistet erscheint. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich festgestellt, dass der Staat nicht dulden darf, dass friedliche Demonstrationen einer bestimmten politischen Richtung - hier von Rechtsextremisten - durch gewalttätige Gegendemonstrationen verhindert werden; Gewalt von "links" ist keine verfassungsrechtlich hinnehmbare Antwort auf eine Bedrohung der rechtsstaatlichen Ordnung von "rechts" (BVerfG, Beschl. v. 10.5.2006 - 1 BvQ 14/06 -, NVwZ 2006, 1049). In diesem Zusammenhang - so das Bundesverfassungsgericht weiter - kann zu prüfen sein, ob der Anlass für ein auf polizeilichen Notstand gestütztes Versammlungsverbot oder für beeinträchtigende Auflagen durch Modifikation der Versammlungsmodalitäten, durch die der konkrete Zweck der Versammlung nicht vereitelt wird, entfallen kann. Es kommt eine Beschränkung der angemeldeten Versammlung in Betracht, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Versammlungsbehörde wegen Erfüllung vorrangiger staatlicher Aufgaben und ggf. trotz Heranziehung externer Polizeikräfte zum Schutz der angemeldeten Versammlung nicht in der Lage wäre; eine pauschale Behauptung dieses Inhalts reicht allerdings nicht aus (BVerfG, Beschl. v. 10.5.2006, a.a.O.) Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt bei der Behörde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.5.2010 - 1 BvR 2636/04 -, [...]).

10

Der Senat hat im Hinblick auf das Vorliegen eines polizeilichen Notstands im Beschluss vom heutigen Tag im Parallelverfahren 11 ME 315/10 Folgendes ausgeführt:

"Der Antragsgegner hat auch mit der Beschwerdebegründung nicht schlüssig dargelegt, dass das Versammlungsverbot aufgrund der befürchteten gewalttätigen Auseinandersetzungen unter dem Gesichtspunkt des polizeilichen Notstandes gerechtfertigt ist. So kann nach Auffassung des Senats bereits nicht nachvollzogen werden, dass sich die Zahl der gewalttätigen bzw. gewaltbereiten Teilnehmer der von dem Antragsteller angemeldeten Demonstration und der Gegendemonstration gegenüber der ursprünglichen Einschätzung des Antragsgegners, die zunächst zu der Bestätigung beider Versammlungen mit Bescheiden vom 26. Juli und 29. Juli 2010 geführt hatte, nahezu verdoppelt haben soll. Weder der streitigen Verbotsverfügung noch den Kräftekonzeptionen der Polizeidirektion Göttingen vom 11. und 13. August 2010 lässt sich entnehmen, worauf konkret die Annahme beruht, dass an der vom Antragsteller angemeldeten Versammlung statt 130 nunmehr 250 gewaltbereite autonome Nationalisten teilnehmen werden. Gleiches gilt für die Einschätzung, dass sich die Anzahl der Teilnehmer der Gegendemonstration aus der gewaltbereiten linksextremen Szene von 200 auf nunmehr 400 bis 500 erhöhen wird. Der Hinweis auf eine nicht vorgelegte Mitteilung des Nds. Verfassungsschutzes vom 9. August 2010 reicht nicht aus, um das nach Auffassung des Antragsgegners veränderte Gewaltpotenzial plausibel zu machen. Zudem hat der Antragsgegner auch nicht hinreichend belegt, dass ein etwaiger zusätzlicher Bedarf an Polizeikräften nicht durch die Anforderung weiterer Kräfte aus anderen Bundesländern oder dem Bund gedeckt werden kann."

11

Auch im vorliegenden Fall kann ein polizeilicher Notstand nicht festgestellt, aber auch nicht mit der erforderlichen Gewissheit völlig ausgeschlossen werden, so dass die vom Senat vorzunehmende Interessenabwägung dazu führt, dass hier statt eines Totalverbots das mildere Mittel der Erteilung von Auflagen in Betracht kommt. Den Bedenken des Antragsgegners und der Polizei hat der Senat dadurch Rechnung getragen, dass er die Versammlung des Antragstellers örtlich und zeitlich beschränkt. Allerdings hat der Antragsgegner auf die Anfrage des Senats nach einem geeigneten Kundgebungsort mitgeteilt, dass ein solcher in Bad Nenndorf nicht zur Verfügung stehe. Dem Senat ist es wegen fehlender näherer Ortskenntnis und der Zeitknappheit nicht möglich, selbst einen geeigneten Kundgebungsort festzulegen. Er hält es aber trotz der entgegenstehenden Auskunft des Antragsgegners für unwahrscheinlich, dass im gesamten Gebiet der Stadt Bad Nenndorf ein derartiger Platz nicht vorhanden ist, zumal der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers fernmündlich mitgeteilt hat, dass er mehrere geeignete Orte benennen könne. Der Senat überlässt deshalb die abschließende Bestimmung des Kundgebungsortes dem Antragsgegner, wobei er davon ausgeht, dass dieser auch den Antragsteller zu der Auswahl befragt. Jedenfalls ist der Antragsgegner angesichts des hohen Stellenwerts der Versammlungsfreiheit inArt. 8 GG verpflichtet, es dem Antragsteller und anderen friedlichen Demonstranten zu ermöglichen, ihren Protest gegen die Veranstaltung des Herrn B. am selben Tag gemeinsam öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Dabei möglicherweise auftretende Verkehrsbehinderungen oder andere Erschwernisse müssen dabei in Kauf genommen werden. Eine örtlich begrenzte Kundgebung hat im Verhältnis zu einem sich mehrere Kilometer fortbewegenden Demonstrationszug den Vorteil, dass sie leichter durch die Polizei zu schützen und zu kontrollieren ist. Außerdem können gewalttätige Aktionen eher unterbunden werden, wobei ohnehin davon auszugehen ist, dass gewaltbereite Demonstranten aus dem linksautonomen Spektrum an einer stationären Kundgebung, die zudem in einem größeren zeitlichen und räumlichen Abstand zu dem Aufzug des Herrn B. stattfindet, weniger Interesse haben. Dieser Personenkreis wird - worauf Aufrufe im Internet und Erfahrungen mit vergleichbaren Situationen in anderen Städten hindeuten - ohnehin beabsichtigen, unabhängig von der Veranstaltung des Antragstellers durch Sitzblockaden und andere Maßnahmen den Aufzug von Herrn B. zu behindern. Durch die Begrenzung der Zeitdauer der stationären Kundgebung auf zwei Stunden von 9.00 Uhr bis 11.00 Uhr ist auch sichergestellt, dass ein ausreichender zeitlicher Abstand zu der um 12.00 Uhr beginnenden Veranstaltung des Herrn B. gewahrt ist. Auf diese Weise wird es ermöglicht, dass die anwesenden Polizeikräfte nach Abschluss dieser Veranstaltung für andere Aufgaben im Stadtgebiet frei werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass bei einer Beschränkung der Gegendemonstration auf eine stationäre Kundgebung weniger Polizeikräfte benötigt werden als bei dem ursprünglich angemeldeten Aufzug.

12

Der Senat hat bewusst davon abgesehen, dem Antragsteller Vorgaben für die Ausgestaltung der zweistündigen Kundgebung zu machen. Dies unterliegt grundsätzlich dem Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters. Allerdings ist er gehalten, (weitere) von dem Antragsgegner für erforderlich gehaltene Auflagen bei der Durchführung der Kundgebung zu beachten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 5.9.2003 - 1 BvQ 32/00 - NVwZ 2004, 90 [BVerfG 05.09.2003 - 1 BvQ 32/03]).