Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 02.06.2022, Az.: 14 ME 240/22

Beurteilungsspielraum; Eingliederungshilfe; schulische Integrationshilfe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
02.06.2022
Aktenzeichen
14 ME 240/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59572
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 31.03.2022 - AZ: 4 B 334/22

Fundstelle

  • NZS 2022, 955

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Wenn der Tatbestand des § 35a Abs. 1 SGB VIII erfüllt ist und deshalb dem Grunde nach ein Hilfeanspruch besteht, steht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Entscheidung über die im Einzelfall aufgezeigte Hilfeart bzw. über Art und Umfang der Hilfe und bei der Ausgestaltung der Hilfe ein Beurteilungsspielraum zu. Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich demzufolge darauf zu beschränken, ob allgemein gültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremdem Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind.

Tenor:

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 31. März 2022 wird zurückgewiesen.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 31. März 2022 ist zulässig, aber unbegründet.

Auch unter Berücksichtigung der von dem Antragsteller im Beschwerdeverfahren angeführten und vom Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO allein zu prüfenden Gründe ist nicht ersichtlich, dass das Verwaltungsgericht dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hätte stattgeben müssen. Das Verwaltungsgericht hat nach derzeitiger Einschätzung im Ergebnis vielmehr zu Recht angenommen, dass die begehrte vorläufige vollumfängliche Übernahme der Kosten für eine schulische Integrationshilfe für den Besuch der D. -Schule in A-Stadt für die Zeit ab dem 15. März 2022 nicht in Betracht kommt.

Die Begründetheit des Antrags nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt voraus, dass ein Antragsteller sowohl das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. seine materielle Anspruchsberechtigung, als auch eines Anordnungsgrundes, d.h. eine besondere Dringlichkeit, glaubhaft macht, § 123 Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht regelmäßig nur vorläufige Entscheidungen treffen und einem Antragsteller noch nicht in vollem Umfang das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erstreiten könnte. Im Hinblick auf die Garantie effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache jedoch nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar und in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären sowie ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht, die Antragstellerin dort also schon aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes anzustellenden, bloß summarischen Prüfung des Sachverhalts erkennbar Erfolg haben würde (vgl. etwa vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2009 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. vom 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, juris Rn. 18; BVerwG, Beschl. v. 26.11.2013 - 6 VR 3.13 -, juris RN. 5, 7; Beschl. v. 10.2.2011 - 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6).

Unter Berücksichtigung der hier wegen der in der begehrten Anordnung liegenden Vorwegnahme der Hauptsache geltenden hohen Anforderungen hat die Antragstellerin, die unstreitig zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis nach § 35a Abs. 1 SGB VIII gehört, auch im Beschwerdeverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruch auf die begehrte vollumfängliche schulische Integrationshilfe hat und diese Hilfe unaufschiebbar ist.

Wenn - wie hier - der Tatbestand des § 35a Abs. 1 SGB VIII erfüllt ist und deshalb dem Grunde nach ein Hilfeanspruch besteht, steht dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe bei der Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart (§ 36 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII) bzw. über Art und Umfang der Hilfe (§ 36 Abs. 1 Satz 1 sowie § 27 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) und bei der Ausgestaltung der Hilfe (§ 36 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII) ein Beurteilungsspielraum zu. Bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit der Hilfe handelt es sich um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Kindes bzw. des Jugendlichen und mehrerer Fachkräfte, welches nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, jedoch eine aus Sicht der Fachkräfte angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation enthält, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (BVerwG, Urt. v. 24.6.1999 - 5 C 24.98 -, juris Rn. 39; OVG Saarl., Beschl. v. 1.4.2022 - 2 B 46/22 -, juris Rn. 12 m.w.N.; OVG NRW, Beschl. v. 19.08.2019 - 12 B 668/19 -, juris Rn. 12 f. m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 6.2.2017 - 12 C 16.2159 -, juris Rn. 11 m.w.N.). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung hat sich demzufolge darauf zu beschränken, ob allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (BVerwG, Urt. v. 24.6.1999 - 5 C 24.98 -, juris Rn. 39; OVG Saarl., Beschl. v. 1.4.2022 - 2 B 46/22 -, juris Rn. 12 m.w.N.; OVG NRW, Beschl. v. 19.08.2019 - 12 B 668/19 -, juris Rn. 12 f. m.w.N.; BayVGH, Beschl. v. 6.2.2017 - 12 C 16.2159 -, juris Rn. 11 m.w.N.).

Eine solche Restriktion der gerichtlichen Kontrolle steht in Einklang mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG. In Fällen, in welchen das materielle Recht der fachlich versierten Verwaltung prognostische Entscheidungen oder eine Entscheidungsfindung in einem Prozess unter Hinzuziehung verschiedener Fachkräfte und sogar des betroffenen Bürgers abverlangt, ohne hinreichend bestimmte Vorgaben (sogenannte Entscheidungsprogramme) zu enthalten, handelt die Exekutive insoweit kraft eigener Kompetenz. Die Gerichte haben diese Kompetenz zu beachten (BVerfG, Beschl. v. 16.12.1992 - 1 BvR 167/87 -, juris Rn. 55; OVG Saarl., Beschl. v. 1.4.2022 - 2 B 46/22 -, juris Rn. 12 m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser rechtlichen Maßstäbe ist die Entscheidung des Antragsgegners, der Antragstellerin eine schulische Integrationshilfe im Umfang von lediglich zwölf Wochenstunden zu bewilligen, im Rahmen dieses Verfahrens auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu beanstanden. Dass der Antragsgegner bei der Bewilligung von lediglich zwölf Wochenstunden an schulischer Integrationshilfe allgemein gültige fachliche Maßstäbe missachtet, sachfremde Erwägungen angestellt oder die Antragstellerin in nicht ausreichender Weise beteiligt hat, legt die Antragstellerin weder nachvollziehbar dar noch ist dies sonst ersichtlich. Insbesondere hat der Antragsgegner in seiner Antragserwiderung hervorgehoben, dass die Schule in die Anspruchsprüfungen des Jugendamtes einbezogen gewesen sei, wie dies gesetzlich vorgesehen sei. In die Entscheidung seien von schulischer Seite ein Lernentwicklungsbericht vom 21. Juli 2021 sowie die ausführlichen Informationen durch die Lehrkräfte im Hilfeplangespräch am 16. Dezember 2021 eingeflossen. Eine für den Regelfall vorgesehene Hospitation habe wegen der Corona-Pandemie nicht durchgeführt werden können. Auch seien im Hilfeplangespräch Berichte und Aussagen der Schulischen Integrationshilfe aufgenommen worden. Unabhängig davon hat der Antragsgegner darauf verwiesen, dass sein Jugendamt die Antragstellerin seit inzwischen sechs Jahren betreue und kenne.

Aus den vorliegenden Stellungnahmen ergibt sich auch nicht, dass gegenwärtig allein die begehrte vollumfängliche schulische Integrationshilfe die einzige geeignete und erforderliche Maßnahme darstellt. Ebenso wenig erweist sich die vom Antragsgegner bewilligte Integrationsmaßnahme einer schulischen Integrationshilfe im Umfang von zwölf Wochenstunden danach als unvertretbar. Die im Zeitpunkt der Entscheidung über den aktuellen Bewilligungszeitraum vorliegenden Berichte, insbesondere auch der Verlaufsbericht der schulischen Integrationshilfe für den Zeitraum vom 15. März 2021 bis zum 19. November 2021 sind – bei fortbestehenden Beeinträchtigungen im Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen – von einer Stabilisierung der Antragstellerin im schulischen Bereich ausgegangen. Die schulische Integrationshilfe ergänzte ihre Ausführungen mit Schreiben vom 14. Dezember 2021 dahingehend, dass sich die Antragstellerin vor der Schule sehr viele Gedanken mache, z.B. wenn sie vor der Klasse vortragen müsse, Russisch mit der anderen Klasse habe, kochen müsse oder Vertretungsunterricht habe. Diese Punkte würden dann vor der Schule besprochen und nach einer Lösung gesucht. Nach der Schule erfolge eine Reflektion. Gerade die so beschriebenen Bedürfnisse der Antragstellerin nach einer Vor- und Nachbesprechung lassen sich durch die bewilligten zwölf Wochenstunden für die schulische Integrationshilfe erfüllen.

Die von der Antragstellerin im Beschwerdeverfahren vorgelegten aktuellen Berichte konnten vom Antragsgegner bei seiner Entscheidung noch nicht berücksichtigt werden. Er wird sie in die Prüfung für den Bewilligungszeitraum ab dem 15. Juni 2022 einzubeziehen haben. Anlass zu einem sofortigen Tätigwerden und damit zu dem Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung geben sie jedenfalls nicht. Es ergibt sich aus den Berichten nicht, dass der Antragstellerin in dem verbleibenden Zeitraum mit hoher Wahrscheinlichkeit eine nachhaltige Einschränkung ihrer sozialen Funktionstüchtigkeit dadurch droht, dass die bewilligte schulische Integrationshilfe im Umfang von zwölf Wochenstunden nicht umgehend durch Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes weiter aufgestockt wird.

Ob bzw. in welchem Umfang der Antragstellerin ab dem 15. Juni 2022 eine schulische Integrationshilfe zu bewilligen ist, hat das Jugendamt des Antragsgegners in seiner fachlichen Verantwortung rechtzeitig zu entscheiden. Der Antragsgegner ist der Vermutung des Klassenlehrerteams der von der Antragstellerin besuchten Schule, das Jugendamt habe bereits eine negative Entscheidung getroffen, entgegengetreten und hat substantiiert dargelegt, dass die erforderlichen Eingliederungshilfen derzeit konkret geprüft würden. Anhaltspunkte dafür, dass dieser Vortrag nicht zutreffend wäre, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, so dass auch insoweit gegenwärtig noch keine hinreichende Veranlassung dafür besteht, die Weitergewährung bzw. Ausweitung der Hilfe zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes zu machen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).