Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.09.2020, Az.: 7 ME 89/20

Ladenöffnung; rechtfertigender Sachgrund; Sonntagsöffnung; Umsatzsteigerung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.09.2020
Aktenzeichen
7 ME 89/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71918
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 03.09.2020 - AZ: 12 B 2287/20

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die pandemiebedingte Betroffenheit des örtlichen Einzelhandels kann sowohl landes- als auch bundesweit und für jeden Sonntag angeführt werden und damit keinen Ausnahmecharakter vom landesweit geltenden Gebot der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen begründen. Diese rechtfertigt für sich genommen keine anlasslosen, gebietsweiten und sortimentsübergreifenden Ladenöffnungsfreigaben an Sonntagen (Anschluss an OVG NRW, Beschlüsse vom 20.08.2020 - 4 B 1260/20.NE -, - 4 B 1261/20.NE -, und vom 03.09.2020 - 4 B 1253/20.NE -). Das bloße wirtschaftliche Umsatzinteresse stellt unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben keinen sonstigen rechtfertigenden Sachgrund im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG dar.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 12. Kammer - vom 3. September 2020 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstands wird für das Beschwerdeverfahren auf 5.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Mit am 20. August 2020 veröffentlichter Allgemeinverfügung genehmigte die Antragsgegnerin unter Anordnung der sofortigen Vollziehung die Öffnung von Verkaufsstellen im gesamten Stadtgebiet an den Sonntagen des 13. September sowie des 4. und 11. Oktober 2020 in der Zeit von jeweils 13 Uhr bis 18 Uhr. Zur Begründung führte sie u.a. aus, als rechtfertigender Sachgrund im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG sei die aufgrund der Pandemieauswirkungen einzigartige, ausnahmsweise dringend erforderliche Konjunkturförderung anzusehen. Arbeitsplätze sollten erhalten und einer Verödung der Innenstadt durch Leerstand nach Insolvenzen entgegengewirkt werden. Die Sonntagsöffnung diene der Stabilisierung und Aufrechterhaltung der örtlichen Nahversorgung. Auch könne durch die Sonntagsöffnung eine Konsumsteigerung gefördert werden, da es sich um ein Einkaufserlebnis in anderer Einkaufsatmosphäre handele. Die Antragstellerin, eine Dienstleistungsgewerkschaft, hat gegen die Allgemeinverfügung am 24. August 2020 beim Verwaltungsgericht Oldenburg Klage erhoben (Az.: 12 A 2285/20), über die noch nicht entschieden ist, und zugleich einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt. Mit Beschluss vom 3. September 2020, auf dessen Begründung Bezug genommen wird, hat das Verwaltungsgericht auf den Antrag der Antragstellerin die aufschiebende Wirkung dieser Klage wiederhergestellt. Dagegen wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Beschwerde vom 6. September 2020.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die Beschwerdebegründung, auf deren Prüfung das Beschwerdegericht - hinsichtlich der gegen die Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung sprechenden Gründe (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25.11.2004 - 8 S 1870/04 -, NVwZ-RR 2006, 75) - nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, gebietet es nicht, den angefochtenen Beschluss zu ändern.

Das Verwaltungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, das Interesse der Antragstellerin an einer Aussetzung der Vollziehung der Ausnahmegenehmigung überwiege sowohl das öffentliche Vollzugsinteresse als auch das Vollzugsinteresse der Beigeladenen, weil sich die angegriffene Allgemeinverfügung nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung aller Wahrscheinlichkeit nach als rechtswidrig darstelle und deshalb die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen sei. Zwar sei § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich, die Voraussetzungen dieser Norm seien jedoch nicht erfüllt, weil es für die Sonntagsöffnung an einem hinreichend gewichtigen und konkreten Sachgrund fehle, der dem verfassungsrechtlichen Schutz der Sonntagsruhe Rechnung trage.

Mit ihrer Beschwerde stellt die Antragsgegnerin dies nicht durchgreifend in Frage. Ausweislich der Gesetzgebungsmaterialien (LT-Drucksache 18/3724) ist der der Allgemeinverfügung allein zugrunde gelegte § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG vom Gesetzgeber als Auffangtatbestand konzipiert, der sich an die in der Rechtsprechung entwickelte Formulierung des für die Sonntagsöffnung erforderlichen rechtfertigenden Sachgrundes anlehnt. Ob diese Norm selbst noch einer verfassungskonformen Auslegung zugänglich ist, kann offenbleiben, weil das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, dass jedenfalls deren Voraussetzungen vorliegend nicht erfüllt sind. Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt (vgl. Beschlussabdruck S. 7 ff.), dass die in § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 NLöffVZG enthaltene Regelung an die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 NLöffVZG anknüpfe. Das von der Antragsgegnerin verfolgte Ziel, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie durch die Öffnung der Verkaufsstellen im gesamten Stadtgebiet ohne weiteren Anlass und den gesamten Einzelhandel betreffend zu bekämpfen, stelle keinen für eine Sonntagsöffnung erforderlichen, hinreichend gewichtigen und konkreten Sachgrund im Sinne der verfassungsrechtlichen Vorgaben dar. Selbst wenn man unterstellte, dass die angegriffene Allgemeinverfügung dieser Zielsetzung förderlich sei, werde diese jedenfalls nicht dem verfassungsrechtlich geforderten Mindestniveau des Sonntagsschutzes gerecht. Die von der Antragsgegnerin angeführten Sachgründe könnten während der anhaltenden Pandemie bundesweit und für jeden Sonntag angeführt werden und seien schon deshalb nicht geeignet, das verfassungsrechtlich erforderliche Regel-Ausnahme-Verhältnis für die Arbeit an Sonntagen zu wahren. Der grundgesetzlich vorgesehene Schutz des arbeitsfreien Sonntags sei auch durch die wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht herabgesetzt.

Die Beschwerde setzt dieser Beurteilung überzeugende Argumente nicht entgegen. Die Antragsgegnerin macht im Wesentlichen geltend, das Verwaltungsgericht habe den verfassungsrechtlichen Maßstab und den von der Antragsgegnerin zugrunde gelegten Sachgrund fehlerhaft gewichtet. Dem kann nicht gefolgt werden.

Das Vorbringen der Antragsgegnerin, das Verwaltungsgericht habe unzureichend berücksichtigt, dass die angegriffene Verfügung - anders als in den der höchstrichterlichen Rechtsprechung zugrundeliegenden Fällen - vor dem Hintergrund der in keiner Weise vorhersehbaren wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie ergangen sei, verfängt nicht. Das Gericht hat explizit (Beschlussabdruck S. 8) auch diesen Gesichtspunkt im Rahmen seiner Abwägung berücksichtigt und ausgeführt, dass es diesen Umstand nicht verkenne, gleichwohl die Verfügung jedoch aufgrund der verfassungsrechtlichen Gesichtspunkte nicht für rechtlich haltbar erachte. Diese Einschätzung ist nicht zu beanstanden. Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV schützt den Sonn- und Feiertag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung. Er konkretisiert die Schutzpflichten aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dient der Verwirklichung des Sozialstaatsprinzips, weil er jedermann regelmäßige Ruhetage garantiert und den Schutz der Grundrechte verstärkt, deren Ausübung in besonderem Maße auf die synchrone Taktung des sozialen Lebens angewiesen ist, beispielsweise Art. 2 Abs. 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 8 und Art. 9 Abs. 1 und 2 GG (BVerfG, Urteil vom 01.12.2009 - 1 BvR 2857/07 -, juris). In Folge dessen ist, um das verfassungsrechtlich geforderte Mindestniveau des Sonntagsschutzes zu wahren, die Ausgestaltung der Sonn- und Feiertage als Tag der Arbeitsruhe als Regel anzusehen, von der nur aus zureichendem Sachgrund zur Wahrung gleich- oder höherrangiger Rechtsgüter Ausnahmen zugelassen werden können und deren Ausnahmecharakter für die Öffentlichkeit erkennbar bleibt (BVerfG, Urteil vom 01.12.2009 - 1 BvR 2857/07 -, juris).

Die unzweifelhaft vorliegenden Herausforderungen des lokalen Einzelhandels in Folge der Coronavirus-Pandemie können vor diesem Hintergrund eine Ausnahme vom landesweit geltenden Gebot der Arbeitsruhe an Sonn- und Feiertagen schon deshalb nicht verfassungsrechtlich rechtfertigen, weil - worauf das Verwaltungsgericht zutreffend abstellt - die von der Antragsgegnerin angeführten Sachgründe, insbesondere die aufgrund der pandemiebedingten Betroffenheit des örtlichen Einzelhandels beabsichtigte Konjunkturförderung sowie die Einnahmeeinbußen bei Bekleidung, Schuhen, Antiquitäten, Gebrauchtwaren und Bild- und Tonträgern im örtlichen Einzelhandel im Vergleich zum Versand- und Internethandel, während der anhaltenden Pandemie sowohl landes- als auch bundesweit und für jeden Sonntag angeführt werden können und sich damit ein Ausnahmecharakter gerade nicht darstellen lässt. Unabhängig davon hat das Verwaltungsgericht bereits zutreffend ausgeführt, dass das bloß wirtschaftliche Umsatzinteresse von Verkaufsstelleninhabern und ein alltägliches Erwerbsinteresse potentieller Käufer grundsätzlich nicht genügen, um Ausnahmen von dem verfassungsunmittelbar verankerten Schutz der Arbeitsruhe und der Möglichkeit zur seelischen Erhebung an Sonn- und Feiertagen zu gestatten. Dies ist nicht etwa deshalb anders zu beurteilen, weil das wirtschaftliche Umsatzinteresse - pandemiefolgebedingt - besonders groß ist (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.08.2020 - 4 B 1261/20.NE -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 03.09.2020 - 4 B 1253/20.NE -, n.v.). Die Antragsgegnerin führt schließlich auch keine hinreichend gewichtigen, besonderen örtlichen Sachgründe an, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 22. Juni 2020 noch einmal ausdrücklich festgestellt, dass in Anwendung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine Sonntagsöffnung nicht auf eine weitgehende Gleichstellung mit den Werktagen und ihrer geschäftigen Betriebsamkeit hinauslaufen darf. Bei Ladenöffnungen, die - wie vorliegend beabsichtigt - gebietsweit, ohne gegenständliche Einschränkungen und ohne eine den zeitlichen und örtlichen Umfang rechtfertigende Anlassveranstaltung erfolgen sollen, bedarf es besonders gewichtiger Gründe; Sachgründe von geringerem Gewicht können regelmäßig nur räumlich oder gegenständlich eng begrenzte Ladenöffnungen mit geringer prägender Wirkung für den öffentlichen Charakter des Tages rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 22.06.2020 - 8 CN 3.19 -, juris). Die unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 13. Mai 2020 (AZ: OVG 1 B 6.19) vertretene Auffassung der Antragsgegnerin, es bedürfe grundsätzlich keines besonders hohen, herausragend gewichtigen öffentlichen Interesses, verfängt vor diesem Hintergrund der aktuelleren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht, ungeachtet dessen, dass der landesrechtliche Genehmigungsgrund des „öffentlichen Interesses“ in dieser Formulierung im NLöffVZG auch nicht vorgesehen ist.

Bei Ladenöffnungen, die - wie vorliegend beabsichtigt - gebietsweit, ohne gegenständliche Einschränkungen und ohne eine den zeitlichen und örtlichen Umfang rechtfertigende Anlassveranstaltung erfolgen sollen, prägt das Geschehen wesentlich allein das Einkaufserlebnis, welches der geschäftigen Betriebsamkeit eines Werktags im Wesentlichen gleichkommt. Die landes- und bundesweit eingetretenen wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie, so gravierend sie für den stationären Einzelhandel sind, rechtfertigen es auch angesichts des weiten Umfangs, in dem der Landesgesetzgeber werktäglich sowie mit zahlreichen Ausnahmeregelungen der Berufsausübungsfreiheit der Verkaufsstelleninhaber und der allgemeinen Handlungsfreiheit potentieller Kunden Rechnung getragen hat, nicht, ohne Weiteres den benannten Sonntagen letztlich ein werktägliches Gepräge zu geben (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.08.2020 - 4 B 1261/20.NE -, juris).

Der Einwand der Antragsgegnerin, es sei nicht überzeugend begründbar, weshalb eine Großveranstaltung beliebigen Inhalts den grundsätzlich zu wahrenden Sonntagsschutz zurücktreten lasse, während die erstrebte Sicherung der Existenz einer Vielzahl von Einzelhandelsgeschäften dies nicht vermöge, verfängt nicht. Die Konstellationen sind nicht vergleichbar. Die Antragsgegnerin berücksichtigt nicht, dass in letzterem Fall die Tätigkeit der Einzelhandelsgeschäfte selbst, die grundsätzlich in Hinblick auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV am Sonntag einzustellen ist, zugleich den Rechtfertigungsgrund für die Ausnahme vom grundsätzlichen Sonntagsöffnungsverbot darstellen soll, während im Falle einer Anlassveranstaltung diese Schwerpunkt des Besucherstroms sein muss und sich die Sonntagsöffnung in diesem Fall lediglich als Annex dazu mit geringer prägender Wirkung darstellen darf (BVerwG, Urteil vom 12.12.2018 -8 CN 1.17 -, juris).

Stellt sich die angegriffene Allgemeinverfügung aller Wahrscheinlichkeit nach bereits aus den vorhergehenden Gesichtspunkten als rechtswidrig dar, kann es dahinstehen, ob dem Erfordernis der Erkennbarkeit des Ausnahmecharakters der freigegebenen Sonntage allein durch die von der Antragsgegnerin angeführten Maßnahmen Rechnung getragen werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen folgt die Entscheidung aus §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig, da sie keinen eigenen Antrag gestellt und sich damit einem eigenen Kostenrisiko nicht ausgesetzt haben.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Ziffer 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).