Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.09.2020, Az.: 1 MN 61/20

Ortsrat; Veränderungssperre

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
24.09.2020
Aktenzeichen
1 MN 61/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 71936
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 94 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NKomVG erfordert die Beteiligung des Ortsrats auch beim Erlass einer Veränderungssperre.

§ 94 Abs. 2 Satz 1 NKomVG bewirkt gegenüber Abs. 1 eine Vorverlegung des Anhörungszeitpunkts.

Die Unbeachtlichkeitsvorschrift des § 214 BauGB ist auf Verletzungen von Verfahrens- und Formvorschriften des NKomVG nicht anwendbar.

Tenor:

Die vom Rat der Antragsgegnerin am 24. Februar 2020 als Satzung beschlossene Veränderungssperre für den Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. D. „E. Südost/F.-Straße G.“ wird bis zur Entscheidung des Senats über den Normenkontrollantrag der Antragstellerin (Az. 1 KN 60/20) außer Vollzug gesetzt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes für das Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird auf 22.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Antragstellerin wendet sich gegen die aus dem Rubrum ersichtliche Veränderungssperre der Antragsgegnerin, die der Zulassung ihres Bauvorhabens entgegensteht.

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks E. H. im unbeplanten Innenbereich des Ortsteils I. der Antragsgegnerin. Sie möchte die dort vorhandene Villa abreißen und durch ein Zwölfparteienhaus vergleichbarer Grundfläche ersetzen; Stellplätze sollen auf ganzer Breite des Vorgartenbereichs angeordnet und, soweit ersichtlich, direkt von der Straße aus angefahren werden.

In seiner Sitzung am 24. Februar 2020 fasste der Verwaltungsausschuss der Antragsgegnerin ohne Anhörung des Ortsrats I. den Aufstellungsbeschluss zur Aufstellung eines Bebauungsplans Nr. D. für einen u.a. das Grundstück der Antragstellerin umfassenden Bereich, mit der Zielsetzung, die Höchstzahl der Wohnungen für ein Grundstück auf vier zu beschränken und höchstmögliche Zufahrtsbreiten zu den Grundstücken festzulegen. Der Aufstellungsbeschluss wurde mit etwas abweichendem Wortlaut in der Zeitung „I. aktuell“ vom 13. März 2020 bekannt gemacht. Ebenfalls am 24. Februar beschloss der Rat der Antragsgegnerin ohne vorherige Anhörung des Ortsrats I. die streitgegenständliche, auf zwei Jahre befristete Veränderungssperre für den Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. D. als Satzung. Die Satzung wurde nach Ausfertigung durch den Bürgermeister am 12. März 2020 im Amtsblatt des Landkreises A-Stadt vom 20. März 2020 und in der Zeitung „I. aktuell“ vom 27. März 2020 bekannt gemacht.

Am 1. April 2020 hat die Antragstellerin gegen die Veränderungssperre einen Normenkontrollantrag und den vorliegenden Normenkontrolleilantrag gestellt.

Dieser hat Erfolg.

Er ist zulässig, insbesondere ist die Antragstellerin antragsbefugt. Der Umstand, dass der Landkreis A-Stadt nach dem übereinstimmenden Vortrag der Beteiligten mit Bescheid vom 28. April 2020 die Bauvoranfrage der Antragstellerin zurückgestellt hat, lässt weder deren Antragsbefugnis noch das Rechtsschutzbedürfnis entfallen. Die Antragstellerin hat unwidersprochen vorgetragen, gegen den Zurückstellungsbescheid fristgerecht Rechtsmittel eingelegt zu haben; deren Erfolgsaussichten können im vorliegenden Verfahren jedenfalls nicht ausgeschlossen werden. Im Übrigen kann die Geltungsdauer des dem Gericht nicht vorliegenden Zurückstellungsbescheides nach § 15 BauGB maximal 12 Monate betragen.

Der Antrag ist auch begründet.

Zur Beurteilung der Frage, ob der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO geboten ist, sind zunächst die Erfolgsaussichten des in der Sache anhängigen Normenkontrollantrages zu prüfen, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ergibt diese Prüfung, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug des Bebauungsplans bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn dessen (weiterer) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, mithin so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. zum Prüfungsmaßstab Senatsbeschl. v. 28.2.2020 - 1 MN 153/19 -, BauR 2020, 978 = juris Rn. 15).

Die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags der Antragstellerin sind hoch. Die angegriffene Veränderungssperre wird sich aller Voraussicht nach als unwirksam erweisen, da sie ohne vorherige Beteiligung des Ortsrats des Ortsteils I. der Antragsgegnerin beschlossen wurde.

Nach § 94 Abs. 1 Satz 1 NKomVG sind Ortsräte, wo sie - wie hier - durch die Hauptsatzung der jeweiligen Gemeinde gebildet sind, zu allen wichtigen Fragen des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises, die die Ortschaft in besonderer Weise berühren, rechtzeitig anzuhören. Nach § 94 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 NKomVG besteht dieses Anhörungsrecht insbesondere bei der Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung des Flächennutzungsplans sowie von Satzungen nach dem Baugesetzbuch, soweit sie sich auf die Ortschaft oder den Stadtbezirk erstrecken. Zu den Satzungen nach dem Baugesetzbuch gehören jedoch auch die Satzungen über Veränderungssperren nach § 14 BauGB. Eine Anhörung des Ortsrats des Ortsteils I. der Antragsgegnerin vor Erlass der angegriffenen Veränderungssperre ist in den übersandten Aufstellungsvorgängen nicht dokumentiert; ihr Unterbleiben ist im Übrigen nicht bestritten. Die Anhörung war auch nicht nach § 89 Satz 4 NKomVG entbehrlich. Es ist nicht ersichtlich, dass der Erlass der Veränderungssperre so dringlich gewesen wäre, dass zu einer Anhörung des Ortsrats keine Zeit verblieben wäre. Zwar musste die Veränderungssperre, sollte sie ihren Zweck erfüllen, grundsätzlich vor Bescheidung der Bauvoranfrage der Antragstellerin erlassen werden. Allerdings ist nicht ersichtlich, dass die Erteilung des Bauvorbescheides zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses unmittelbar bevorstand. Zudem hätte die Antragsgegnerin in diesem Fall eine Zurückstellung der Bauvoranfrage nach § 15 BauGB beantragen können (und hat dies mit Schreiben vom 27. Februar 2020 auch getan).

§ 94 Abs. 2 Satz 1 NKomVG führt entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht dazu, dass die Anhörung erst zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen müsste. Er betrifft die Anhörung des Ortsrats zur Aufstellung des Bebauungsplans. Diese ist entgegen dem Verständnis beider Beteiligten ohnehin nicht mit Bekanntmachung des Aufstellungs-, sondern erst des Satzungsbeschlusses bewirkt; § 94 Abs. 2 Satz 1 NKomVG regelt insoweit keine Verschiebung des Anhörungstermins nach hinten, sondern nach vorne, allerdings nicht vor den Zeitpunkt des Aufstellungsbeschlusses. Das Erfordernis, den Ortsrat auch zum Erlass einer Veränderungssperre - und zwar vor deren Erlass - anzuhören, bleibt hiervon jedoch unberührt. Für Veränderungssperren hat § 94 Abs. 2 NKomVG keine Bedeutung, da diese keine Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung erfordern.

Der in der fehlenden Anhörung liegende Verfahrensfehler führt zur Unwirksamkeit der Veränderungssperre. Die Unbeachtlichkeitsvorschrift des § 214 BauGB ist lediglich auf Verletzungen von Verfahrens- und Formvorschriften des BauGB, nicht jedoch auf solche des NKomVG anwendbar. Eine eigene Unbeachtlichkeitsvorschrift für Verletzungen der Anhörungspflicht enthält das NKomVG nur in § 10 Abs. 2 NKomVG für den Fall, dass der Fehler nicht schriftlich innerhalb eines Jahres seit Verkündung der Satzung gegenüber der Kommune geltend gemacht worden ist. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor; die Antragstellerin hat den Fehler mit Schriftsätzen vom 1. April 2020 und 20. Mai 2020, die binnen eines Jahres nach Bekanntmachung der Veränderungssperre an die Antragsgegnerin weitergeleitet worden sind, ausdrücklich gerügt.

Die Möglichkeit einer Fehlerheilung nach § 214 Abs. 4 BauGB ändert an der Gebotenheit des Eilrechtsschutzes nichts. Zwar rechtfertigt nach der Senatsrechtsprechung das Vorliegen eines heilbaren Fehlers einer Satzung, der eigene Rechte des Antragstellers nicht berührt, die Außervollzugsetzung der Satzung nicht, wenn mit einer alsbaldigen Heilung des Fehlers zu rechnen ist. An letzterem fehlt es hier jedoch; der bloße Verweis auf eine Heilungsmöglichkeit ohne konkrete Ankündigung, eine Fehlerheilung auch tatsächlich zeitnah in Angriff nehmen zu wollen, genügt insoweit nicht (Senatsbeschl. v. 2.7.2013 - 1 MN 90/13 -, BRS 81 Nr. 79 = juris Rn. 61; v. 25.4.2014 - 1 MN 245/13 -, NVwZ-RR 2014, 463 = juris Rn. 35). Nur vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass eine Heilung nicht bereits mit einer Nachholung der Anhörung bewirkt wäre, sondern eine Wiederholung von Satzungsbeschluss und Bekanntmachung voraussetzen würde.

Angesichts dessen kann dahinstehen, ob die weiteren von der Antragstellerin gerügten Bekanntmachungsmängel vorliegen; diese würden einer Neubekanntmachung nicht zwangsläufig wieder anhaften. Von Bedeutung für die Beteiligten sind allenfalls vorsorgliche Ausführungen des Senats zur wirksamen Bekanntgabe des Aufstellungsbeschlusses und zum Vorliegen von für den Erlass einer Veränderungssperre hinreichend konkretisierten Planungsabsichten der Antragsgegnerin.

Erstere begegnet keinen Bedenken. Zwar weicht der Wortlaut der Bekanntmachung des Aufstellungsbeschlusses in der Zeitung „I. aktuell“ vom Wortlaut des Aufstellungsbeschlusses ab, indem er die Zielsetzung der Planung mit etwas anderen Worten umschreibt. Eine Identität ist indes nicht erforderlich (Senatsbeschl. v. 27.2.2019 - 1 KN 46/18 -, juris Rn. 32).

Auch hinreichend konkrete Planungsabsichten dürften vorliegen. Dass die Planaufstellungsvorgänge keine Absicht erkennen lassen, eine bestimmte Art der baulichen Nutzung festzusetzen, ist voraussichtlich unschädlich. Aussagen zu beabsichtigten Artfestsetzungen sind lediglich dann erforderlich, wenn diese auch durch die Planung gesteuert werden sollen; zielt die Planung dagegen ausschließlich auf andere städtebauliche Parameter ab, so müssen auch nur diese konkretisiert werden (Senatsbeschl. v. 27.2.2019 - 1 KN 46/18 -, juris Rn. 39). So liegt es hier: Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Antragsgegnerin am Katalog bislang nach § 34 BauGB zulässiger Nutzungen etwas ändern möchte. Vor diesem Hintergrund ist es unerheblich, ob der Aufstellungsbeschluss eine Absicht erkennen lässt, die geltende Rechtslage durch Artfestsetzungen nachzuvollziehen oder ihren Bebauungsplan als einfachen Bebauungsplan ohne Artfestsetzungen aufzustellen. Die Zielsetzungen einer Beschränkung der Höchstzahl von Wohnungen auf vier und einer über das straßenrechtliche Instrumentarium hinausgehenden Freihaltung des straßenbegleitenden Parkraums durch Grundstückszufahrten sind ebenfalls hinreichend konkret; dass ihre Verwirklichung durch Aufstellung eines Bebauungsplans möglich ist, hält der Senat anders als die Antragstellerin nicht für ausgeschlossen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nrn. 1 Buchst. e), 9 Buchst. c), 18 Buchst. b) der Streitwertannahmen des Senats.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).