Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.06.2022, Az.: 1 LA 107/21
Abstandsbaulast; Anbaubaulast; Anbauverpflichtung; Anbauzone; Auslegung; Baulast; Bauwich; Brandschutz; Grenzabstand; Grenzbebauung
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.06.2022
- Aktenzeichen
- 1 LA 107/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 59582
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG - 02.06.2021 - AZ: 4 A 3755/20
Rechtsgrundlagen
- § 3 BauO ND
- § 5 Abs 5 S 2 BauO ND
- § 79 BauO ND
- § 81 BauO ND
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die aus einer Anbaubaulast (§ 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO) resultierende Anbauverpflichtung bzw. das Bauverbot innerhalb der - nach dem Maß des grundsätzlich erforderlichen Grenzabstands zu bestimmenden - Anbauzone kann von der Bauaufsichtsbehörde nicht zwangsweise durchgesetzt werden, wenn die Baulast nicht mehr erforderlich ist, um baurechtsgemäße Zustände auf dem Grundstück des Baulastnehmers herzustellen.
2. Eine Anbaubaulast zielt mit Blick auf die Anforderungen des § 3 Abs. 1 bis 3 NBauO maßgeblich darauf ab, dass die nach städtebaulichem Planungsrecht fakultativ zulässige Grenzbebauung im Fall einer Bebauung des Bauwichs auf beiden Seiten der Grenze gleichmäßig erfolgt. Sie dient hingegen nicht dem Brandschutz.
Tenor:
Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 4. Kammer - vom 2. Juni 2021 wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.
Der Wert des Streitgegenstandes für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
Die Klägerin begehrt ein bauaufsichtliches Einschreiten des Beklagten gegen die Errichtung eines Mehrfamilienhauses durch die Beigeladene.
Die Klägerin ist Eigentümerin des im Aktivrubrum bezeichneten Grundstücks, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Auf der Ostgrenze ihres Grundstücks steht eine Doppelgarage mit einer Länge von rund 8,50 m. Im Baulastenverzeichnis ist zu Lasten des östlich gelegenen Nachbargrundstücks der Beigeladenen und zugunsten ihres Grundstücks entsprechend der vorangegangenen notariell beurkundeten Bestellung vom 12. Juni 1979 folgende Baulast eingetragen:
„Der jeweilige Eigentümer gestattet dem jeweiligen Eigentümer des Nachbargrundstücks F. der Flur G. der Gemarkung H. die Bebauung mit einer Garage an der gemeinsamen Grenze zu diesem Grundstück in einer Länge von 8,50 m und verpflichtet sich, gem. § 8 Abs. 2 der Nieders. Bauordnung entsprechend an diese Grenze zu bauen, falls eine Bebauung vorgenommen wird.“
Zuvor hatte der Rechtsvorgänger der Beigeladenen unter dem 9. April 1979 privatschriftlich folgende Erklärung abgegeben:
„Ich verpflichte mich, bei einem Bauvorhaben meinerseits in diesem Bereich entweder direkt anzubauen oder einen Grenzabstand von mindestens 5,0 m einzuhalten. Diese Erklärung gebe ich für mich und meine Rechtsnachfolger.“
Die Beigeladene hat nach entsprechender Bauanzeige auf ihrem Grundstück ein Mehrfamilienhaus errichtet. Das Gebäude überschreitet die nördliche und südliche Baugrenze mit einem Anbau bzw. Balkon; hierfür hat der Beklagte unter dem 10. September 2019 und 22. Januar 2021 Befreiungen erteilt. Zur Grundstücksgrenze der Klägerin hält das Gebäude einen Grenzabstand von 4 m; zwei Terrassen und ein Balkon reichen bis 1 m bzw. 2 m an die Grundstücksgrenze heran. Garagen und offene Einstellplätze liegen im Osten des Grundstücks angrenzend an eine Straßenverkehrsfläche.
Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. I. „In der J.“ der Gemeinde H. aus dem Jahr K.. Der Plan setzt unter anderem ein allgemeines Wohngebiet bei offener Bauweise fest. Die überbaubare Grundstücksfläche wird durch Baugrenzen eingeschränkt. Auf den nicht überbaubaren Grundstücksflächen sind als Nebenanlagen ausschließlich Garagen zulässig.
Unter dem 20. Dezember 2019 beantragte die Klägerin ein bauaufsichtliches Einschreiten des Beklagten gegen die Beigeladene. Zur Begründung verwies sie auf eine Verletzung von Grenzabstandsvorschriften sowie einen Verstoß gegen die mit der Baulast übernommenen Verpflichtungen. Die erteilten Befreiungen von ihrerseits nachbarschützenden Baugrenzen seien rechtswidrig. Zudem seien die ebenfalls nachbarschützenden Grund- und Geschossflächenzahlen überschritten. Die eröffneten Einsichtsmöglichkeiten verstießen gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Den Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. September 2020 und Widerspruchsbescheid vom 17. Februar 2021 ab.
Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht Hannover mit dem angegriffenen Urteil vom 2. Juni 2021 abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Bei der Baulast handele es sich allein um eine Anbau- und nicht (auch) um eine Abstandsbaulast. Soweit die Klägerin einen Verstoß gegen die mit dieser Baulast übernommenen Verpflichtungen rüge, sei der Regelungszweck der Anbauverpflichtung dadurch entfallen, dass eine Garage bis zur Länge von 9 m nach heutigem Recht ohnehin an der Grenze errichtet werden dürfe. Ein Einschreiten könne die Baulast daher nicht rechtfertigen. Eine Doppelnatur auch als Abstandsbaulast komme ihr nicht zu, weil die Baulast auf behördliche Nachfrage und Hinweis auf § 8 Abs. 2 und § 9 Abs. 2 NBauO 1973 explizit „gem. § 8 Abs. 2 der Nieders. Bauordnung“ bestellt worden sei. Hinsichtlich der Baugrenzen lägen bestandskräftige Befreiungen vor. Den Festsetzungen einer Grund- und Geschossflächenzahl sowie zu den zulässigen Nebenanlagen komme keine nachbarschützende Wirkung zu. Rücksichtslos sei das Vorhaben nicht.
Dagegen wendet sich die Klägerin mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung, dem Beklagter und Beigeladene entgegentreten.
II.
Der auf die Zulassungsgründe des § 124 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 VwGO gestützte Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils i.S.d. § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO sind dann dargelegt, wenn es dem Rechtsmittelführer gelingt, wenigstens einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit plausiblen Gegenargumenten derart in Frage zu stellen, dass sich dadurch etwas am Entscheidungsergebnis ändern würde. Überwiegende Erfolgsaussichten sind nicht erforderlich, es genügt, wenn sich diese als offen erweisen. Das ist der Klägerin nicht gelungen.
a) Die Klägerin meint, das Verwaltungsgericht habe die Baulast zu Unrecht allein als Anbau-, nicht aber (zugleich) als Abstandsbaulast verstanden. Maßgeblich sei gemäß § 92 NBauO 1973 (heute § 81 NBauO) allein die Erklärung des Baulastverpflichteten, die explizit einen Abstand von 5 m nenne, und nicht die Eintragung in das Baulastenverzeichnis gewesen. Dabei übersieht die Klägerin jedoch, dass § 92 Abs. 2 NBauO 1973 die notarielle Beurkundung der Baulasterklärung verlangte. Solchermaßen beurkundet wurde die Erklärung von 9. April 1979 nicht; beurkundet wurde unter dem 12. Juni 1979 allein die in das Baulastenverzeichnis eingetragene Erklärung, die keinen Abstand nennt. Schon vor diesem Hintergrund verbietet es sich, der nach notarieller Beratung unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 8 Abs. 2 NBauO 1973 (heute § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO) bestellten Baulast mit Blick auf vorangegangene privatschriftliche Erklärungen einen abweichenden und rechtlich deutlich weitergehenden Inhalt beizumessen. Die Auslegung des Verwaltungsgerichts, es sei lediglich eine Anbaubaulast bestellt worden, ist demzufolge offensichtlich zutreffend; der Senat schließt sich den entsprechenden Ausführungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO zur Vermeidung von Wiederholungen an.
Ebenso zutreffend ist die verwaltungsgerichtliche Feststellung, dass der Beklagte - ungeachtet der weiteren, hier nicht zu entscheidenden Frage, ob insoweit überhaupt Nachbarrechte der aus der Baulast begünstigten Klägerin bestehen können - eine aus der Baulast resultierende Anbauverpflichtung bzw. ein Bauverbot innerhalb der - nach dem Maß des grundsätzlich erforderlichen Grenzabstands zu bestimmenden - Anbauzone (vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 26.1.1998 - 6 L 5342/95 -, NdsVBl 1998, 214 = juris Rn. 26) heute nicht mehr gemäß § 79 NBauO zwangsweise durchsetzen könnte. § 5 Abs. 8 Satz 4 Nr. 1 und Satz 5 NBauO stellt die Grenzgarage der Klägerin von der Einhaltung eines Grenzabstands frei, sodass es der Baulast nicht mehr bedarf und ein Löschungsanspruch nach § 81 Abs. 3 NBauO bestehen dürfte. Ist eine Baulast aber löschungsreif, kann ihre Einhaltung weder von der Bauaufsicht noch von Dritten eingefordert werden.
Soweit die Klägerin demgegenüber meint, die Umstände der Eintragung zeigten, dass es den damals Beteiligten nicht bloß um die Gewährleistung eines ausreichenden Grenzabstands, sondern auch um brandschutztechnische Gesichtspunkte gegangen sei; die Baulast diene auch dazu, den Brandschutz bei fehlender Brandwand der Grenzgarage der Klägerin sicherzustellen, überzeugt das nicht. § 8 Abs. 2 NBauO 1973 verfolgt ebenso wie heute § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO keine brandschutztechnischen Zielsetzungen (vgl. zum Grenzabstandsrecht allgemein Senatsbeschl. v. 17.11.2021 - 1 ME 34/21 -, BauR 2022, 223 = juris Rn. 11), sondern bezweckt, dass die nach städtebaulichem Planungsrecht fakultativ zulässige Grenzbebauung im Fall einer Bebauung des Bauwichs auf beiden Seiten der Grenze gleichmäßig erfolgt. Im Fokus der Vorschrift stehen daher öffentliche Interessen, namentlich diejenigen des § 3 Abs. 1 bis 3 NBauO. Der Senat vermag auch keinen Anhaltspunkt dafür zu erkennen, dass der damalige Eigentümer des Grundstücks der Beigeladenen mit der notariell beurkundeten Bestellung der Baulast die brandschutzrechtlichen Pflichten bezüglich der Grenzgarage ganz oder teilweise übernehmen wollte. Es war und ist vielmehr Aufgabe der Klägerin, ihre Garage entsprechend den brandschutzrechtlichen Bestimmungen zu gestalten, wenn hier - wie die Klägerin selbst vorträgt - Nachholbedarf bestehen sollte.
b) Soweit die Klägerin meint, die Errichtung offener Stellplätze außerhalb der überbaubaren Grundstücksflächen verstoße gegen die nachbarschützende Festsetzung des Bebauungsplans, dass dort als Nebenanlagen ausschließlich Garagen errichtet werden dürfen, überzeugt auch das nicht. Dabei ist bereits fraglich, ob die Vorschrift des Plans darauf abzielt, Vorgaben zur Anlage von Stellplätzen zu machen. Stellplätze waren auch nach der BauNVO 1968 keine Nebenanlagen im Sinne von § 14 BauNVO, sondern unterfielen der gesonderten Regelung des § 12 BauNVO. Ob § 23 BauNVO auf einfache Stellplätze, die keine Gebäude oder Gebäudeteile darstellen, Anwendung fand, war damals umstritten. Jedenfalls aber ist nicht ersichtlich, dass mit dieser Festsetzung ein nachbarlicher Interessenausgleich bezweckt gewesen sein könnte. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass Garagen gegenüber offenen Stellplätzen ein geringeres Störpotenzial aufweisen, zeigt die Planzeichnung, dass allein städtebauliche Gesichtspunkte maßgeblich waren. Denn die nicht überbaubaren Grundstücksflächen liegen zu einem erheblichen Teil an den straßenseitigen Rändern der Baugrundstücke; das spricht dafür, dass deren Festsetzung städtebaulich und nicht durch das Ziel der Schaffung von Ruhebereichen motiviert war. Demgegenüber grenzen die Bauflächen aneinander und ermöglichen eine - gemessen an der Größe der nicht überbaubaren Flächen - recht dichte Bebauung, die auch Stellplätze und Garagen einschließt. Die Erlaubnis, Garagen auch außerhalb der hausnahen überbaubaren Flächen anzuordnen, stellt sich vor diesem Hintergrund allein als städtebaulich motiviertes Zugeständnis, nämlich als Verzicht auf eine umfassende Eingrünung der Gebäude zu den Verkehrsflächen hin, nicht aber als Begünstigung der Nachbarn dar. Angesichts dessen kann der Senat dahinstehen lassen, ob sich die Klägerin, die - soweit das bei google verfügbare Luftbild den gegenwärtigen Grundstückszustand zutreffend wiedergibt - selbst auf der nicht überbaubaren Grundstücksfläche eine Nebenanlage in Gestalt eines Gartenhauses errichtet hat, überhaupt auf die Überschreitung der Baugrenzen berufen kann.
c) Soweit der Südbalkon die Baugrenze überschreitet, hat der Beklagte mit Bescheid vom 22. Januar 2021 Befreiung erteilt. Ob diese Befreiung bereits zum Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung bestandskräftig oder mangels ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung noch anfechtbar war, lässt der Senat offen. Jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt deutlich mehr als ein Jahr nach Ergehen der Befreiung ist Bestandskraft eingetreten; dass die Klägerin ein Rechtsmittel eingelegt hat, ist weder dargelegt noch ersichtlich. Eine inhaltliche Prüfung ist dem Senat demzufolge verwehrt.
2. Vor dem Hintergrund des Vorgenannten greift auch der Zulassungsgrund besonderer rechtlicher oder tatsächlicher Schwierigkeiten nicht durch. Die von der Klägerin als schwierig bezeichnete Frage der Auslegung der Baulast lässt sich vielmehr unmittelbar aus dem Gesetz und unter Heranziehung vorhandener Rechtsprechung ohne weiteres im Sinne des verwaltungsgerichtlichen Urteils beantworten.
Mit der Ablehnung des Zulassungsantrags wird das angefochtene Urteil rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig, weil sie einen Antrag gestellt und sich damit einem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5, § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).