Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.06.2022, Az.: 10 LA 77/22
Existenzminimum; Existenzsicherung; Schattenwirtschaft; Schwarzarbeit
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.06.2022
- Aktenzeichen
- 10 LA 77/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59584
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 25.04.2022 - AZ: 5 A 166/20
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bestehen keine hinreichenden Erkenntnisse darüber, dass der Staat, in den der Flüchtling rücküberführt werden soll, effektiv gegen Schwarzarbeit vorgeht und dass dem Flüchtling dort aus diesem Grund mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht, kann er zur Existenzsicherung auch auf eine Tätigkeit im Bereich der sogenannten Schattenwirtschaft verwiesen werden.
Tenor:
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Osnabrück - Einzelrichterin der 5. Kammer - vom 25. April 2022 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.
Gründe
Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Denn die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) und der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) sind von ihm nicht hinreichend dargelegt worden.
Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich und einer abstrakten Klärung zugänglich ist, im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf, nicht schon geklärt ist und (im Falle einer Rechtsfrage) nicht bereits anhand des Gesetzeswortlauts und der üblichen Regeln sachgerechter Auslegung sowie auf der Grundlage der einschlägigen Rechtsprechung ohne Durchführung eines Berufungsverfahrens beantwortet werden kann (BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018 - 1 B 25.18 -, juris Rn. 5, zu § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO; ferner: GK-AsylG, Stand: Juni 2019, § 78 AsylG Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: April 2019, § 78 AsylG Rn. 21 ff. m.w.N.).
Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG verlangt daher nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (u. a. Senatsbeschluss vom 13.9.2018 - 10 LA 349/18 -, juris Rn. 2 ff.):
1. dass eine bestimmte Tatsachen- oder Rechtsfrage konkret und eindeutig bezeichnet,
2. ferner erläutert wird, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und
3. schließlich dargetan wird, aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren.
Die Darlegung der Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit der bezeichneten Frage im Berufungsverfahren (2.) setzt voraus, dass substantiiert dargetan wird, warum sie im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und - im Falle einer Tatsachenfrage - welche (neueren) Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (ständige Rechtsprechung des Senats: u. a. Senatsbeschluss vom 18.2.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 25.7.2017 - 9 LA 70/17 - m.w.N.). Die Begründungspflicht verlangt daher, dass sich der Zulassungsantrag mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils substantiiert auseinandersetzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.6.2019 - 5 BN 4.18 -, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Die Darlegung einer Tatsachenfrage setzt außerdem eine intensive, fallbezogene Auseinandersetzung mit den von dem Verwaltungsgericht herangezogenen und bewerteten Erkenntnismitteln voraus (Senatsbeschluss vom 18.2.2019 - 10 LA 27/19 -; Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 13.1.2009 - 11 LA 471/08 -, juris Rn. 5), weil eine Frage nicht entscheidungserheblich und klärungsbedürftig ist, die sich schon hinreichend klar aufgrund der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel beantworten lässt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Beschlüsse vom 30.1.2014 - 5 B 44.13 -, juris Rn. 2, und vom 17.2.2015 - 1 B 3.15 -, juris Rn. 3, zu den Anforderungen an die Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Erforderlich ist daher über den ergebnisbezogenen Hinweis, dass der Bewertung der Situation in dem betreffenden Land zu der als klärungsbedürftig bezeichneten Tatsachenfrage durch das Verwaltungsgericht im Ergebnis nicht gefolgt werde, hinaus, dass in Auseinandersetzung mit den Argumenten des Verwaltungsgerichts und den von ihm herangezogenen Erkenntnismitteln dargetan wird, aus welchen Gründen dieser Bewertung im Berufungsverfahren nicht zu folgen sein wird (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 m.w.N.). Dabei ist es Aufgabe des Zulassungsantragstellers, durch die Benennung von Anhaltspunkten für eine andere Tatsacheneinschätzung, also insbesondere durch das Anführen bestimmter (neuerer) Erkenntnisquellen, darzutun, dass hierfür zumindest eine gewisse Wahrscheinlichkeit besteht (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 610 f. m.w.N.). Es reicht deshalb nicht, wenn der Zulassungsantragsteller sich lediglich gegen die Würdigung seines Vorbringens durch das Verwaltungsgericht wendet und eine bloße Neubewertung der vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnismittel verlangt (GK-AsylG, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 609 m.w.N., Hailbronner, a.a.O., § 78 AsylG Rn. 28).
Diesen Anforderungen genügt der Zulassungsantrag des Klägers nicht.
Er hat zur Begründung des Zulassungsgrunds die folgende Frage aufgeworfen:
„Besteht für in Italien anerkannte Schutzberechtigte im Falle ihrer Rückführung nach Italien die ernsthafte Gefahr, dass sie im Falle ihrer Rücküberstellung dorthin ihre elementarsten Bedürfnisse für einen längeren Zeitraum nicht befriedigen können?“
Mit seinen Ausführungen zur Begründung der seiner Auffassung nach bestehenden grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage hat der Kläger die oben beschriebenen Darlegungserfordernisse nicht erfüllt.
Soweit der Kläger behauptet hat, er werde im Falle seiner Rückführung in absehbarer Zeit keine Unterkunft in einer Aufnahmeeinrichtung erhalten, keinerlei Sozialleistungen und auch sonst keine finanzielle Unterstützung erhalten, hat er sich mit den diesbezüglichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts, den vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismitteln und den daraus vom Verwaltungsgericht gezogenen Schlüssen überhaupt nicht befasst. Denn er hat insoweit lediglich seine eigene Sichtweise dargestellt und ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2021 (– 11 A 1689/20.A –, juris) auszugsweise wiedergegeben, ohne sich mit den diesbezüglichen Ausführungen und Feststellungen des Verwaltungsgerichts auseinanderzusetzen.
Soweit der Kläger hinsichtlich der Möglichkeiten der Arbeitsaufnahme in Italien ausgeführt hat, er werde im Falle seiner Rücküberstellung entgegen der Prognose des Verwaltungsgerichts auch durch eigene Erwerbstätigkeit nicht in der Lage sein, sich selbst die finanziellen Mittel für sein Überleben zu verdienen, hat er lediglich andere Schlussfolgerungen aus dem auch vom Verwaltungsgericht berücksichtigten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 10. Juni 2021 gezogen. Während der Kläger meint, wegen der hohen Arbeitslosenrate sei es schon für Italiener schwierig, eine Arbeit in Italien zu finden, für Flüchtlinge gelte dies ohne Zweifel umso mehr, hat das Verwaltungsgericht aus diesem geschlussfolgert, dass unter Berücksichtigung der Ausführungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe die durch den Europäischen Gerichtshof gesetzte hohe Schwelle für eine Verletzung von Art. 4 GRC im konkreten Einzelfall des Klägers nicht überschritten sei. Er sei vielmehr darauf zu verweisen, sich den herausfordernden Bedingungen durch hohe Eigeninitiative zu stellen, um seinen Lebensunterhalt sicherzustellen und sein Existenzminimum gewährleisten zu können. Dies könne ihm zugemutet werden, da er jung und gesund sei. Der Kläger hat mit seinem Vorbringen zur Begründung des Zulassungsantrags keine konkreten Gründe aufgezeigt, die diese Beurteilung der Verhältnisse in Italien durch das Verwaltungsgericht als zweifelhaft erscheinen lassen, und damit die Möglichkeit einer anderen Entscheidung im Berufungsverfahren nicht dargelegt. Denn aus dem auch von ihm zitierten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ergibt sich – ebenso wie aus dem vom Verwaltungsgericht ebenfalls herangezogenen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe von Januar 2020 –, dass es durchaus Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge häufig im Bereich der sogenannten Schattenwirtschaft, etwa in der Pflege, in der Hausarbeit, in der Landwirtschaft und im Tourismussektor gibt. Auch wenn diese Tätigkeiten nach diesen Erkenntnismitteln schlecht bezahlt sind, so ist jedenfalls die Schlussfolgerung des Verwaltungsgerichts, dass die hohe Schwelle für die Annahme einer Verletzung von Art. 4 GRC jedenfalls für einen jungen, gesunden und alleinstehenden Flüchtling nach einer Rückkehr nach Italien auch im Hinblick auf die Arbeitsmöglichkeiten nicht überschritten ist, durchaus nachvollziehbar. Hiermit hat der Kläger sich nicht konkret befasst und folglich nicht dargelegt, aus welchen Gründen die Verhältnisse in Italien anders als durch das Verwaltungsgericht zu beurteilen sein sollten. Soweit er in diesem Zusammenhang wieder auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juli 2021 (– 11 A 1689/20.A –, juris) Bezug nimmt, wonach es sich von vornherein verbiete, Asylsuchende auf die Möglichkeit der Schwarzarbeit zur Existenzsicherung zu verweisen (juris Rn. 137), folgt der Senat dem jedenfalls dann nicht, wenn keine hinreichenden Erkenntnisse darüber vorliegen, dass der betreffende Mitgliedstaat effektiv gegen Schwarzarbeit vorgeht und dem Flüchtling mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 27.1.2022 – 1 B 93.21 –, juris Rn. 26). Denn in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der der Senat sich anschließt, ist jedenfalls für diesen Fall geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, Beschluss vom 27.1.2022 – 1 B 93.21 –, juris Rn. 25 m.w.N.).
Soweit der Kläger schließlich noch den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) für den Fall anführt, dass es eine von der Entscheidung des Verwaltungsgerichts abweichende Entscheidung des Berufungsgerichts oder der anderen in § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG aufgeführten Gerichte geben sollte, hat er eine solche Entscheidung nicht angeführt und damit diesen Zulassungsgrund nicht dargelegt. Im Übrigen ist eine solche Entscheidung dem Senat auch nicht bekannt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).