Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 16.06.2022, Az.: 13 ME 367/21

Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses durch Unterstützung der "Grauen Wölfe" und Aufruf eines Ausländers zu Hass gegen Teile der Bevölkerung; Vornahme der Abwägung der Ausweisungsinteressen und Bleibeinteressen

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
16.06.2022
Aktenzeichen
13 ME 367/21
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 22699
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 10.08.2021

Fundstelle

  • InfAuslR 2022, 319-323

Redaktioneller Leitsatz

  1. 1.

    Ein öffentlicher Aufruf zur Gewaltanwendung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 AufenthG setzt ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches Einwirken auf andere mit dem Ziel voraus, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Handlungen hervorzurufen.

  2. 2.

    Eine Sympathisierung mit einer bestimmten Gruppierung erfüllt nicht den Grundtatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 5 Halbs. 1 AufenthG.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 5. Kammer - vom 10. August 2021 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 5. Kammer - vom 10. August 2021, soweit mit diesem dem Antrag des Antragstellers stattgegeben worden ist, bleibt ohne Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat auf den Antrag des Antragstellers zutreffend die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 20. Mai 2021 (Blatt 3 ff. der Gerichtsakte) wiederhergestellt, soweit darin der Antragsteller sofort vollziehbar aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden ist, und angeordnet, soweit darin gegenüber dem Antragsteller ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Dauer von sechs Jahren ab dem Tag der Ausreise festgesetzt worden ist. Die hiergegen mit der Beschwerde geltend gemachten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO im Beschwerdeverfahren zu beschränken hat, gebieten eine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung nicht.

1. Die Antragsgegnerin macht mit ihrer Beschwerde geltend, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht das Bestehen eines Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verneint. Dieses setze weder eine vorherige strafgerichtliche Verurteilung noch einen Bezug zum Terrorismus voraus. Vielmehr hätten die Ausländerbehörden den Gefährdungstatbestand selbständig und ohne Rücksicht auf einen terroristischen Hintergrund zu ermitteln und zu bewerten. Für die danach allein erforderliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung könne auf die Informationen des Verfassungsschutzes zurückgegriffen werden, die das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG belegten. Gleiches gelte für die Äußerungen des Antragstellers in den sozialen Medien.

Dieses Beschwerdevorbringen der Antragsgegnerin genügt schon den Darlegungsanforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO nicht (vgl. zu den Darlegungsanforderungen im Einzelnen: Senatsbeschl. v. 25.7.2014 - 13 ME 97/14 -, NordÖR 2014, 502 f. - juris Rn. 4 mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Das Verwaltungsgericht hat es unter Anwendung eines richtigen rechtlichen Maßstabs (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 16.3.2021 - 13 ME 43/21 -, V.n.b., Umdruck S. 4 f.) und unter Würdigung aller relevanten Umstände des hier zu beurteilenden konkreten Einzelfalls als nicht hinreichend durch Tatsachen belegt angesehen, dass der Antragsteller in § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG genannte Rechtsgüter gefährdet (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 8 ff.). Mit diesen Erwägungen setzt sich die Beschwerde nicht in der gebotenen qualifizierten, ins Einzelne gehenden und fallbezogenen Weise auseinander und zeigt auch für den Senat nicht nachvollziehbar auf, dass und warum diese Entscheidung unrichtig und im Ergebnis aufzuheben oder zu ändern ist.

2. Die Antragsgegnerin macht weiter geltend, die Unterstützung der "Grauen Wölfe" durch den Antragsteller verwirkliche auch den Ausweisungstatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, der vom Verwaltungsgericht gar nicht berücksichtigt worden sei. Aus den öffentlichen Beiträgen des Antragstellers in den sozialen Medien vom 1. Januar 2021 und vom 19. Juni 2019 sowie dem Beitrag nach der Eröffnung der Moschee ergebe sich ein eindeutiger Aufruf zur Gewaltanwendung, der über ein bloßes Befürworten hinausgehe. Auch eine öffentliche Drohung mit Gewaltanwendung sei hierin zu sehen.

Auch dieser Einwand verhilft der Beschwerde nicht zum Erfolg.

Nach § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer sich zur Verfolgung politischer oder religiöser Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht.

Ein hier in Betracht zu ziehender öffentlicher Aufruf zur Gewaltanwendung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 AufenthG setzt ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches Einwirken auf andere mit dem Ziel voraus, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Handlungen hervorzurufen (vgl. BGH, Urt. v. 14.03.1984 - 3 StR 36/84 -, juris Rn. 13 (zu § 111 StGB); OVG Bremen, Urt. v. 15.1.2013 - 1 A 202/06 -, juris Rn. 42 (zu § 54 Nr. 5a AufenthG a.F.); Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 54 Rn. 114 (Stand: 1.4.2022); Eser, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, § 111 Rn. 3 m. w. N.). Eine Drohung mit Gewaltanwendung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 3 AufenthG liegt in der Ankündigung einer bevorstehenden Gewaltausübung und der Vorgabe des Drohenden, die Gewalt selbst oder durch einen seinem Einfluss unterstehenden Dritten auszuüben (vgl. Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 54 Rn. 117 (Stand: 1.4.2022); Eser, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, § 113 Rn. 45 f. und Vor §§ 234 bis 241a Rn. 31 jeweils m.w.N.).

Dies zugrunde gelegt, ist nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht gegeben.

Das Verhalten des Antragstellers

  • anlässlich von ihm erbrachter Hilfsdienste bei der Eröffnung der DITIB-Moschee und des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan in Köln am 29. September 2018 (vgl. Blatt 1523 f. der Beiakte 3: "D. handhabte Polizei-Absperrband und wurde wegen des Verdachts der Amtsanmaßung angezeigt. Wir schätzen D. als Rechtsextremisten ein. Er zeigt internetöffentlich den Wolfsgruß und bekundet Sympathien zu den äußerst prominenten Exponenten der türkischen 'Grauen Wölfe' Sedat PEKER.")

    und seine öffentlich zugänglichen Äußerungen in verschiedenen sozialen Medien

  • auf Facebook am 29. September 2018 (Blatt 1524 f. der Beiakte 3: Lichtbild des Antragstellers mit einem Sedat-Peker-Schal und Kommentar: "Wir sind nicht gekommen, weil wir (plötzlich) Deutschland-Fans geworden seien. Wir sind gekommen, um die Verräter zu sehen/zu begraben. Und tschüss!"),

  • auf Twitter am 19. Juni 2019 (Blatt 1595 der Beiakte 3 und Bescheid v. 20.5.2021, S. 10: "Wir sind keine Nation, die gerne Blut vergießt. Wenn jedoch die Heimat in Frage kommt; Wir schneiden die Halsschlagader der Welt."),

  • auf Facebook am 1. Januar 2021 (Blatt 1620 der Beiakte 3: Kommentar zu einem Bild des türkischen Präsident Erdogan: "Wir trugen dein Leichentuch und gingen auf diese Straße. Wir werden diejenigen verletzen, die gekommen sind, und wir werden viel Glück haben. Möge niemandes Zweifel haben.") und

  • auf Facebook am 11. Januar 2021 (Blatt 1630 der Beiakte 3: "Die Freiheit des Schakals ist bis der Löwe aufsteht. Wer stark genug ist, um zu verbrennen, sollte genug Kraft haben, um den Konsequenzen zu begegnen. Seid kluge Verräter.")

deuten fraglos darauf hin, dass der Antragsteller mit den "Grauen Wölfen" (vgl. zur Einordnung dieser Gruppierung: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Sevim Dagdelen u.a., Die rechtsextremistische Gruppierung "Graue Wölfe" und das Erdogan-Netzwerk in Deutschland, BT-Drs. 20/893 v. 2.3.2022; Bundesamt für Verfassungsschutz, Türkischer Rechtsextremismus in Deutschland - Die 'Ülkücü'-Bewegung, Stand: November 2020, veröffentlicht unter: www.verfassungsschutz.de; Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport - Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2020, S. 279 ff., veröffentlicht unter: www.verfassungsschutz.niedersachsen.de) sympathisiert (hat), geben Hinweise auf einen stark überhöhten Nationalismus in Verbindung mit der Abwertung anderer Ethnien und zeigen eine latente Aggressivität des Antragstellers. Die Äußerungen verlassen aber die abstrakte Ebene nicht. Es fehlt an einem ausdrücklichen Einwirken auf andere mit dem durch Tatsachen belegbaren, vom Antragsteller verfolgten Ziel, in ihnen den Entschluss zu bestimmten Gewalthandlungen hervorzurufen. Auch die Ankündigung einer bevorstehenden bestimmten Gewaltausübung und der Vorgabe des Antragstellers, die Gewalt selbst oder durch einen, seinem Einfluss unterstehenden bestimmten Dritten auszuüben, ist mit den dargestellten Tatsachen nicht zu belegen.

3. Die Antragsgegnerin macht weiter geltend, die Unterstützung der "Grauen Wölfe" durch den Antragsteller verwirkliche auch den Ausweisungstatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, der vom Verwaltungsgericht gar nicht berücksichtigt worden sei. Dieser Ausweisungstatbestand erfasse insbesondere "Hassprediger" und andere "geistige Brandstifter", die gegen andere Bevölkerungsteile hetzten. Ziel sei es, Gefährdungen des friedlichen Zusammenlebens im Bundesgebiet vorzubeugen. Eine solche Gefährdung sei mit dem rechtsextremistischen Verhalten des Antragstellers verbunden. Die "Grauen Wölfe" würden durch den Verfassungsschutz beobachtet, weil es sich um eine Bewegung handele, die die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährde und gegen den Gedanken der Völkerverständigung und das friedliche Zusammenleben der Völker richte. Unerheblich sei, ob der Hass öffentlich oder nichtöffentlich verbreitet werde. Schon die Zugehörigkeit des Antragstellers zu den "Grauen Wölfen" verwirkliche den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 Alt. 2 Buchst. b AufenthG, da diese sich als Idealisten sähen, die eine antidemokratische, antiliberale und antikommunistische Haltung verträten und sich gegenüber sogenannten "Feinden", insbesondere Mitgliedern der PKK, Kurden, Juden, Kommunisten und Freimaurern, oft skrupellos und gewaltbereit verhielten. Sie wollten der Welt einen türkisch-islamischen Stempel aufdrücken, das großtürkische Reich "Turan" errichten und den politischen Gegner eliminieren. Der Antragsteller habe in seinen Beiträgen in den sozialen Medien mehrfach seine feindselige Haltung gezeigt und zur Tötung der sogenannten "Feinde" aufgerufen. Es sei kein bloßer Sympathisant, sondern Teil und sogar Vorreiter der "Grauen Wölfe". Der Antragsteller habe sich durch seine eidesstattliche Versicherung, die er erst nach Anhörung und kurz vor Erlass der Ausweisungsverfügung abgegeben habe, auch nicht erfolgreich exkulpieren können. Er habe von seinem Handeln nicht glaubhaft Abstand nehmen, sondern nur die Ausweisung umgehen wollen.

Auch diese Einwände verhelfen der Beschwerde nicht zum Erfolg.

Nach § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft; hiervon ist auszugehen, wenn er auf eine andere Person gezielt und andauernd einwirkt, um Hass auf Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen oder Religionen zu erzeugen oder zu verstärken oder öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören, gegen Teile der Bevölkerung zu Willkürmaßnahmen aufstachelt (Buchst. a), Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift (Buchst. b) oder Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder terroristische Taten von vergleichbarem Gewicht billigt oder dafür wirbt (Buchst. c), es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand.

Der Grundtatbestand in Halbsatz 1 und die hier einzig in Betracht zu ziehende gesetzliche Regelvermutung in Halbsatz 2 Alt. 2 Buchst. b des § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG sind nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht erfüllt.

a. Der Grundtatbestand in Halbsatz 1 des § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG, der voraussetzt, dass "der Ausländer zu Hass gegen Teile der Bevölkerung aufruft", schafft - ebenso wie die Vorgängervorschrift in § 55 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a und b AufenthG a.F. - nach dem gesetzgeberischen Willen eine Grundlage, sogenannte Hassprediger auszuweisen und damit "geistigen Brandstiftern" möglichst frühzeitig und wirkungsvoll entgegenzutreten. Mit dieser Vorschrift sollen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch Äußerungen und Handlungen erfasst werden, die das friedliche Zusammenleben im Bundesgebiet gefährden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 51). Die Störung muss aktuell sein, das heißt einen Bezug zur Gegenwart haben (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 19.3.2012 - OVG 3 B 2.11 -, juris Rn. 25 (zu § 55 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG a.F.)). Die Feststellungen dürfen nur auf einer fundierten und belastbaren Tatsachengrundlage getroffen werden; es bedarf einer trennscharfen Zuordnung von Fakten zu den einzelnen Tatbestandsmerkmalen. Als Anknüpfungspunkt für eine Ausweisung scheiden von vornherein Äußerungen aus, die (noch) durch die von Art. 5 GG verbürgte Meinungsfreiheit gedeckt sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.6.2005 - 2 BvR 485/05 -, juris Rn. 29 f. (zu § 55 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG a.F.); OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.5.2021 - 2 M 25/21 -, juris Rn. 21 f.; Hessischer VGH, Urt. v. 16.11.2011 - 6 A 907/11 -, juris Rn. 50 jeweils m.w.N.). Der Aufruf zu Hass - als einer über emotional gesteigerte, über die bloße Ablehnung oder Verachtung hinaus gesteigerten feindseligen Haltung - ist durch ein über bloßes Befürworten hinausgehendes, ausdrückliches oder konkludentes Einwirken auf andere mit dem Ziel gekennzeichnet, in diesen den Entschluss zu einem bestimmten Verhalten hervorzurufen (vgl. OVG Bremen, Urt. v. 15.01.2013 - 1 A 202/06 -, juris Rn. 42; Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 54 Rn. 123 (Stand: 1.4.2022)). Der Hass richtet sich "gegen Teile der Bevölkerung", wenn eine in Deutschland lebende Bevölkerungsgruppe betroffen ist, die sich etwa nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheiden lässt und zahlenmäßig so erheblich ist, dass sie individuell nicht mehr überschaubar ist. Zielt die Äußerung auf Gruppen im Ausland, so kommt es darauf an, ob damit zugleich eine entsprechende Gruppe im Inland betroffen ist. Hetze gegen eine einzelne Person erfüllt den Tatbestand nicht, es sei denn, diese Person steht symbolisch für eine bestimmte Gruppe. Staaten, Regierungen und sonstige Institutionen als solche bilden keine Bevölkerungsteile und sind somit keine tauglichen Angriffsobjekte (vgl. Hessischer VGH, Urt. v. 16.11.2011 - 6 A 907/11 -, juris Rn. 45 f.; VG Freiburg, Urt. v. 2.7.2021 - 10 K 1661/19 -, juris Rn. 51; Fleuß, in: BeckOK Ausländerrecht, AufenthG, § 54 Rn. 124 (Stand: 1.4.2022) jeweils m.w.N.).

Hieran gemessen dürfte der Antragsteller mit seinem Verhalten anlässlich von ihm erbrachter Hilfsdienste bei der Eröffnung der DITIB-Moschee und des Besuchs des türkischen Präsidenten Erdogan in Köln am 29. September 2018 und mit seinen öffentlich zugänglichen Äußerungen in verschiedenen sozialen Medien (siehe hierzu im Einzelnen oben I.2.) den Grundtatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 1 AufenthG nicht verwirklicht haben. Seinem Handeln ist nicht hinreichend klar zu entnehmen, dass der Antragsteller auf Dritte derart einwirken wollte, dass in diesen der Entschluss zu einem bestimmten Verhalten hervorgerufen werden sollte. Auch richten sich die Äußerungen nicht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, die sich etwa nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheiden. Die abstrakten populistischen Äußerungen des Antragstellers sind vielmehr an die Allgemeinheit adressiert oder auf nicht näher bestimmte "Verräter" (so die Äußerungen auf Facebook am 29.9.2018, Blatt 1524 der Beiakte 3, und am 11.1.2021, Blatt 1630 der Beiakte 3) und "diejenigen ..., die gekommen sind" (so die Äußerung auf Facebook am 1.1.2021, Blatt 1620 der Beiakte 3) bezogen. Nichts anderes ergibt sich entgegen der Beschwerde aus einer von der Antragsgegnerin angenommenen Zugehörigkeit des Antragstellers zur Gruppierung "Graue Wölfe". Der Senat hat bereits Zweifel, ob der Antragsteller der Gruppierung überhaupt angehört, geschweigen denn deren "Vorreiter" ist. Belastbare tatsächliche Anhaltspunkte für eine solche Zugehörigkeit zur oder Stellung in der Gruppierung fehlen. Bisher einzig nach außen wahrnehmbare Aktivität des Antragstellers für diese Gruppierung waren die von ihm bei der Eröffnung der DITIB-Moschee und des Besuchs des Präsidenten Erdogan in Köln am 29. September 2018 geleisteten Hilfsdienste (siehe hierzu oben I.2. und Blatt 1523 f. der Beiakte 3). Auch unter Berücksichtigung der dargestellten Äußerungen des Antragstellers in den sozialen Medien (siehe hierzu oben I.2.) ist eine Gruppierungszugehörigkeit nicht belegt; vielmehr spricht - hierauf hat auch das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 10) - Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller mit der Gruppierung "nur" sympathisiert (hat). Hinzu kommt, dass selbst bei einer Gruppenzugehörigkeit des Antragstellers dessen Äußerungen in den sozialen Medien (siehe hierzu oben I.2.) nicht ohne Weiteres als auf alle "Feinde" der "Grauen Wölfe" bezogen und deshalb als gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen gerichtet angesehen werden können. Zudem dürften die "Feinde" der "Grauen Wölfe" nicht als nach ethnischen oder religiösen, sozialen, wirtschaftlichen oder politischen Merkmalen von der übrigen Bevölkerung unterscheidbare Gruppe angesehen werden können. Hiergegen spricht schon deren eher diffuse und vielschichtige Umschreibung (vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport - Verfassungsschutz, Verfassungsschutzbericht 2020, veröffentlicht unter: www.verfassungsschutz.niedersachsen.de, S. 262: "als separatistisch empfundene ethnische Minderheiten in der Türkei" und S. 279: "insbesondere gegen Juden, Griechen, Kurden und Armenier gerichtet").

b. Die gesetzliche Regelvermutung in Halbsatz 2 Alt. 2 Buchst. b des § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG setzt voraus, dass der Ausländer "öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften in einer Weise, die geeignet ist, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu stören, Teile der Bevölkerung böswillig verächtlich macht und dadurch die Menschenwürde anderer angreift". Zur Konkretisierung des Tatbestands kann - auch wenn eine Strafbarkeit oder gar strafgerichtliche Verurteilung nicht vorausgesetzt wird - auf die zu den entsprechenden Straftatbeständen insbesondere in § 130 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 1 Buchst. c StGB entwickelten Kriterien zurückgegriffen werden (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 20.5.2021 - 2 M 25/21 -, juris Rn. 21; VG Freiburg, Urt. v. 2.7.2021 - 10 K 1661/19 -, juris Rn. 52). Danach betrifft das böswillige Verächtlichmachen Äußerungen, in denen die Betroffenen, und zwar Teile der Bevölkerung (siehe hierzu bereits oben I.3.a.), aus verwerflichen Beweggründen als der Achtung der Bürger unwert und unwürdig hingestellt werden (vgl. BGH, Urt. 7.1.1955 - 6 StR 185/54 -, BGHSt 7, 110, 111 f.; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder StGB, 30. Aufl. 2019, § 130 Rn. 5d m.w.N.).

Entgegen der Beschwerde sind auch die Voraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 Alt. 2 Buchst. b AufenthG nicht erfüllt. Es fehlt auch insoweit jedenfalls an dem erforderlichen Bezug des Handelns des Antragstellers zu "Teilen der Bevölkerung" (siehe hierzu im Einzelnen oben I.3.a.).

c. Selbst wenn man entgegen Vorstehendem das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG bejahte, wäre fraglich, ob nicht der Ausschlussgrund nach dem letzten Halbsatz dieser Bestimmung erfüllt wäre, weil der Antragsteller "erkennbar und glaubhaft von seinem Handeln Abstand" genommen hat. Der Antragsteller hat mit seiner eidesstattlichen Versicherung vom 31. März 2021 (Blatt 80 der Gerichtsakte) hinreichend glaubhaft gemacht (vgl. zum Glaubhaftmachungserfordernis im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO: Senatsbeschl. v. 4.9.2019 - 13 ME 282/19 -, juris Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 31.5.1999 - 10 S 2766/98 -, NVwZ 1999, 1243, 1244 - juris Rn. 12; Hessischer VGH, Beschl. v. 1.8.1991 - 4 TG 1244/91 -, NVwZ 1993, 491, 492 [VGH Hessen 01.08.1991 - 4 TH 1244/91] - juris Rn. 34; Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 80 Rn. 125 m.w.N.), dass er seine öffentlichen Äußerungen in den sozialen Medien gelöscht hat. Auch seine Einlassungen zu den Ursachen und Hintergründen seines zurückliegenden und beanstandeten Handelns können angesichts dessen beschriebenen Inhalts und Bedeutung (siehe oben I.2. und I.3.a.) nicht ohne Weiteres als unglaubhaft angesehen werden.

4. Die Antragsgegnerin rügt weiter, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht die strafrechtlichen Verurteilungen vom 26. August 1993 und vom 17. März 2005 als verbraucht angesehen. Ein solcher Verbrauch von Ausweisungsgründen durch eine gleichwohl erfolgte Aufenthaltserlaubniserteilung setze voraus, dass sich die für die behördliche Entscheidung maßgeblichen Umstände nicht änderten. Eine solche Änderung sei mit den weiteren Straftaten des Antragstellers jedoch eingetreten.

Auch dieser Einwand greift nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass die Ausweisung nicht mehr tragend auf die strafrechtlichen Verurteilungen vom 26. August 1993 und vom 17. März 2005 gestützt werden darf, diese Ausweisungsgründe vielmehr "verbraucht" sind (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 7 f.).

Ausweisungsgründe dürfen in Anwendung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes einem Ausländer zwar nur dann und so lange entgegengehalten werden, als sie noch aktuell und nicht verbraucht sind und die Ausländerbehörde auf ihre Geltendmachung nicht ausdrücklich oder konkludent verzichtet hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.3.2005 - BVerwG 1 C 26.03 -, BVerwGE 123, 114, 121 f. - juris Rn. 21; v. 3.8.2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, BVerwGE 121, 297, 313 - juris Rn. 41). Aus der Ableitung dieser Kriterien aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes folgt jedoch, dass die Ausländerbehörde einen ihr zurechenbaren Vertrauenstatbestand geschaffen haben muss, aufgrund dessen der Ausländer annehmen kann, ihm werde ein bestimmtes Verhalten im Rahmen einer Ausweisung nicht mehr entgegengehalten. Zudem muss ein hierauf gegründetes Vertrauen des Ausländers schützenswert sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 3.16 -, BVerwGE 157, 325, 339 f. - juris Rn. 39).

Der danach der Antragsgegnerin zurechenbare Vertrauenstatbestand kann hier in der Erteilung bzw. Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 AufenthG an den Antragsteller am 1. September 2006 (Blatt 846 der Beiakte 2) und am 10. Juli 2007 (Blatt 863 der Beiakte 2) gesehen werden. Denn die Antragsgegnerin hat ausweislich ihrer Verwaltungsvorgänge den Antragsteller im Zusammenhang mit dieser Titelerteilung nicht auf die möglichen aufenthaltsrechtlichen Folgen seiner bekannten Delinquenz, insbesondere eine in Betracht kommende Ausweisung, hingewiesen (vgl. vielmehr den Aktenvermerk der Antragsgegnerin anlässlich der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis am 10.7.2007 auf Blatt 863 der Beiakte 2: "Nach vorheriger Rücksprache mit ... musste die AE verlängert werden. Wolfsburg hat mit der AE vom 01.09.06 bereits entschieden und diese Straftaten sind nicht mehr relevant." und zur maßgeblichen Bedeutung solcher Umstände: Senatsbeschl. v. 12.6.2019 - 13 ME 92/19 -, V.n.b. Umdruck S. 5).

5. Die Antragsgegnerin macht mit ihrer Beschwerde schließlich geltend, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gehe die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Abwägung der Ausweisungs- und Bleibeinteressen zu Lasten des Antragstellers aus. Dieser habe mehrere besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 1 AufenthG verwirklicht, sei in die hiesigen Lebensverhältnisse nicht integriert, lebe von Sozialleistungen und sei weiterhin tief verbunden mit seinem Heimatland. Demgegenüber müsste das besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG zurücktreten, das sich aus der Ausübung der tatsächlichen Personensorge für seinen 12-jährigen pflegebedürftigen Sohn, den deutschen Staatsangehörigen E. A., ergebe. Dieser werde durch die Ausweisung seines Vaters zwar belastet. Dies führe angesichts der vom Antragsteller ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit aber nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Ausweisung.

Auch dieser Einwand greift nicht durch. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts steht nach der summarischen Prüfung im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nicht fest, dass die nach § 53 Abs. 1 Halbsatz 2 und Abs. 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung zu Lasten der Bleibeinteressen des Antragstellers ausfällt.

Vom Antragsteller geht zwar fraglos die Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen aus (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 7 f.) und es besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 8). Das Gewicht dieses Ausweisungsinteresses wird - abgesehen davon, dass eine normative Addition der in den Katalogen der §§ 54 und 55 AufenthG genannten Interessen ausgeschlossen ist (vgl. Senatsbeschl. v. 17.2.2022 - 13 ME 295/21 -, V.n.b. Umdruck S. 4 m.w.N.) - aber voraussichtlich durch weitere besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 Abs. 1 Nrn. 2, 4 und 5 AufenthG nicht erhöht (vgl. hierzu im Einzelnen oben I.1., 2. und 3.).

Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein ebenfalls besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse gegenüber. Das Verwaltungsgericht hat, ohne dass dies mit der Beschwerde angegriffen worden ist, festgestellt, dass der Tatbestand des § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG verwirklicht ist (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 10 f.). Der Antragsteller lebt mit seinem mittlerweile 13jährigen Sohn E. A. in einem Haushalt zusammen und übt seit 2017 faktisch allein die Personensorge aus, weil - was zwischen den Beteiligten unstreitig ist - ein Zusammenleben des Kindes mit der Mutter nicht in Frage kommt. Der Sohn des Antragstellers ist pflegebedürftig (Pflegegrad 2), und die erforderliche Pflege wird von dem Antragsteller geleistet.

Dass dieses besonders schwerwiegende Bleibeinteresse hinter dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse ohne Weiteres zurückzustehen hat, vermag der Senat derzeit nicht festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr zutreffend herausgestellt, dass die bisher vom Antragsteller verübten Straftaten keine solche Schwere aufweisen, dass sie derzeit eine Trennung des Antragstellers von seinem Sohn und damit zwangsläufig verbunden eine Übernahme von Betreuung und Pflege des Sohns durch familienfremde Dritte rechtfertigen könnten, zumal die Delinquenz lange Jahre von den Ausländerbehörden hingenommen worden ist und auch einer Titelerteilung nicht entgegengestanden hat (Beschl. v. 10.8.2021, Umdruck S. 10 f.). Unter Berücksichtigung der Schutzwirkungen des Art. 6 GG, des Kindeswohls und der persönlichen, schulischen und sozialen Entwicklung des Sohns E. A., der deutscher Staatsangehöriger ist, darf die Antragsgegnerin den Antragsteller auch nicht darauf verweisen, der Sohn könne seinen Aufenthalt (auch) in der Türkei nehmen, um weiterhin mit dem Vater zusammenleben zu können.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG und Nrn. 8.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).