Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 04.09.2020, Az.: 13 ME 333/20

einstweilige Anordnung; Feststellungsantrag; Normenkontrolleilverfahren; Sperrwirkung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
04.09.2020
Aktenzeichen
13 ME 333/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71910
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.09.2020 - AZ: 4 B 294/20

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer - vom 3. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 3. September 2020, mit dem dieses festgestellt hat, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, im Falle der Durchführung der "jobmesse braunschweig 2020" im Zeitraum vom 5. September 2020 bis zum 6. September 2020 in der Volkswagenhalle Braunschweig gegen diese ordnungsbehördlich einzuschreiten, bleibt ohne Erfolg.

Die von der Antragsgegnerin in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, gebieten keine andere Entscheidung.

1. Die Antragsgegnerin macht mit ihrer Beschwerde zum einen geltend, das Verwaltungsgericht sei für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht zuständig gewesen. Es habe den Rechtsstreit vielmehr an das erstinstanzlich zuständige Oberverwaltungsgericht verweisen müssen.

Dieser Einwand greift nicht durch.

Das Verwaltungsgericht war für die Entscheidung des Rechtsstreits zuständig. Die von der Antragsgegnerin behauptete sachliche erstinstanzliche Zuständigkeit des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nach § 47 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 6 VwGO i.V.m. § 75 NJG ist nicht gegeben. Die Antragstellerin hat beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO festzustellen, dass die Antragsgegnerin nicht berechtigt ist, im Falle der Durchführung der "jobmesse braunschweig 2020" im Zeitraum vom 5. September 2020 bis zum 6. September 2020 in der Volkswagenhalle Braunschweig gegen diese ordnungsbehördlich einzuschreiten. Eine Auslegung dieses von der anwaltlich vertretenen Antragstellerin gestellten Antrags dahin, dass sie in einem Normenkontrolleilverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige allgemeinverbindliche Außervollzugsetzung des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Niedersächsischen Verordnung zur Neuordnung der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Corona-Virus SARS-CoV-2 (Niedersächsische Corona-Verordnung) vom 10. Juli 2020 (Nds. GVBl. S. 226, ber. S. 257), zuletzt geändert durch Verordnung vom 26. August 2020 (Nds. GVBl. S. 279), begehrt, war nicht geboten. Die sachliche Zuständigkeit für die Entscheidung über den allein gestellten Antrag nach § 123 VwGO lag - unabhängig von dessen Statthaftigkeit und Zulässigkeit im Übrigen - gemäß § 45 VwGO erstinstanzlich bei den Verwaltungsgerichten. Örtlich zuständig ist nach § 52 Nr. 1 VwGO i.V.m. § 73 Abs. 2 Nr. 1 NJG das Verwaltungsgericht Braunschweig (vgl. zur Anwendung des § 52 Nr. 1 VwGO in einer vergleichbaren Fallgestaltung: Senatsbeschl. v. 17.6.2020 - 13 MS 224/20 -, V.n.b. Umdruck S. 2; VG Osnabrück, Beschl. v. 12.6.2020 - 3 B 43/20 -, V.n.b. Umdruck S. 5 f.).

2. Die Antragsgegnerin macht mit ihrer Beschwerde zum anderen geltend, der Antrag nach § 123 VwGO sei unzulässig. Das Normenkontrolleilverfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sei vorrangig durchzuführen.

Auch dieser Einwand greift nicht durch.

Die Antragstellerin kann ihr auf vorläufige Feststellung gerichtetes Begehren in zulässiger Weise im Wege des Verfahrens auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO verfolgen. Nach § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn in Bezug auf den Streitgegenstand die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO), oder wenn in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine vorläufige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung, § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dabei kann auch der Erlass einer einstweiligen Anordnung in Gestalt einer vorläufigen Feststellung zur vorläufigen Sicherung des in der Hauptsache im Wege der allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 VwGO geltend gemachten sachlichen Begehrens erfolgen. Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung zutreffend festgestellt, dass der gestellte Antrag im Verfahren nach § 123 VwGO statthaft und auch sonst zulässig ist (Beschl. v. 3.9.2020, Umdruck S. 8 ff.). Der Senat macht sich diese Erwägungen zu Eigen und verweist auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

Entgegen der Beschwerde ist auch ein Vorrang des Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht gegeben (a.A. Bayerischer VGH, Beschl. v. 18.6.2020 - 20 CE 20.1388 -, juris Rn. 2 ff.).

Ein solcher Vorrang ist in der Verwaltungsgerichtsordnung positiv nicht normiert. § 123 Abs. 5 VwGO schließt eine Anwendung des Verfahrens nach § 123 Abs. 1 bis 3 VwGO neben dem Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO, anders als für die Fälle der §§ 80 und 80a VwGO, nicht aus. Ein solcher Ausschluss ist auch weder systematisch noch teleologisch zu begründen. Beide Verfahren sind voneinander unabhängig ausgestaltet und auf verschiedene Rechtsschutzziele gerichtet. Im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO kann eine einstweilige Außervollzugsetzung der Rechtsnorm mit allgemeinverbindlicher Wirkung (erga omnes) erreicht werden. Im Verfahren nach § 123 VwGO ist nur die Frage der Anwendbarkeit einer Rechtsnorm in einem konkreten Einzelfall klärungsfähig. Im Gegensatz zu einer Außervollzugsetzung nach § 47 Abs. 6 VwGO durch das Oberverwaltungsgericht kommt der Feststellung der Nichtanwendbarkeit einer untergesetzlichen Norm durch das Verwaltungsgericht dabei nur eine Wirkung inter partes zu.

Das Verfahren nach § 47 VwGO entfaltet daher gegenüber der Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung im Wege der Feststellungsklage keine Sperrwirkung (so ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 17.1.2006 - 1 BvR 541/02 -, BVerfGE 115, 81, 95 f. - juris Rn. 50; BVerwG, Urt. v. 28.6.2000 - BVerwG 11 C 13.99 -, BVerwGE 111, 276, 278 - juris Rn. 29). Dem System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes kann nicht entnommen werden, dass außerhalb des § 47 VwGO die Überprüfung von Rechtsetzungsakten ausgeschlossen sein soll (so ausdrücklich BVerfG, Beschl. v. 17.1.2006, a.a.O.; BVerwG, Urt. v. 9.12.1982 - BVerwG 5 C 103.81 -, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 78 - juris Rn. 10). Vielmehr gehört es seit jeher zur richterlichen Prüfungskompetenz, auch die Gültigkeit einer Rechtsnorm, insbesondere ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen, sofern es für den Ausgang des Rechtsstreits hierauf ankommt. Daran hat sich durch die Zulassung der verwaltungsgerichtlichen Normenkontrolle in den Fällen des § 47 VwGO, durch die die Möglichkeiten des subjektiven Rechtsschutzes nicht beschnitten werden sollten, nichts geändert. Außerhalb des Verwerfungsmonopols des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG (oder des Verwerfungsmonopols eines Landesverfassungsgerichts) besteht daher für untergesetzliche Rechtsvorschriften die Normprüfungs- und auch -verwerfungskompetenz aller Gerichte. Anlass, diese Kompetenz durch eine unter Rückgriff auf Art. 19 Abs. 4 GG konstruierte Sperrwirkung der Normenkontrolle einzuschränken, sieht der Senat nicht. Diese für den Rechtsstaat grundlegende Verfassungsnorm gewährleistet effektiven Rechtschutz. Es bleibt dem Gesetzgeber aber unbenommen, über die Mindestanforderungen effektiven Rechtsschutzes hinauszugehen. Angesichts dessen liegt auch die Annahme einer unzulässigen Umgehung des Verfahrens nach § 47 Abs. 6 VwGO durch einen Antrag nach § 123 VwGO fern. Die von der Antragsgegnerin befürchtete Rechtszersplitterung durch unterschiedliche erstinstanzliche Entscheidungen kann - auch während der Corona-Pandemie - im Zuge folgender Entscheidungen in der Rechtsmittelinstanz wieder beseitigt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und Nr. 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).