Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.09.2020, Az.: 1 ME 58/20

Dachüberstand; Grenzabstand

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.09.2020
Aktenzeichen
1 ME 58/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71922
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 02.03.2020 - AZ: 2 B 9/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die für die Drittelbildung nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO zu berücksichtigende Außenwandbreite ist auf der Höhe zu messen, auf der auch das vortretende Gebäudeteil gemessen wird.

Das Abstandsprivileg für Dachüberstände und Gesimse in § 5 Abs. 3 Nr. 1 NBauO bezieht sich auf den regulären Grenzabstand nach § 5 Abs. 1 und 2 NBauO, nicht auf den nach Maßgabe von § 5 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 NBauO reduzierten Grenzabstand.

Tenor:

Die Beschwerde der Beigeladenen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Lüneburg - 2. Kammer - vom 2. März 2020 wird zurückgewiesen.

Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beigeladene wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen eine ihr erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses; in der Sache streiten die Beteiligten darum, ob dieses die notwendigen Grenzabstände sowie das Gebot der Rücksichtnahme wahrt.

Die Beigeladene ist Eigentümerin des ursprünglich mit einem Einfamilienhaus im vorderen, d.h. südlichen Grundstücksbereich bebauten Vorhabengrundstücks H. I. im Stadtgebiet der Antragsgegnerin; die Antragstellerin ist Eigentümerin des östlich an das Baugrundstück angrenzenden Nachbargrundstücks A-Straße, in dessen rückwärtigem, d.h. nördlichem Bereich ein einstöckiges Einfamilienhaus steht.

Unter dem 19. Juni 2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die Baugenehmigung zur Errichtung eines zweistöckigen Mehrfamilienhauses mit Staffelgeschoss im nördlichen Bereich des Vorhabengrundstücks als Ersatzbau für das vorhandene Gebäude. Die Nord-Süd-Ausdehnung des Gebäudes soll im Erd- und Obergeschoss 27,74 m, im Staffelgeschoss 23,99 m betragen. Zur östlichen, dem Antragstellergrundstück zugewandten Grundstücksgrenze sollen die Gebäudeaußenwände bei einer Traufhöhe von 9,00 m im mit dem Staffelgeschoss überbauten Gebäudeteil grundsätzlich einen Grenzabstand von 4,50 m einhalten. Etwa in der Mitte des Gebäudes springt die Ostfassade auf einer Breite von 7,31 m - gemessen von Außenwand zu Außenwand - um 1,41 m vor die Hauptfassade vor; in diesem Bereich liegen das Treppenhaus und Abstellräume. Da das gemeinsame Gebäudedach von West nach Ost abfällt, beträgt die Traufhöhe in diesem Bereich 8,90 m. An allen Außenwänden, auch an denen des östlichen Treppenhausvorbaus, ist ein Dachüberstand einschließlich Regenrinne von 50 cm vorgesehen.

Dem von der Antragstellerin nach erfolglosem behördlichem Aussetzungsverfahren beim Verwaltungsgericht gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer fristgemäß erhobenen Klage hat das Verwaltungsgericht stattgegeben und zur Begründung ausgeführt: das Vorhaben halte zwar die vorgeschriebenen Grenzabstände ein. Grundsätzlich gelte zur östlichen Grundstücksgrenze ein Grenzabstand von ½ h = 4,50 m. Der Vorbau bleibe nach § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO unberücksichtigt; nach der Rechtsprechung des Senats greife diese Norm nicht nur für untergeordnete Gebäudeteilgattungen. Das Vorhaben verstoße jedoch gegen das drittschützende, im Erfordernis des Einfügens in § 34 Abs. 1 BauGB enthaltene Gebot der Rücksichtnahme. Zwar halte sich das Vorhaben auch hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung im durch die Umgebungsbebauung gesetzten Rahmen. Ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot komme gleichwohl in Betracht, gerade wenn die rahmenbildenden Vorhaben in der näheren Umgebung ungleich verteilt seien. So liege es hier; vergleichbar große Nachbarbauten fänden sich ausschließlich westlich des Vorhabens. Hinzu komme, dass der vorgefundene Rahmen ebenso wie das Maß des bauordnungsrechtlich Zulässigen fast vollständig zum Nachteil der Antragstellerin ausgenutzt werde, ohne dass Abstriche etwa hinsichtlich der Positionierung des Baukörpers auf dem Grundstück dies ansatzweise ausglichen. Das Vorhaben rücke mit einer massiven Front sehr nah an Wohnhaus und Terrasse der Antragstellerin heran; es nehme diesem das natürliche Licht von Westen fast vollständig und entfalte erdrückende Wirkung.

Die dagegen von den Beigeladenen erhobene Beschwerde hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin im Ergebnis zu Recht als hoch angesehen und daher dem Eilantrag zu Recht stattgegeben.

Die Baugenehmigung wird sich aller Voraussicht nach als rechtswidrig erweisen und subjektive Rechte der Antragstellerin verletzen, da das Vorhaben gegen die nachbarschützenden Grenzabstandsvorschriften verstößt. Der Antragstellerin ist darin zuzustimmen, dass die - unstrittige - Unterschreitung des in § 5 Abs. 1, 2 NBauO vorgeschriebenen Grenzabstandes zum Grundstück der Antragstellerin von 0,5 H durch den Treppenhausvorbau nicht von § 5 Abs. 3 Nr. 2 NBauO gedeckt ist. Nach dieser Vorschrift darf der Abstand nach den Absätzen 1 und 2 unterschritten werden von Eingangsüberdachungen, Hauseingangstreppen, Balkonen, sonstigen Vorbauten und anderen vortretenden Gebäudeteilen, wenn die Gebäudeteile insgesamt nicht mehr als ein Drittel der Breite der jeweiligen Außenwand in Anspruch nehmen, um nicht mehr als 1,50 m, höchstens jedoch um ein Drittel. Der Senat sieht zwar auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Antragstellerin in ihrer Beschwerdeerwiderung keinen Anlass, von seiner Rechtsprechung abzuweichen, nach der für die Anwendbarkeit dieser Vorschrift eine rein mathematische Betrachtungsweise ohne Berücksichtigung einer „Unterordnung“ des vortretenden Gebäudeteils oder seiner Funktion maßgeblich ist (Senatsbeschl. v. 4.6.2019 - 1 ME 75/19 -, BauR 2019, 1759 = juris Rn. 8 und 1 ME 76/19 -, BauR 2019, 1434 = juris Rn. 8 f.). Auch überschreitet der Treppenhausvorbau nicht deshalb ein Drittel der Gebäudebreite, weil ihm seitliche Dachüberstände zuzurechnen wären. Diese könnten zwar die Breite des Vorbaus im Traufbereich auf 7,31 m + (2 x 0,50 m) = 8,31 m erhöhen. Allerdings ist maßgeblich für den Drittelvergleich die Breite des Hauptgebäudes nicht auf dem Niveau, wo dieses am schmalsten (oder breitesten) ist, sondern auf dem Niveau, auf dem es jeweils in Bezug zum Vorbau gesetzt wird. Da auch der Hauptkörper des Gebäudes im Traufbereich seitliche Dachüberstände und damit eine Breite von 23,99 m + (2 x 0,50 m) = 24,99 m aufweist, wird die Drittelregel auch hier eingehalten.

Die Anwendbarkeit der Privilegierung scheitert aber daran, dass der Treppenhausvorbau den nach den Absätzen 1 und 2 maßgeblichen Grenzabstand von 4,40 m (0,5 x 8,9 = 4,45 m, abgerundet nach § 5 Abs. 1 Satz 5 NBauO auf volle 10 cm) um mehr als ein Drittel, also mehr als 1,47 m unterschreitet. Denn auch bei der Tiefenbemessung des vortretenden Gebäudeteils ist der Dachüberstand einschließlich Regenrinne mit zu berücksichtigen. Das Abstandsprivileg für Dachüberstände und Gesimse in § 5 Abs. 3 Nr. 1 NBauO bezieht sich bereits nach dem Wortlaut dieser Norm auf den regulären Grenzabstand nach § 5 Abs. 1 und 2 NBauO, nicht auf den nach Maßgabe von § 5 Abs. 3 Nrn. 2 und 3 NBauO reduzierten Grenzabstand (ebenso Breyer, in: Große-Suchsdorf, 10. Aufl. 2020, § 5 Rn. 105 f.). Eine Kombination beider Privilegierungstatbestände hätte zudem sinnwidrige Ergebnisse: so dürfte eine bloße Eingangsüberdachung den Grenzabstand um maximal 1,50 m unterschreiten; würde die Eingangsüberdachung hingegen mit einem 1,50 m vorspringenden Windfang untermauert, so könnte sie als Dachüberstand über diesem Windfang um bis zu 2 m in die Abstandsfläche hineinragen.

Unter Berücksichtigung des nach der grüngestempelten Schnittzeichnung A-A (BA 001 Bl. 43) einschließlich Regenrinne 0,50 m tiefen Dachüberstandes unterschreitet der Treppenhausvorbau den erforderlichen Grenzabstand von 4,40 m um mehr als 1,47 m. Denn sowohl aus dem Maßstab, als auch der Randbemaßung des grüngestempelten Abstandsflächenplans (BA 001 Bl. 42) ergibt sich deutlich, dass der Grenzabstand von 3,09 m von der Fassade des Vorbaus, nicht von der Außenkante der Regenrinne aus gemessen ist. Der tatsächlich maßgebliche Grenzabstand beträgt damit 3,09 - 0,50 = 2,59 m, während geboten mindestens die Einhaltung eines Grenzabstandes von 2,93 war.

Der Grenzabstandsverstoß ist ungeachtet des Umstandes, dass die Antragstellerin ihn in dieser Form erst mit ihrer Beschwerdeerwiderung vom 4. Mai 2020 und damit mehr als 10 Wochen nach Klageerhebung am 25. November 2019 geltend gemacht hat, nicht nach § 6 UmwRG präkludiert. Unabhängig von der Anwendbarkeit dieser Norm im vorliegenden Verfahren folgt dies bereits daraus, dass sich der Verstoß eindeutig aus den grüngestempelten Bauvorlagen ergibt, es dem Gericht mithin mit geringem Aufwand möglich ist, den Sachverhalt auch ohne Mitwirkung der Antragstellerin zu ermitteln (§ 87b Abs. 3 Satz 3 VwGO i.V.m. § 6 Satz 3 UmwRG).

Zur Vermeidung künftiger Rechtsstreitigkeiten zwischen den Beteiligten weist der Senat ferner darauf hin, dass er einen Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme eher für fernliegend hält. Namentlich die Ableitung eines Anspruchs auf Einhaltung eines größeren Abstandes zur Nordgrenze des Grundstücks nach Maßgabe einer „faktischen Baugrenze“ dürfte sich aus der insoweit sehr heterogenen Nachbarbebauung, zu der nicht zuletzt auch das Wohnhaus der Antragstellerin beiträgt, nicht herleiten lassen. Auch das Interesse der Antragstellerin, im rückwärtigen Bereich ihres Grundstücks von der Abendsonne zu profitieren, dürfte hier kein Gewicht haben, das unter dem Gesichtspunkt des Rücksichtnahmegebotes einen Rechtsanspruch auf eine Verschiebung des Vorhabens nach Süden begründen könnte. Der insoweit anzulegende Maßstab ist streng. Das Vorhaben mag für die Antragstellerin eine spürbare Verschlechterung gegenüber dem status quo begründen - für die Annahme einer erdrückenden Wirkung dürfte dies jedoch nicht genügen.