Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.06.2022, Az.: 8 MC 74/22

Abschiebung; Abschiebungsandrohung : Asyl; Dänemark; Europäischen Gerichtshof; Folgeantrag; internationalen Schutz; Unionsrecht; Vorabentscheidungsverfahren; vorläufiger Rechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.06.2022
Aktenzeichen
8 MC 74/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59620
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wird der Antrag auf internationalen Schutz vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt, weil das (erfolglose) erste Asylverfahren in Dänemark durchgeführt worden ist, ist dem Antragsteller aufgrund des derzeit bei dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens in der Rechtssache C-497/21 vorläufiger Rechtsschutz gegen die ihm angedrohte Abschiebung zu gewähren.

Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage beschließen, wenn dies nach aktueller Sach- und Rechtslage unter Abwägung der beteiligten Interessen geboten ist (Prüfungsmaßstab), auch ohne dass die Voraussetzungen für einen Antrag auf Abänderung des früheren Beschlusses nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO erfüllt sein müssen.

Tenor:

Unter Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Osnabrück – Einzelrichterin der 2. Kammer – vom 20. August 2020 (2 B 22/20) wird die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Juli 2020 enthaltene Abschiebungsandrohung (Ziffer 4) angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Senat nimmt – als nach Eingang des Antrags auf Zulassung der Berufung zuständiges Gericht der Hauptsache (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 24.4.2013 – 4 MC 56/13 –, juris Rn. 2; Funke-Kaiser, in: Bader u.a., VwGO, 8. Aufl. 2021, § 80 Rn. 84) – das Schreiben des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 19. Mai 2022 zum Anlass, den im Tenor genannten Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid der Antragsgegnerin von Amts wegen anzuordnen (§ 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO).

Zwar hat weder das inzwischen ergangene – noch nicht rechtskräftige – Urteil des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache vom 4. November 2021 (2 A 103/20), noch der Vorlagebeschluss des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union vom 6. August 2021 (9 A 178/21, juris) oder die daraufhin ergangene Aussetzungsentscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. September 2021 im Verfahren 11 LA 275/20 bereits eine Änderung der maßgeblichen Rechtslage herbeigeführt. Ebenso wenig liegt eine Veränderung in den tatsächlichen Verhältnisse vor, so dass offen erscheint, ob eine Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO erfolgen könnte. Dies bedarf indes keiner Entscheidung.

Denn das Gericht der Hauptsache kann gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen auch ohne Änderung der Sach- und Rechtslage Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben, wenn es zu einer anderen Beurteilung der Rechtslage gekommen ist oder die frühere Interessenabwägung nachträglich als korrekturbedürftig erachtet (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.3.2022 – 1 B 375/22.A –, juris Rn. 2; v. 7.2.2014 - 15 B 143/14.A -, juris Rn. 4 u. v. 30.3.2020 – 10 B 312/20 –, juris Rn. 4; Bayerischer VGH, Beschl. v. 27.9.2019 – 13a AS 19.32891 –, juris Rn. 13; Sächsisches OVG, Beschl. v. 24.7.2014 - A 1 B 131/14 –, juris Rn. 3). Prüfungsmaßstab für die gerichtliche Entscheidung ist allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. z.B. BVerwG, Beschl. v. 26.3.2018 – 1 VR 1.18 –, juris Rn. 6 u. v. 10.3.2011 – 8 VR 2.11 –, juris, Rn. 8).

Die Abwägung zwischen dem Interesse der Antragsgegnerin an einer Vollziehung der nach § 75 AsylVfG sofort vollziehbaren Abschiebungsanordnung und dem Suspensivinteresse des Antragstellers führt vorliegend – in dem für die Entscheidung des Senats maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) – zu dem Ergebnis, dass unter Berücksichtigung der im Falle einer Abschiebung möglicherweise gefährdeten Rechtsgüter Letzteres überwiegt, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der unter Ziffer 4. des angegriffenen Bescheides verfügten Abschiebungsandrohung im Sinne von § 36 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 71a Abs. 4 AsylG bestehen.

Die Frage, ob es mit Unionsrecht vereinbar ist, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässigen Folgeantrag abzulehnen, wenn das (erfolglose) erste Asylverfahren in Dänemark durchgeführt worden ist, ist derzeit Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV in der Rechtssache C-497/21. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht hat dem Gerichtshof der Europäischen Union die Fragen vorgelegt,

- Ist eine nationale Regelung, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt werden kann, mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) der Richtlinie 2013/32/EU1 vereinbar, wenn das erfolglose erste Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat der EU durchgeführt wurde?

- Wenn die erste Frage bejaht wird: Ist eine nationale Regelung, nach der ein Antrag auf internationalen Schutz als unzulässiger Folgeantrag abgelehnt werden kann, mit Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) und Art. 2 Buchst. q) der Richtlinie 2013/32 auch dann vereinbar, wenn das erfolglose erste Asylverfahren in Dänemark durchgeführt wurde?

- Wenn die zweite Frage verneint wird: Ist eine nationale Regelung, nach der ein Asylantrag im Falle eines Folgeantrages unzulässig ist und die dabei nicht zwischen Flüchtlingseigenschaft und subsidiärem Schutzstatus unterscheidet, mit Art. 33 Abs. 2 [Buchst. d)] der Richtlinie 2013/32 vereinbar?

Die Unionsrechtskonformität von § 71a AsylG kann daher in diesen Punkten vorläufig nicht weiter unter dem Gesichtspunkt der „acte clair“- Doktrin bejaht werden (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 31.3.2022 – 1 B 375/22.A –, juris Rn. 6ff. m.w.N.; Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 28.9.2021 - 11 LA 275/20 -, V.n.b.; s. allerdings auch: OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 22.10.2018 – OVG 12 N 70.17 –, juris, Rn. 7; u. v. 13.10.2020 – 6 N 89/20 –, juris, Rn. 24 ff.; Sächsisches OVG, Beschl. v. 27.7.2020 – 5 A 638/19.A –, juris, Rn. 12; OVG Bremen, Urt. v.3.11.2020 – 1 LB 28/20 –, juris, Rn. 45 ff.), zumal bereits zuvor die Europäische Kommission in der Rechtssache L.R. gegen Bundesrepublik Deutschland (vgl. EuGH, Urt. v. 20.5.2021 – C-8.20 –, juris, Rn. 29, 30 und 40; s. auch BVerwG, Urt. v. 14.12.2016 – 1 C 4.16 –, juris, Rn. 26) insoweit europarechtliche Zweifel vorgebracht hatte.

Die Entscheidung über den Zulassungsantrag des Antragstellers bleibt dem Hauptsacheverfahren (8 LA 26/22) vorbehalten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylVfG gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 80 AsylG).