Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 27.08.2010, Az.: 4 ME 164/10

§ 80 Abs. 6 S. 1 VwGO als eine Zugangsvoraussetzung; Entbehrlichkeit einer erfolglosen vorherigen Stellung eines Aussetzungsantrages bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) bei drohender Vollstreckung bis zum Zeitpunkt der Antragstellung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
27.08.2010
Aktenzeichen
4 ME 164/10
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2010, 22614
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2010:0827.4ME164.10.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 21.05.2010 - AZ: 1 B 1135/10

Fundstellen

  • DVBl 2010, 1242-1243
  • Life&Law 2011, 56-59
  • NVwZ-RR 2010, 865-866
  • NordÖR 2010, 418-419

Amtlicher Leitsatz

§ 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO regelt ebenso wie § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO eine Zugangsvoraussetzung. Die erfolglose vorherige Stellung eines Aussetzungsantrages bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO ist daher nur dann gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO entbehrlich, wenn eine Vollstreckung bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht droht.

Gründe

1

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts hat Erfolg.

2

Das Verwaltungsgericht hat zu Unrecht die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Rundfunkgebührenbescheid des Antragsgegners vom 2. Januar 2010 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 4. März 2010 angeordnet. Denn der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO entfallenden aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist unzulässig.

3

Nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO in den Fällen der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO, zu denen die Anforderung von Rundfunkgebühren gehört, nur zulässig, wenn die Behörde zuvor einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ganz oder teilweise abgelehnt hat. Diese nach Stellung des Antrages auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei Gericht nicht mehr nachholbare Zugangsvoraussetzung (Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand: November 2009, § 80 Rn. 343 f.; Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 80 Rn. 185 m.w.N.) ist hier nicht erfüllt, weil der Antragsteller vor der Stellung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO beim Verwaltungsgericht keinen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim Antragsgegner gestellt hat.

4

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch nicht trotz des Fehlens eines zuvor beim Antragsgegner gestellten und durch diesen abgelehnten Antrags auf Aussetzung der Vollziehung gemäß § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO ausnahmsweise zulässig. Nach dieser Vorschrift gilt das Erfordernis der vorherigen erfolglosen Antragstellung bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO nicht, wenn eine Vollstreckung droht.

5

Im Hinblick auf den Zweck des nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO vorgeschriebenen behördlichen Aussetzungsverfahrens, die verwaltungsinterne Kontrolle zu stärken und die Gerichte von Aussetzungsanträgen zu entlasten (so ausdrücklich die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum 4. VwGOÄndG vom 27.4.1990, BT-Drucks. 11/7030, Seite 24), ist bei der Auslegung der Ausnahmeregelung des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.8.2006 - 9 S 4.06 -). Denn bei einer weiten Auslegung dieser Regelung könnte dieses Ziel nicht mehr erreicht werden und würde sie ihren Charakter als Ausnahmeregelung verlieren. In einem weiten Sinne "droht" nämlich nahezu bei jedem auf die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten gerichteten Verwaltungsakt im Falle der Nichtbefolgung der Zahlungsaufforderung die Vollstreckung. Eine Vollstreckung droht im Sinne des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO daher erst dann, wenn der Beginn konkreter Vollstreckungsmaßnahmen von der Behörde für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt worden ist, konkrete Vorbereitungen der Behörde für eine alsbaldige Vollstreckung getroffen worden sind oder die Vollsteckung bereits begonnen hat (ständige Rechtsprechung des Senats: u.a. Beschlüsse vom 9.7.2009 - 4 ME 163/09 -, vom 23.9.2008 - 4 ME 279/08 -, vom 4.9.2008 - 4 ME 278/08 -, vom 27.8.2008 - 4 ME 252/08 - und vom 10.11.2006 - 4 ME 188/06 -; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.8.2006 - 9 S 4.06 -; OVG Saarlouis, Beschluss vom 22.6.1992 - 1 W 29/92 -, NVwZ 1993, 490; Kopp/Schenke, a.a.O., § 80 Rn. 186).

6

Diese Voraussetzungen sind zu dem Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht am 28. April 2010 nicht erfüllt gewesen. Der Antragsgegner hat zwar in dem Mahnungsschreiben vom 1. April 2010, das selbst noch keine Vollstreckungsmaßnahme ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.5.2010 - 7 B 356/10 - m.w.N.), erklärt, dass sofern der angeforderte Gebührenbetrag nicht innerhalb der nächsten vier Wochen bei ihm eingehe, er bei der für den Wohnsitz des Antragstellers zuständigen Vollstreckungsbehörde Vollstreckungsmaßnahmen beantragen werde, und ferner angekündigt, dass die Kosten der Beitreibung seiner Forderungen durch den Gerichtsvollzieher zu Lasten des Antragstellers gingen. Damit hat er aber keine konkrete Maßnahme zur zwangsweisen Beitreibung des festgesetzten Rundfunkgebührenbetrages für einen unmittelbar bevorstehenden Termin angekündigt, da er dem Antragsteller zum einen eine relativ lange Frist von vier Wochen eingeräumt und zum anderen nach deren Ablauf lediglich allgemein die Einleitung der Vollstreckung, deren Kosten der Antragsteller zu tragen habe, angekündigt hat, ohne bereits eine konkrete Vollstreckungsmaßnahme anzudrohen. Auch ergeben sich aus dem genannten Schreiben des Antragsgegners keine konkreten Vorbereitungen für eine alsbaldige Vollstreckung.

7

Erst mit der "Ankündigung der Zwangsvollstreckung" vom 1. Mai 2010 hat der Antragsgegner für einen unmittelbar bevorstehenden Termin, nämlich "in Kürze", konkrete Vollstreckungsmaßnahmen, nämlich die Beauftragung des Gerichtsvollziehers mit der Eintreibung des gemahnten Betrages im Wege der Kontopfändung oder der Vorladung zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung, angekündigt. Dieses Schreiben kann jedoch nicht zur Begründung des Drohens einer Vollstreckung im Sinne des § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO herangezogen werden, da auch § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO eine Zugangsvoraussetzung regelt, die bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Verwaltungsgericht am 28. April 2010 hätte erfüllt sein müssen.

8

Anhaltspunkte, die eine unterschiedliche rechtliche Bewertung der Sätze 1 und 2 des § 80 Abs. 6 VwGO rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Der Satz 2 des § 80 Abs. 6 VwGO eröffnet Ausnahmen von dem Erfordernis der vorherigen erfolglosen Antragstellung bei der Behörde nach Satz 1 und teilt daher dessen rechtliche Einordnung (Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, a.a.O., § 80 Rn. 350; a. A. Redeker/v. Oertzen, VwGO, 15. Aufl. 2010, § 80 Rn. 43; offen gelassen von VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 9.3.1992 - 2 S 3215/91 -, VBlBW 1992, 374). Da § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO eine Zugangsvoraussetzung regelt, sind mithin auch die in § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO geregelten Ausnahmen hiervon Zugangsvoraussetzungen, die bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht vorliegen müssen und nicht nachholbar sind.

9

Auch der nach dem oben Gesagten eine enge Auslegung fordernde Zweck des behördlichen Aussetzungsverfahrens nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO, die verwaltungsinterne Kontrolle zu stärken und die Gerichte von Aussetzungsanträgen zu entlasten, spricht dafür, nicht nur in Satz 1 des § 80 Abs. 6 VwGO, sondern auch in dessen Satz 2 die Regelung einer Zugangsvoraussetzung zu sehen. Denn könnte die Ausnahme von dem Erfordernis der vorherigen erfolglosen Antragstellung bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 Satz 2 Nr. 2 VwGO auch noch nach der Antragstellung bei Gericht eingreifen, liefe das Antragserfordernis des§ 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO vielfach leer, da die Behörden im Falle einer fortgesetzten Zahlungsverweigerung in der Regel "irgendwann" Vollstreckungsmaßnahmen durchführen, mit der Folge, dass in all diesen Fällen das Erfordernis einer vorherigen Antragstellung bei der Behörde nachträglich auch dann entfiele, wenn der Betroffene zum Zeitpunkt der Antragstellung bei Gericht einer drohenden Vollstreckung noch nicht ausgesetzt gewesen ist und hinreichend Zeit gehabt hat, zuvor einen Aussetzungsantrag bei der Behörde zu stellen. Dies würde dem genannten Zweck des behördlichen Aussetzungsverfahrens ersichtlich zuwider laufen. Zwar ist es dem Betroffenen auch nach der vom Senat für richtig gehaltenen rechtlichen Einordnung des § 80 Abs. 6 Satz 2 VwGO im Falle des nachträglichen Drohens der Vollstreckung nicht verwehrt, nach Ablehnung seines ersten Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes einen aufgrund der zwischenzeitlichen Änderung der Sachlage zulässigen neuen Antrag bei Gericht zu stellen, doch bliebe der Verstoß gegen das Erfordernis einer vorherigen erfolglosen Antragstellung bei der Behörde nach § 80 Abs. 6 Satz 1 VwGO in Übereinstimmung mit dem genannten Gesetzeszweck nicht ohne eine Sanktion, da der "übereilt" beim Gericht gestellte erste Antrag wegen des Fehlens der Zugangsvoraussetzungen des § 80 Abs. 6 VwGO abgelehnt würde.