Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 01.09.2020, Az.: 13 ME 312/20

Asylbewerber; Botschaft; Mitwirkungspflicht, Pass; Passbeschaffungspflicht; vollziehbar Ausreisepflicht; Zumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
01.09.2020
Aktenzeichen
13 ME 312/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 72209
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 29.07.2020 - AZ: 4 B 1097/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG steht der Aufforderung zur Beschaffung eines Pass- bzw. Passersatzpapiers an einen vollziehbar ausreisepflichtigen Asylbewerber, dessen Asylstreitverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist, nicht entgegen.

Die allgemeine Mitwirkungspflicht des § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, die auch die Beschaffung von Pass- bzw. Passersatzpapiern umfasst, findet neben der besonderen Passbeschaffungspflicht des § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG Anwendung. Sie wird durch § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG nicht ausgeschlossen.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 29. Juli 2020 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade vom 29. Juli 2020 hat keinen Erfolg.

Zu Recht hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Die mit der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine abweichende Entscheidung.

Die auf § 46 Abs. 1 AufenthG gestützte Verfügung des Antragsgegners vom 11. Juni 2020, mit der dem Antragsteller aufgegeben worden ist, sich an die Botschaft der Republik Sudan zu wenden und sich dort ein Passersatzpapier beziehungsweise Laissez Passer ausstellen zu lassen, erweist sich bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtmäßig.

Insbesondere ist das Aufsuchen der Botschaft seines Heimatlandes für den Antragsteller nicht unzumutbar. Obgleich bereits das Verwaltungsgericht die diesbezüglichen Schilderungen des Antragstellers als allgemein und vage bezeichnet hat, hat dieser im Rahmen der Beschwerdebegründung keinerlei substantiierte Angeben dazu gemacht, dass nach seiner Kenntnis und Erfahrung die Beschaffung eines Passersatzpapiers bzw. Laissez Passer dazu führte, dass anschließend Familienmitglieder im Sudan befragt und schikaniert würden. Er hat weder angegeben, woher er Kenntnis von den behaupteten Geschehnissen hat, noch hat er dargelegt, welche seiner Familienangehörigen oder welche Familienangehörige ihm bekannter Personen aus diesem Anlass Schikanen ausgesetzt waren. Er hat lediglich behauptet, „andere Verwaltungsgerichte“ positionierten sich deutlich anders. Auch hat er das Auswärtige Amt dafür kritisiert, dass es übersehen habe, dass die tatsächliche Verfolgung nicht bei der Befragung am Flughafen, sondern in den Heimatdörfern und -städten erfolge. Der Antragsteller hat demgegenüber keine Entscheidungen oder Erkenntnismittel bezeichnet, die seine Behauptung einer Drangsalierung von Familienangehörigen wegen der Beschaffung eines Passersatzpapiers bzw. Laissez Passer in einer sudanesischen Botschaft belegen. Das genügt dem Darlegungserfordernis des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht einmal ansatzweise.

Die angefochtene Verfügung ist auch nicht deshalb rechtswidrig, weil sie die Rechtsposition des Antragstellers in dem noch beim Verwaltungsgericht anhängigen Asylstreitverfahren verschlechterte. Allerdings sieht § 72 Abs. 1 Nr. 1 AsylG das Erlöschen der Anerkennung als Asylberechtigter und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vor, wenn der Ausländer sich freiwillig durch Annahme oder Erneuerung eines Nationalpasses oder durch sonstige Handlungen erneut dem Schutz des Staates unterstellt, dessen Staatsangehörigkeit er hat. Derartiges erlegt die angefochtene Verfügung dem Antragsteller jedoch nicht auf. Er ist lediglich aufgefordert, sich in der Botschaft seines Heimatlandes ein Passersatzpapier oder Laissez Passer ausstellen zu lassen. Die mit einer Zwangsgeldandrohung versehene Verfügung vom 11. Juni 2020 schließt es aus, die Annahme eines derartigen der Durchführung der Abschiebung des Antragstellers dienenden Dokuments als Indiz für dessen freiwillige Unterstellung unter den Schutz seines Heimatlandes anzusehen (vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 72 AsylG Rn. 14, 17). Die Befolgung dieser durch die angefochtene Verfügung begründeten Verpflichtung kann damit auch im laufenden Asylstreitverfahren nicht zu Lasten des Antragstellers gewertet werden.

Die angefochtene Verfügung ist schließlich nicht deshalb rechtswidrig, weil den Antragsteller nicht die vom Antragsgegner angenommene besondere Passbeschaffungspflicht des § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG trifft, sondern die - insoweit inhaltsgleiche - allgemeine Mitwirkungspflicht des § 48 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (vgl. zum Inhalt dieser Pflicht im Einzelnen: Senatsurt. v. 8.2.2018 - 13 LB 45/17 -, juris Rn. 41 m.w.N.).

§ 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG schreibt eine "besondere Passbeschaffungspflicht" (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 38) fest. Besitzt der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer keinen gültigen Pass oder Passersatz, ist er nach dieser Bestimmung unbeschadet des § 3 AufenthG verpflichtet, alle ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zumutbaren Handlungen zur Beschaffung eines Passes oder Passersatzes selbst vorzunehmen. Diese besondere Passbeschaffungspflicht gilt gemäß § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG indes nicht für Ausländer ab der Stellung eines Asylantrags (§ 13 AsylG) oder eines Asylgesuchs (§ 18 AsylG) bis zur rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrages sowie für Ausländer, wenn ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegt, es sei denn, das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG beruht allein auf gesundheitlichen Gründen. Die Voraussetzungen der Ausnahmeregelung des § 60b Abs. 2 Satz 2 AufenthG sind hier erfüllt, da die Ablehnung des vom Antragsteller gestellten Asylantrags noch nicht rechtskräftig ist. Die gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. August 2018 erhobene Klage ist noch bei dem Verwaltungsgericht Stade - 4 A 1956/18 - anhängig.

Die Anwendbarkeit der allgemeinen Bestimmung des § 48 Abs. 3 AufenthG ist aber nicht durch § 60b Abs. 2 AufenthG als speziellere Bestimmung ausgeschlossen. Mit der durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 (BGBl. I S. 1294) neu in das Aufenthaltsgesetz eingefügten Bestimmung des § 60b AufenthG zielt der Gesetzgeber auf eine Verdeutlichung und stärkere Erfüllung der Rechtspflichten vollziehbarer Ausländer bei der Passbeschaffung ab und schafft für den Fall der Nichterfüllung mit der "Duldung für Personen mit ungeklärter Identität" eine besondere Sanktionsmöglichkeit (vgl. zu dieser gesetzgeberischen Zielsetzung: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 37; Bundesminister Seehofer in der Ersten Beratung des Gesetzentwurfs, PlProt. 19/101, S. 12184: "Duldung minus" und zu den konkreten Rechtsfolgen der besonderen Duldung nach § 60b AufenthG dessen Absatz 5 Satz 1 bis 3 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat (4. Ausschuss) zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung - Drucksachen 19/10047 u.a. -, BT-Drs. 19/10706, S. 3 f.). Dieser gesetzgeberischen Zielsetzung widerspräche es, im Anwendungsbereich des § 60b Abs. 2 AufenthG die allgemeinen aufenthaltsrechtlichen Mitwirkungspflichten als suspendiert zu betrachten. Vielmehr bleiben die allgemeine Passpflicht nach § 3 AufenthG und auch die allgemeine Mitwirkungspflicht des § 48 Abs. 3 AufenthG neben den besonderen Pflichten nach § 60b Abs. 2 Satz 1 AufenthG bestehen (so ausdrücklich: Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BT-Drs. 19/10047, S. 38; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG, § 60b Rn. 13).

Anhaltspunkte dafür, dass das vom Antragsgegner im Rahmen der Entscheidung nach § 46 Abs. 1 AufenthG betätigte Ermessen durch die veränderte normative Anknüpfung der Passbeschaffungs- und Mitwirkungspflichten beeinflusst worden und deshalb an einem nach § 114 Satz 1 VwGO relevanten Fehler leiden könnte, sind für den Senat nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nr. 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).