Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 07.11.2017, Az.: 3 Ta 166/17
Zulässigkeit des Beschlussverfahrens für Leistungsansprüche der Betriebsratsmitglieder bei verweigerter Freistellung für einzelne Betriebsratstätigkeiten; Kammerbeschluss zur richtigen Verfahrensart
Bibliographie
- Gericht
- LAG Niedersachsen
- Datum
- 07.11.2017
- Aktenzeichen
- 3 Ta 166/17
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2017, 44643
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- ArbG Hannover - 08.05.2017 - AZ: 10 BV 3/17
Rechtsgrundlagen
- § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG
- § 2a Abs. 2 ArbGG
- § 48 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG
- § 80 Abs. 1 ArbGG
- § 17 Abs. 2 S. 1 GVG
- § 78 S. 1-2 BetrVG
Amtlicher Leitsatz
Beruft sich ein Betriebsratsmitglied für einen Leistungsanspruch in zulässiger Weise auf eine kollektivrechtliche Anspruchsgrundlage, ist das Beschlussverfahren die richtige Verfahrensart, auch wenn eine individualrechtliche Anspruchsgrundlage möglich wäre.
Redaktioneller Leitsatz
1. Gemäß § 48 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG gelten die §§ 17 - 17b GVG für die Zulässigkeit der Verfahrensart unter anderem mit der Maßgabe entsprechend, dass der Beschluss gemäß § 17a Abs. 4 des GVG auch außerhalb der mündlichen Verhandlung stets durch die Kammer ergeht, sofern er nicht lediglich die örtliche Zuständigkeit zum Gegenstand hat (§ 48 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG); der Beschluss über die richtige Verfahrensart hat demnach durch die Kammer zu ergehen.
2. Handelt es sich bei den von Betriebsratsmitgliedern erhobenen Ansprüchen um "Angelegenheiten aus dem Betriebsverfassungsgesetz" im Sinne des § 2a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG, ist über diese Ansprüche gemäß § 2a Abs. 2, § 80 Abs. 1 ArbGG im Beschlussverfahren zu verhandeln.
3. Gemäß § 78 Satz 1 BetrVG dürfen die Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert und gemäß § 78 Satz 2 BetrVG wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden; die Verhinderung der erforderlicher Betriebsratsarbeit durch die Arbeitgeberin kann auch eine Behinderung im Sinne von § 78 Satz 1 BetrVG darstellen.
4. Stellt nach Auffassung der antragstellenden Betriebsratsmitglieder die Ablehnung der Arbeitgeberin, sie für die Teilnahme an einer auswärtigen Abteilungsversammlung freizustellen und ihnen ein Dienstfahrzeug zur Verfügung zu stellen, eine Behinderung ihrer Betriebsratsarbeit dar und machen sie geltend, dass der Anspruch auf bezahlte Freistellung zur Durchführung von Betriebsratstätigkeiten dem Schutz des einzelnen Betriebsratsmitglieds vor Behinderung dient, geht es der Sache nach (auch) um einen betriebsverfassungsrechtlichen Leistungsanspruch.
5. Dass die Leistungsansprüche möglicherweise auch individualrechtlich durchgesetzt werden können, steht der Durchführung des Beschlussverfahrens nicht entgegen; gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten, was gemäß § 48 Abs. 1 ArbGG auch für die Frage der Zulässigkeit der Verfahrensart gilt.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 08.05.2017 (10 BV 3/17) abgeändert.
Die gewählte Verfahrensart des Beschlussverfahrens ist zulässig.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten um die richtige Verfahrensart.
Die Beteiligten zu 1 und 2 stehen in einem Arbeitsverhältnis zur Beteiligten zu 3 (im Folgenden: Arbeitgeberin). Sie sind Mitglied des Betriebsrats, des Beteiligten zu 4. Die Antragsteller verlangen im Hauptsacheverfahren im Wege des Beschlussverfahrens die Verurteilung der Arbeitgeberin zu einer Stundengutschrift zu Gunsten des Beteiligten zu 1 und zu einer Zahlung zu Gunsten des Beteiligten zu 2.
Die Beteiligten zu 1 und 2 beabsichtigten für den 19.08.2016 den Besuch einer Abteilungsversammlung in S. in ihrer Funktion als Betriebsratsmitglieder mit einer geplanten Abwesenheit von 9 Stunden. Der Beteiligte zu 1 hätte am 19.08.2016 frei gehabt, der Beteiligte zu 2 hätte von 6:00 Uhr bis 14:00 Uhr arbeiten müssen. Die Arbeitgeberin lehnte es am 19.08.2016 ab, ihnen eine Freistellung zu gewähren und ein Dienstfahrzeug für die Fahrt nach S. zur Verfügung zu stellen. Aus diesem Grund leisteten sie am Tag der Abteilungsversammlung stattdessen sonstige Betriebsratsarbeit, der Beteiligte zu 1 in Höhe von 6 Stunden, 1 Minute, der Beteiligte zu 2 von 4,5 Stunden. Die Zeit dieser Betriebsratsarbeit wurde von der Arbeitgeberin nicht vergütet. Stattdessen nahm sie bei den Beteiligten zu 1 Stundenabzüge und bei dem Beteiligten zu 2 einen Lohnabzug vor.
Die Beteiligten zu 1 und 2 sind der Auffassung, die Arbeitgeberin habe sie unzulässig in ihrer Betriebsratstätigkeit dadurch behindert, dass sie ihnen ein Dienstfahrzeug zum Besuch der Abteilungsversammlung nicht zur Verfügung gestellt hätte. Sie hätten deshalb gemäß § 78 BetrVG Anspruch auf die Vergütung bzw. Gutschrift der geleisteten Stunden sowie auf Schadensersatz im Hinblick auf insgesamt bis zu 8,5 Stunden, die sie aufgrund der verhinderten Teilnahme an der Abteilungsversammlung - über die von ihnen am 19.08.2016 tatsächlich geleistete Betriebsratsarbeit hinaus - nicht leisten konnten.
Sie sind außerdem der Auffassung, dass das vorliegende Verfahren in der Verfahrensart des Beschlussverfahrens durchzuführen sei. Es gehe um betriebsverfassungsrechtliche Ansprüche.
Die Beteiligten zu 1 und 2 haben folgende Anträge angekündigt:
Die Beteiligte zu 3 wird verurteilt, dem Beteiligten zu 1 den wegen Behinderung seiner Betriebsratsarbeit entstandenen Schaden im Umfang von 8,5 Minusstunden durch Gutschrift von 8,5 Stunden auf seinem Stundenkonto zu ersetzen.
Die Beklagte zu 3 wird verurteilt, dem Beteiligten zu 2 den wegen Behinderung seiner Betriebsratsarbeit entstandenen Schaden in Höhe von 211,05 € brutto zu ersetzen.
Die Beteiligte zu 3 hat die gewählte Verfahrensart gerügt. Sie ist der Auffassung, der Rechtsstreit sei im Wege des Urteilsverfahrens durchzuführen.
Das Arbeitsgericht Hannover hat mit Beschluss vom 08.05.2017 durch den Vorsitzenden allein die gewählte Verfahrensart des Beschlussverfahrens für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit in die Verfahrensart des Urteilsverfahrens verwiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, es handele sich bei dem Streitgegenstand um eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 3a ArbGG, für den die betriebsverfassungsrechtlichen Fragen lediglich Vorfragen seien. Auch der Verweis der Antragsteller auf § 78 BetrVG ändere daran nichts. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf Bl. 2 ff des Beschlusses Bezug genommen.
Gegen diesen Beschluss, der den Antragstellern am 12.05.2017 zugestellt worden ist, haben sie am 24.05.2017 sofortige Beschwerde eingelegt. Das Arbeitsgericht hat mit Beschluss vom 13.06.2017, erneut durch den Vorsitzenden allein, der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
1.
Die sofortige Beschwerde der Antragsteller ist form- und fristgerecht eingelegt worden und damit insgesamt zulässig.
2.
Sie ist auch begründet.
a)
Einer Zurückverweisung an das Arbeitsgericht bedurfte es nicht, auch wenn ein Verfahrensmangel vorliegt.
Über die richtige Verfahrensart hätte das Arbeitsgericht durch die Kammer entscheiden müssen. Nach § 48 Abs. 1 Nr. 2 ArbGG gelten die §§ 17 - 17 b des GVG für die Zulässigkeit der Verfahrensart u.a. mit der Maßgabe entsprechend, dass der Beschluss nach § 17 a Abs. 4 des GVG auch außerhalb der mündlichen Verhandlung stets durch die Kammer ergeht, sofern er nicht lediglich die örtliche Zuständigkeit zum Gegenstand hat (Ziffer 2). Danach hätte der Beschluss über die richtige Verfahrensart durch die Kammer ergehen müssen (vgl. auch Germelmann/Matthes/Prütting - Matthes/Schlewing, 8. Aufl. 2013 § 2 a ArbGG Rn. 97).
Dieser Verfahrensfehler führt jedoch nicht zur Zurückverweisung.
Nach § 572 Abs. 3 ZPO, der gemäß § 78 ArbGG anwendbar ist, kann das Beschwerdegericht, sofern es die Beschwerde für begründet erachtet, dem Ausgangsgericht die erforderlichen (neuen) Anordnungen übertragen. Darüber hinaus ist eine Zurückverweisung durch das Gesetz ausdrücklich nicht vorgesehen.
Neue Anordnungen sind nicht erforderlich und eine Zurückverweisung aus anderen Gründen war nicht geboten. Der Beschleunigungsgrundsatz (§ 9 Abs. 1, 56 Abs. 1, 64 Abs. 8, 80 Abs. 2 ArbGG) spricht vorliegend dafür, dass eine Zurückverweisung nicht geboten ist (vgl. für die Rechtswegzuständigkeit BAG 17.02.2003 - 5 AZB 37/02).
b)
Das Beschlussverfahren ist vorliegend die zulässige Verfahrensart. Bei den hier erhobenen Ansprüchen der Betriebsratsmitglieder handelt es sich um "Angelegenheiten aus dem Betriebsverfassungsgesetz" iSv § 2a Abs. 1 Nr 1 ArbGG, bei denen nach § 2a Abs. 2, § 80 Abs. 1 ArbGG das Beschlussverfahren Anwendung findet.
Die Antragsteller berufen sich auf ihre Rechte als Träger der betriebsverfassungsrechtlichen Ordnung. Es geht ihnen um Feststellungen der Rechtsbeziehungen zwischen den Betriebsparteien und um betriebsverfassungsrechtliche (Leistungs-) Ansprüche. Die Antragsteller machen geltend, der Anspruch auf bezahlte Freistellung zur Durchführung von Betriebsratstätigkeiten diene vorliegend dem Schutz des einzelnen Betriebsratsmitglieds vor Behinderung.
Nach § 78 Satz 1 BetrVG dürfen die Mitglieder des Betriebsrats in der Ausübung ihrer Tätigkeit nicht gestört oder behindert werden. Nach Satz 2 dieser Vorschrift dürfen sie wegen ihrer Tätigkeit nicht benachteiligt oder begünstigt werden.
Vorliegend geht der Streit letztlich darum, ob die Teilnahme an der Abteilungsversammlung bzw die tatsächlich durchgeführten Betriebsratstätigkeiten erforderlich waren. Nach Auffassung der Beteiligten zu 1 und 2 stellte die Ablehnung der Arbeitgeberin, sie freizustellen und ihnen ein Dienstfahrzeug zur Verfügung zu stellen, eine Behinderung ihrer Betriebsratsarbeit dar. Damit machen sie einen betriebsverfassungsrechtlichen Leistungsanspruch geltend (BAG 04.12.2013 - 7 ABR 7/12 - Rz. 12,47f; 09.09.2015 - 7 ABR 69/13 - Rz 13).
Die Verhinderung von erforderlicher Betriebsratsarbeit durch den Arbeitgeber kann auch eine Behinderung im Sinne von § 78 Satz 1 BetrVG darstellen (vgl. Fitting et al., 27. Aufl. 2014 § 78 Rz 9; GK-BetrVG - Kreutz, 10. Aufl. 2014 § 78 Rz 32; BAG 25.06.2014 - 7 AZR 847/12 - Rn 29f). Ob vorliegend tatsächlich von einer solchen Behinderung auszugehen ist, ist eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit der Verfahrensart. Jedenfalls ist ein Anspruch aus § 78 BetrVG nicht von vornherein ausgeschlossen.
Dass die Leistungsansprüche möglicherweise auch individualrechtlich durchgesetzt werden können, steht der Durchführung des Beschlussverfahrens nicht entgegen. Denn nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG entscheidet das Gericht des zulässigen Rechtswegs den Rechtsstreit unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Dies gilt nach § 48 Abs. 1 ArbGG auch für die Frage der Zulässigkeit der Verfahrensart (BAG 04.12.2013 - 7 ABR 7/12 - Rz. 47f; a.A. Salomon, NZA 2015, 85). Bei der angeführten kollektivrechtlichen und der individualrechtlichen Rechtsposition der Antragsteller handelt es sich auch nicht um 2 Streit- oder Verfahrensgegenstände, für die eine Trennung in Betracht käme (vgl BAG 04.12.2013 - 7 ABR 7/12 - Rz. 47f;).
3.
Gemäß §§ 78 ArbGG, 17a Abs. 4 S. 5 GVG war die Rechtsbeschwerde zuzulassen.