Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.05.2020, Az.: 8 Sa 817/19

Auslegung von Tarifverträgen; Tatsächliche Leistung von Überstunden zur Berücksichtigung bei der tariflichen Monatsarbeitszeit; Tarifliche Berechnungsvorgaben bei tatsächlich geleisteten Überstunden

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
11.05.2020
Aktenzeichen
8 Sa 817/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 51174
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2020:0511.8Sa817.19.00

Verfahrensgang

nachfolgend
BAG - 15.07.2021 - AZ: 6 AZR 301/20

Fundstelle

  • öAT 2021, 37

Amtlicher Leitsatz

1) Zur Begründung des Geltungsbereichs zur Anwendung des § 3 Kraftfahrer Bund ist es erforderlich, dass die Überstunden im erforderlichen Umfang tatsächlich geleistet worden sein müssen; sie können nicht pauschal nach § 3 Abs. 3 bis 5 KraftfahrerTV in das Stundenkonto einbezogen werden.

2) In die Berechnung tatsächlich geleisteter Überstunden fließen Urlaubs-, Krankheits- und Feiertage in Höhe der tariflich regelmäßigen Stundenzahl ein. Sie dürfen nicht mit Null Stunden angesetzt werden.

Redaktioneller Leitsatz

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt den Grundsätzen der für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Zunächst ist vom Wortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm zu berücksichtigen. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert.

Tenor:

  1. 1.

    Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 11. September 2019 - 3 Ca 191/19 E - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.

  2. 2.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten im Rahmen einer Tarifauslegung um Ansprüche auf Zahlung eines Pauschalentgeltes nach dem Tarifvertrag für die Kraftfahrer und Kraftfahrerinnen des Bundes (im Folgenden: KraftfahrerTV Bund).

Der Kläger ist bei der Beklagten seit dem 1. April 1987 tätig. Er wird als Kraftfahrer bei der B. am Standort D. beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD Bund) Anwendung. Danach beträgt die regelmäßige durchschnittliche Arbeitszeit des Klägers 39 Stunden wöchentlich. Darüber hinaus bestimmt sich das Arbeitsverhältnis nach dem KraftfahrerTV Bund, auf dessen Grundlage der Kläger bis zum 31. Dezember 2018 ein Pauschalentgelt der Pauschalgruppe II erhielt. Mit Schreiben vom 20. Februar 2019 teilte die Beklagte dem Kläger mit, er erfülle im ersten Halbjahr 2019 die Voraussetzungen für die Gewährung einer Pauschalvergütung nicht mehr.

Mit der am 31. Mai 2019 beim Arbeitsgericht erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung begehrt, dass ihm auch für das erste Halbjahr 2019 eine Pauschalvergütung nach dem KraftfahrerTV Bund zu gewähren sei. Er hat vorgetragen, er habe auch im zweiten Kalenderjahr 2018 an mehr als sechs Wochen Überstunden geleistet. In den insgesamt 26 Kalenderwochen des zweiten Halbjahres 2018 habe er entsprechend der erstinstanzlich als Anlage K2 vorgelegten Tabelle, auf die Bezug genommen wird (Bl. 28 bis 33 d. A.), gearbeitet. Zeiten der Erkrankung, des Erholungsurlaubs oder eines Feiertages seien mit den in § 3 Abs. 3 KraftfahrerTV Bund genannten Pauschalstunden in die Wochenarbeitszeit einzustellen. Zumindest müsse für diese Tage die tarifübliche Arbeitszeit nach dem TVöD Bund berücksichtigt werden. Die Arbeitstage bei der Berechnung der Überstunden vollständig außer Acht zu lassen, widerspreche dem Inhalt des Tarifvertrags.

Der Kläger hat beantragt,

festzustellen, dass die Beklagte für die Monate bis zum 30. Juni 2019 verpflichtet ist, dem Kläger ein Pauschalentgelt nach §§ 4 und 5 des Tarifvertrages für die Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen des Bundes vom 13. September 2005 der Pauschalgruppe II zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat die Auffassung vertreten, für die Anwendbarkeit des KraftfahrerTV Bund komme es auf die im Referenzzeitraum geleistete tatsächliche Arbeitszeit an. Sei an einzelnen Arbeitstagen infolge von Krankheit, Urlaub oder eines Feiertages nicht tatsächlich Arbeit geleistet worden, sei dieser Tag nicht zu berücksichtigen, also mit null Stunden anzusetzen. Die Pauschalvergütung sei eine Art Erschwerniszulage, die nur gewährt werde, wenn die Erschwernis tatsächlich bestanden habe.

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, dass die Beklagte für die Monate bis zum 30. Juni 2019 verpflichtet sei, dem Kläger ein Pauschalentgelt nach §§ 4 und 5 des KraftfahrerTV Bund der Pauschalgruppe II zu zahlen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Kläger falle unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages, denn er habe im maßgeblichen Referenzzeitraum an mehr als sechs Wochen Überstunden geleistet. Für die Anwendbarkeit des KraftfahrerTV Bund seien nicht nur tatsächlich geleistete Stunden, sondern die in § 3 Abs. 3 KraftfahrerTV Bund pauschal niedergelegten Stunden einzustellen. Das ergebe die Auslegung des Tarifvertrages. Hätten die Tarifvertragsparteien eine tatsächliche Arbeitsleistung gefordert, wäre es ein Leichtes gewesen, dies durch eine entsprechende Formulierung zum Ausdruck zu bringen. Sie finde sich jedoch im Tarifwerk nicht. Für das Ergebnis spreche ebenfalls der Wortlaut des § 8 Abs. 2 Satz 2 KraftfahrerTV Bund. Die Verwendung des Wortes "auch" sei dahin zu interpretieren, dass neben tatsächlich geleisteten auch andere Stunden, wie die in § 3 Abs. 3 KraftfahrerTV Bund genannten, zählten. Der Sinn und Zweck des Tarifvertrages stehe dem Auslegungsergebnis nicht entgegen, denn es handele sich nicht um eine Erschwernisregelung. Vielmehr schaffe der Tarifvertrag eine Möglichkeit, das durch flexible Arbeitsleistung geprägte Arbeitsverhältnis handhabbar zu machen. Der Kläger habe im Übrigen in erheblichem Maße an Feiertagen über den pauschalierten Wert hinaus tatsächlich gearbeitet, ohne dass diese Stunden bei der Berechnung der Überstunden eingeflossen wären. Jedenfalls aber sei in allen Verhinderungsfällen die auf den Wochentag anfallende regelmäßige Arbeitszeit anteilig zu berücksichtigen.

Gegen dieses ihr am 7. Oktober 2019 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 6. November 2019 Berufung eingelegt. Die Berufungsbegründung ist innerhalb der verlängerten Frist am 3. Januar 2020 beim Landesarbeitsgericht eingegangen.

Sie führt aus: Die Klage sei bereits unzulässig. Der auf Feststellung gerichtete Antrag des Klägers sei unbestimmt. Nicht erkennbar sei, ab welchem Zeitpunkt die Beklagte zur Zahlung des Pauschalentgelts verpflichtet sein solle. Zumindest sei die Klage unbegründet. Der Kläger habe keinen Anspruch auf ein Pauschalentgelt nach §§ 4 und 5 KraftfahrerTV Bund ab 1. Januar 2019. Im ersten Halbjahr 2019 finde der Tarifvertrag auf das Beschäftigungsverhältnis der Parteien keine Anwendung. Vom Geltungsbereich ausgenommen seien unter anderem die Kraftfahrer, die nicht oder nur gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit des § 6 Abs. 1 TVöD Bund hinaus beschäftigt würden. Der Tarifvertrag unterscheide zwischen den Kraftfahrern, deren Beschäftigungsverhältnis am 30. September 2005 bestanden habe, und denjenigen, die erst nach diesem Stichtag angestellt worden seien. Für den Kläger gelte § 8 Abs. 2 Satz 1 KraftfahrerTV Bund, nach dem ein Kraftfahrer dann nicht nur - im Sinne des § 1 - gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beschäftigt werde, wenn er im vorangegangenen Kalenderhalbjahr in mehr als sechs Wochen Überstunden geleistet habe. Das sei nicht der Fall. Pauschal angesetzte Stunden für Krankheitsfehlzeiten, Urlaub oder Feiertage seien nicht zu berücksichtigen. Für die Frage, ob der Anwendungsbereich des KraftfahrerTV Bund eröffnet sei, komme es nur auf die tatsächlich geleisteten Überstunden an. Ein anderes Verständnis werde dem Tarifwortlaut und der Systematik nicht gerecht. Sein § 8 verwende den Begriff der "geleisteten Überstunden". Hiervon zu unterscheiden seien die pauschalen Stunden, die anders als die geleisteten dann angesetzt würden, wenn tatsächlich keine Arbeitsleistung erbracht worden sei. Auch die Protokollerklärung zu § 1 KraftfahrerTV Bund spreche von geleisteten Überstunden. Der Begriff werde im Kontext der Eröffnung des Geltungsbereiches verwendet. Bei Fahrern, die dem Anwendungsbereich des Tarifvertrages noch nicht unterfielen, könnten pauschale Stunden nach § 3 KraftfahrerTV Bund nicht berücksichtigt werden. Würden diese von dem Begriff der geleisteten Überstunden in § 8 KraftfahrerTV Bund erfasst, hätte derselbe Begriff innerhalb eines Tarifvertrages zwei unterschiedliche Bedeutungen. Für einen solchen Willen der Tarifvertragsparteien fänden sich im Tarifvertrag keine Anhaltspunkte. Die Ausnahme nach § 8 Abs. 2 Satz 2 KraftfahrerTV Bund sei denjenigen Kraftfahrern vorbehalten, die mindestens drei Monate in einem Kalenderjahr krank gewesen seien, sodass die dortige Verwendung des Wortes "auch" den Verweis auf § 3 Abs. 3 KraftfahrerTV Bund nicht begründe. Der Begriff der Überstunden müsse zudem im Lichte des TVöD Bund betrachtet werden, der in § 7 Abs. 7 TVöD Bund Überstunden als "geleistete Arbeitsstunden" definiere und insofern davon ausgehe, dass die Stunden durch tatsächliche Arbeitskraft erbracht werden müssten. Die Ausdehnung auf die pauschalen Stundenangaben widerspräche im Übrigen der Systematik des Tarifvertrages. § 3 sei nicht bei der Prüfung des Anwendungsbereichs heranzuziehen, sondern nur bei der Berechnung der Monatsarbeitszeit. Die Norm regele nur, welche Stunden pauschal anzusetzen seien, wenn Kraftfahrer dem Geltungsbereich des Tarifvertrages unterfielen. Ein Verstoß gegen das Lohnausfallprinzip sei nicht erkennbar. Denn für die Tage, an denen keine Arbeitsleistung erbracht werde, werde entsprechend der geltenden gesetzlichen Regelung Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bzw. Urlaubsentgelt gezahlt. Von der Frage des Entgeltausfalls zu trennen sei die Frage, ob der Tarifvertrag Anwendung finde. Auch habe der Kläger im Juli 2018 weniger als 15 Überstunden geleistet, denn er habe Pausenzeiten nicht in Abzug gebracht.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Oldenburg vom 11. September 2019 - 3 Ca 191/19 E - abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil nach Maßgabe seiner Berufungserwiderung vom 5. Februar 2020, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 110 bis 121 d. A.). Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Die Parteien haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt.

Entscheidungsgründe

I.

Die gemäß §§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1, 2 ArbGG statthafte Berufung der Beklagten ist von ihr frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 519, 520 Abs. 1, 3 ZPO, § 66 Abs. 1, 2 ArbGG). Sie ist damit insgesamt zulässig.

II.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger auch für das erste Kalenderhalbjahr 2019 ein Pauschalentgelt der Pauschalgruppe II nach §§ 4 und 5 des KraftfahrerTV Bund zu zahlen. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrages. Danach unterfällt der Kläger sowohl nach § 8 Abs. 2 als auch nach § 1 dem Geltungsbereich des KraftfahrerTV Bund.

1.

Die Klage ist zulässig. Der Antrag ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (näher zu den Vorgaben etwa: BAG vom 23. Juni 2016 - 8 AZR 643/14 - juris Rn. 17; vom 9. Juli 2013 - 1 ABR 17/12 - juris Rn. 14; vom 14. Dezember 2011 - 5 AZR 675/10 - juris Rn. 11). Die Beklagte kann bei einem dem Feststellungsantrag zu 1. stattgebenden Urteil ohne Weiteres erkennen, ab welchem Zeitpunkt und für wie lange dem Kläger Entgelt nach der Pauschalgruppe II des KraftfahrerTV Bund zu zahlen ist. Dass der Kläger den Beginn nicht ausdrücklich benennt, ist unschädlich, denn bis zum 31. Dezember 2018 erhielt er entsprechende Vergütung. Der Feststellungsantrag zu 1. ist auch nach § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Auf die zutreffenden Ausführungen des Arbeitsgerichts hierzu wird zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich Bezug genommen § 69 Abs. 2 ArbGG).

2.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger unterfällt dem Geltungsbereich des KraftfahrerTV Bund. Das ergibt die Auslegung seiner §§ 1 und 8.

a)

Der Tarifvertrag hat - soweit für die Auslegung von Belang - folgenden Wortlaut:

"§ 1 Geltungsbereich

Dieser Tarifvertrag gilt für die unter den TVöD fallenden als Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen von Personen- und Lastkraftwagen sowie von Omnibussen beschäftigten Arbeitnehmer des Bundes mit Ausnahme

1. der Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen, die zu Auslandsdienststellen entsandt sind (§ 45 TVöD BT-V(Bund)),

2. der Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen, die nicht oder nur gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit (§ 6 Abs. 1 TVöD) hinaus beschäftigt werden.

Protokollerklärung:

¹Ein Kraftfahrer/eine Kraftfahrerin ist dann nicht nur gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beschäftigt, wenn er/sie im vorangegangenen Kalenderhalbjahr in einem Kalendermonat mindestens 15 Überstunden geleistet hat. ²Er/Sie bleibt in der Pauschalgruppe, wenn er/sie im Durchschnitt des laufenden Kalenderhalbjahres die für die jeweilige Pauschalgruppe mindestens erforderliche monatliche Arbeitszeit erfüllt. ³Ist der Kraftfahrer/die Kraftfahrerin im vorangegangenen Kalenderhalbjahr infolge Erkrankung oder Unfalls mindestens 3 Monate arbeitsunfähig gewesen, sind auch die Überstunden zu berücksichtigen, die er/sie ohne Arbeitsunfähigkeit geleistet hätte.

...

§ 3 Monatsarbeitszeit

(1) Die in einem Kalendermonat im Rahmen von § 2 geleistete Arbeitszeit ist die Monatsarbeitszeit.

(2) ¹Für die Ermittlung der Monatsarbeitszeit gilt als tägliche Arbeitszeit die Zeit vom Arbeitsbeginn bis zur Beendigung der Arbeit, gekürzt um die dienstplanmäßigen Pausen. ²Bei ununterbrochener dienstlicher Abwesenheit des Fahrers/der Fahrerin von der Dienststelle zwischen 12 und 14 Uhr oder bei einer Dienstreise zwischen 6 und 12 Stunden findet keine Kürzung statt, bei einer eintägigen Dienstreise über 12 Stunden wird einheitlich eine Kürzung von 30 Minuten vorgenommen.

(3) Im Falle einer/eines

- Beurlaubung (§§ 26, 27 TVöD),

- Arbeitsunfähigkeit infolge Erkrankung oder Unfalls,

- Freistellung von der Arbeit unter Entgeltfortzahlung (§ 29 TVöD),

- Qualifizierung in überwiegend dienstlichem oder betrieblichem Interesse unter Zahlung des Entgelts,

- Freizeitausgleichs nach § 2 Abs. 3 Satz 1,

- ganz oder teilweisen Ausfalls der Arbeit wegen der Tätigkeit als Mitglied einer Personalvertretung/eines Betriebsrates,

- ganz oder teilweisen Ausfalls der Arbeit in Folge eines Wochenfeiertages

sind für jeden Arbeitstag folgende Stunden pauschal anzusetzen:

a) bei ständiger Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf 5 Werktage oder wechselnd auf 5 Werktage in je drei Wochen je Kalendermonat und im Übrigen auf 6 Werktage für:

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe I

8,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe II

9,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe III

10,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe IV

11,65 Stunden,

Chefkraftfahrer/Chefkraftfahrerinnen

11,65 Stunden,

b) bei ständiger Verteilung der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit auf 6 Werktage oder ständig wechselnd auf 6 bzw. 5 Werktage für:

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe I

7,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe II

8,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe III

9,65 Stunden,

Fahrer/Fahrerinnen der Pauschalgruppe IV

10,65 Stunden,

(4) ¹Jeder Tag einer mehrtätigen Dienstreise oder einer Teilnahme an Manövern und Übungen (Anhang zu § 46 zum TVöD BT-V (Bund)) ist mit 12 Stunden anzusetzen. ²Für die Berechnung der Zeitzuschläge nach § 4 Abs. 4 ist bei mehrtätigen Dienstreisen wie folgt zu verfahren:

³Beginnt die mehrtägige Dienstreise nach 12.00 Uhr, ist für diesen Tag die Zeit von 12.00 bis 24.00 Uhr, endet die mehrtägige Dienstreise vor 12.00 Uhr, ist für diesen Tag die Zeit von 0.00 bis 12.00 Uhr, für alle übrigen Tage die Zeit von 8.00 bis 20.00 Uhr anzusetzen.

...

§ 5 Pauschalgruppen

(1) Entsprechend ihrer Monatsarbeitszeit (§ 3) sind die Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen folgenden Pauschalgruppen zugeordnet:

- Pauschalgruppe I

- bei einer Monatsarbeitszeit ab 185 bis 196 Stunden,

- Pauschalgruppe II

- bei einer Monatsarbeitszeit über 196 bis 221 Stunden,

- Pauschalgruppe III

- bei einer Monatsarbeitszeit über 221 bis 244 Stunden,

- Pauschalgruppe IV

- bei einer Monatsarbeitszeit über 244 bis 268 Stunden,

- Chefkraftfahrer/Chefkraftfahrerinnen

- bei einer Monatsarbeitszeit bis 288 Stunden.

...

§ 8 Übergangsvorschrift für am 30. September 2005 / 1. Oktober 2005 vorhandene Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen

(1) Für die am 30. September 2005 vorhandenen Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen, deren Arbeitsverhältnis zum Bund über den 30. September 2005 hinaus fortbestehen und die am 1. Oktober 2005 unter den Geltungsbereich des TVöD fallen, gelten die nachfolgenden besonderen Regelungen.

(2) Ein Kraftfahrer/eine Kraftfahrerin ist dann nicht nur - im Sinne des § 1 - gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beschäftigt, wenn er/sie im vorangegangenen Kalenderhalbjahr in mehr als 6 Wochen Überstunden geleistet hat. Ist der Kraftfahrer/die Kraftfahrerin im vorangegangenen Kalenderhalbjahr infolge Erkrankung oder Unfalls mindestens 3 Monate arbeitsunfähig gewesen, sind auch die Überstunden zu berücksichtigen, die er/sie ohne Arbeitsunfähigkeit geleistet hätte.

...

§ 9 Überleitungs- und Besitzstandsregelung ..."

b)

Danach erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 8 KraftfahrerTV Bund.

aa)

Zwar ergibt die Auslegung, dass die Überstunden, die den Geltungsbereich des Tarifvertrages eröffnen, tatsächlich geleistet worden sein müssen. Denn § 3 Abs. 3 bis 5 KraftfahrerTV Bund regelt abschließend, in welchen Fällen und in welchem Umfang Fahrern Zeiten ohne tatsächliche Arbeitsleistung bzw. anlässlich mehrtägiger Dienstreisen als Arbeitszeit für die Ermittlung der Monatsarbeitszeit angerechnet werden sollen. Die pauschal anzusetzenden Stunden orientieren sich dabei in ihrer Höhe an der Pauschalgruppe der Fahrer im laufenden Kalenderhalbjahr und stellen sicher, dass die Fahrer nicht nur wegen der im Tarifvertrag genannten Ausfallzeiten im folgenden Kalenderhalbjahr ein niedrigeres Pauschalentgelt erhalten (vgl. Breier/ Dassau/Kiefer, TV-L, 93. AL 02/2020, 2 pauschales Ansetzen von Stunden als tägliche Arbeitszeit - § 3 Abs. 3 bis 5 Pkw-Fahrer-TV-L vom 1. Mai 2015, zu einer inhaltsgleichen Norm des TV-L). Die Vorschrift soll vor einem Herausfallen aus einer höheren Pauschalgruppe in eine niedrigere, also etwa von der Gruppe III in die Gruppe II, schützen und das Entgelt sichern (vgl. auch BAG vom 10. September 2014 - 10 AZR 844/13 - juris, zu der entsprechenden Regelung im TV-L hinsichtlich der Anrechnung von Stunden für Freizeitausgleich). Voraussetzung der Anwendung des § 3 KraftfahrerTV Bund ist dabei jedoch, dass der Arbeitnehmer dem Geltungsbereich des Tarifvertrages bereits unterfällt, was vorab gesondert festzustellen ist. Die Regelung nach § 3 Abs. 3 bis 5 KraftfahrerTV Bund kann danach nicht herangezogen werden, um im Grundsatz zunächst den Geltungsbereich für den Arbeitnehmer zu eröffnen. Daraus folgt, dass zur Begründung des Geltungsbereichs die Überstunden im erforderlichen Umfang nicht pauschal nach § 3 Abs. 3 bis 5 KraftfahrerTV Bund in das Stundenkonto einbezogen werden dürfen, sondern tatsächlich geleistet worden sein müssen.

bb)

Dennoch sind die Voraussetzungen des § 8 TV Kraftfahrer Bund erfüllt. Denn der Kläger hat im vorangegangenen Kalenderhalbjahr 2018 in mehr als sechs Wochen Überstunden tatsächlich geleistet.

(1)

Im Berufungsverfahren ist unstreitig geworden, dass der Kläger im Kalenderhalbjahr 2018 jedenfalls für sechs Kalenderwochen Überstunden geleistet hat. Zur Erfüllung der Voraussetzung der Eröffnung des Geltungsbereiches des Tarifvertrages benötigt der Kläger mithin nur noch eine weitere Woche, in der er tatsächlich Überstunden geleistet hat.

(2)

Das ist der Fall. Auch wenn für die Berechnung der Überstunden nicht auf die in § 3 KraftfahrerTV Bund pauschal angeführten Stunden zurückgegriffen werden kann, dürfen Urlaubs-, Krankheits- und Feiertage nicht vollständig unberücksichtigt bleiben und für diese Tage null Stunden angesetzt werden. Urlaubs-, Krankheits- und Feiertage haben in Höhe der tariflich regelmäßigen Stundenzahl in die Berechnung einzufließen. Das Gericht folgt insoweit nach eigener Prüfung der Auslegung des Arbeitsgerichts und nimmt auf sie vollumfänglich Bezug (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Ein anderes Verständnis widerspräche den Grundsätzen des Lohnausfallprinzips, nach denen der Arbeitnehmer so gestellt werden muss, wie er stehen würde, wenn er aus dem nicht von ihm zu vertretenen Grund seine Arbeitsleistung erbracht hätte. Wird dem Arbeitnehmer Urlaub gewährt, greift die Freistellungserklärung des Arbeitgebers. Der Arbeitnehmer ist von der Arbeitspflicht suspendiert.

(3)

Ausgehend von dieser Prämisse leistete der Kläger auch in den Kalenderwochen 34, 40 und 48 Überstunden tatsächlich. Denn die wegen Krankheit, Urlaub oder Feiertag ausfallende Arbeit ist anteilig mit 7,8 Stunden, nämlich der durchschnittlichen Arbeitszeit nach dem TVöD, zu berücksichtigen.

c)

Darüber hinaus unterfällt der Kläger auch dem Geltungsbereich des Tarifvertrages nach § 1 KraftfahrerTV Bund, denn er leistete im Kalendermonat Juli 2018 mindestens 15 Überstunden.

aa)

§ 1 KraftfahrerTV Bund findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung. Er wird nicht durch § 8 Abs. 2 verdrängt. Im Tarifvertrag findet es keinen Niederschlag, dass die Verbleibensregelung nach Satz 2 der Protokollerklärung zu § 1 KraftfahrerTV Bund die übergeleiteten Fahrer - wie den Kläger - nach § 8 Abs. 2 KraftfahrerTV Bund ausschließt. Zwar enthält § 8 eine von § 1 abweichende Regelung, die abschließend nur auf die übergeleiteten Fahrer Anwendung findet (vgl. BAG vom 24. Juni 2010 - 6 AZR 18/09 - juris Rn. 16, 17). Daraus folgt indes nicht, dass § 1 für diese Kraftfahrer nicht gilt, denn diese Tarifnorm enthält keine ausschließlich für die anderen Kraftfahrer geltende Regelung für den Anwendungsbereich des Tarifvertrages. Die Norm erfasst die übergeleiteten Kraftfahrer. Das ergibt die Auslegung.

(1)

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts folgt die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln (vgl. für viele: BAG vom 26. April 2017 - 10 AZR 589/15 - juris Rn. 14). Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Über den reinen Wortlaut hinaus ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm mit zu berücksichtigen, sofern und soweit er in den tariflichen Regelungen und ihrem systematischen Zusammenhang Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags, gegebenenfalls auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen. Im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 2. November 2016 - 10 AZR 615/15 - Rn. 14 mwN).

(2)

In Anwendung dieser Grundsätze verdrängt § 8 KraftfahrerTV Bund den Anwendungsbereich des Tarifvertrags gemäß § 1 für den Kläger nicht. Es handelt sich um eine besitzstandswahrende Regelung, die nur dann ihren Sinn und Zweck erfüllt, wenn sie die übergeleiteten Kraftfahrer nicht schlechter stellt. Das aber wäre gegeben, wenn der Geltungsbereich nach § 1 die übergeleiteten Fahrer ausschlösse, wie die vorliegende Fallgestaltung zeigt.

Zwar unterfallen die übergeleiteten im Gegensatz zu den anderen Fahrern gemäß § 8 schon bei einer deutlich niedrigeren Zahl an geleisteten Überstunden - begünstigend - dem Tarifvertrag. Denn nach § 8 sind diese (schon) dann nicht im Sinne des § 1 gelegentlich über die regelmäßige Arbeitszeit hinaus beschäftigt, wenn sie im vorangegangenen Kalenderhalbjahr in mehr als sechs Wochen - also mindestens sieben Wochen - Überstunden geleistet haben. Dabei kommt es auf die Zahl der wöchentlich erbrachten Überstunden nicht an, denn bereits eine tatsächlich geleistete Überstunde jeder der mehr als sechs Wochen des Kalenderhalbjahres genügt. Dieselbe niedrige Stundengrenze gilt auch für den Verbleib im KraftfahrerTV Bund (vgl. Durchführungsrundschreiben zum KraftfahrerTV Bund vom 14. Januar 2009 [- D 5-220 210-6/0 -] S. 9 zu 1.4).

Das indes schließt es nicht aus, für übergeleitete Fahrer neben der besitzstandswahrenden Ausnahme in § 8 den Geltungsbereich des KraftfahrerTV Bund durch die Protokollerklärung zu § 1 Satz 1 KraftfahrerTV Bund zu eröffnen, nach der die Ableistung von mindestens 15 Überstunden in einem Kalendermonat genügt. Für ein solches Verständnis spricht der Wortlaut des Tarifvertrages. Die Worte "nicht nur" sprechen für eine umfassende Anwendung. § 1 enthält keine Hinweise darauf, dass er auf übergeleitete Fahrer keine Anwendung fände. Darüber hinaus spricht die Tarifsystematik für das Auslegungsergebnis. Die Voraussetzungen des Geltungsbereichs werden ohne jede Einschränkung in § 1 KraftfahrerTV Bund genannt. Die Norm beschränkt den Anwendungsbereich - anders als § 8 - nirgends, insbesondere nicht zeitlich hinsichtlich des Beschäftigungsbeginns. Das aber wäre - hätte man der Norm einen entsprechenden Inhalt geben wollen - ohne weiteres möglich gewesen, etwa durch Hinzufügen der Worte "mit Ausnahme der übergeleiteten Fahrer" oder durch eine Differenzierung zwischen "übergeleiteten" und "nicht übergeleiteten" Fahrern.

Der Ausnahmecharakter einer nicht einschränkenden, sondern zusätzlichen besitzstandswahrenden Norm wird dadurch unterstrichen, dass § 8 KraftfahrerTV Bund eigenständig am Ende des Tarifvertrages eingefügt ist. Systematisch erhält sie dadurch den Charakter einer erweiternden Regelung. Hierauf deutet auch die Überschrift "Übergangsvorschrift für am 30. September 2005 / 1. Oktober 2005 vorhandene Kraftfahrer/Kraftfahrerinnen" hin. Das gefundene Auslegungsergebnis führt zudem zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung.

bb)

Da der Kläger im Kalendermonat Juli 2018 mindestens 15 Überstunden leistete, unterfällt er auch nach § 1 KraftfahrerTV Bund dem Anwendungsbereich des Tarifvertrages. Soweit die Beklagte erstmals mit Schriftsatz vom 6. Mai 2020 vorträgt, es seien weniger als 15 Überstunden geleistet worden, weil der Kläger die Pausenzeiten nicht abgezogen habe, mangelt diesem Vorbringen die hinreichende Substanz. Bereits mit der Klage hat der Kläger unter Vorlage der Erfassungsbögen vorgetragen, dass die Arbeitszeiten entsprechend den Regelungen des § 3 KraftfahrerTV Bund korrekt erfasst worden seien. Die Vordrucke stammen offensichtlich von der Beklagten und enthalten zwei Spalten zur Pausenregelung. Auch für den betreffenden Monat sind dort Einträge vorgenommen worden. Ferner sind verschiedentlich - etwa am 9. und 10. Juli - je 30 Minuten von der erfassten Zeit abgezogen worden, offenbar als Pausen. Vor diesem Hintergrund kann sich die Beklagte nicht darauf zurückziehen, die - zuvor unstreitigen - Arbeitszeiten unter pauschalem Hinweis auf nicht abgezogene Pausenzeiten zu bestreiten. Vielmehr hätte sie vortragen müssen, an welchen Tagen welche (weiteren) Pausenzeiten hätten in Abzug gebracht werden müssen. Da dies nicht erfolgt ist, gilt das Vorbringen des Klägers zu seiner im Monat Juli 2018 geleisteten Arbeitszeit nach wie vor als zugestanden.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO i. V. m. § 64 Abs. 7 ArbGG.

IV.

Die Revisionszulassung folgt aus § 72 ArbGG.