Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.11.2020, Az.: 11 Sa 111/20

Sachliche Rechtfertigung für unterschiedliche tarifliche Zuschläge bei der Nachtarbeit; Mehrarbeitsstunden als Teil der "sonstigen Nachtarbeit" im Tarifvertrag; Pauschalierende Regelung der Tarifvertragsparteien bei geringfügigem Anteil der "sonstigen Nachtarbeit" an den insgesamt anfallenden Nachtarbeitsstunden

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
03.11.2020
Aktenzeichen
11 Sa 111/20
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 58486
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2020:1103.11Sa111.20.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 05.12.2019 - AZ: 7 Ca 257/19

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Werden in einem Tarifvertrag für unterschiedliche Formen der Nachtarbeit Zuschläge in unterschiedlicher Höhe gewährt (hier: 15 %, 20 %, 60 %), bedarf diese Differenzierung einer sachlichen Rechtfertigung.

  2. 2.

    Bestehen nach Tarifwortlaut und Tarifgeschichte Anhaltspunkte dafür, dass in der "sonstigen Nachtarbeit" zugleich Mehrarbeitsstunden enthalten sind, kann dies einen höheren - einmal zu zahlenden - Nachtzuschlag rechtfertigen.

  3. 3.

    Macht die "sonstige Nachtarbeit" nur ca. 1 % der insgesamt anfallenden Nachtarbeitsstunden aus, so ist es nicht zu beanstanden, wenn die Tarifvertragsparteien eine pauschalierende Regelung treffen und von einer weiteren Differenzierung der Fallgruppen absehen.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 05.12.2019 - 7 Ca 257/19 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten der Berufung.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die zutreffende Höhe tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Die Beklagte ist ein Unternehmen, das Süßwaren produziert, d.h. Kekse, Weihnachtsgebäck, abgepackte Kuchen etc. Der Kläger steht seit 00.00.2014 in einem Arbeitsverhältnis als gewerblichen Mitarbeiter. Der Bruttostundenlohn betrug im Januar 2019 € 00,00, seit Juli 2019 € 00,00. Die Beklagte ist über die Mitgliedschaft im B. e.V. an den zwischen diesem Arbeitgeberverband und der G. (NGG) abgeschlossenen Bundesmanteltarifvertrag vom 14. Mai 2007 (im Folgenden: BMTV) tarifgebunden. Der Kläger ist Mitglied der G. NGG und deshalb ebenfalls tarifgebunden.

Der BMTV hat auszugsweise den folgenden Wortlaut:

"§ 1 Geltungsbereich

Dieser Tarifvertrag gilt:

a) räumlich: (...)

b) fachlich: für Industriebetriebe, die nachstehende Waren oder ihrer Art nach verwandte Waren herstellen oder verarbeiten: Schokolade, Schokoladenerzeugnisse und Kakao, Zuckerwaren, Dauerbackwaren, Eiskrem, Knabberartikel, Rohmassen, Speiseeisrohstoffe, sowie für betriebseigene Auslieferungslager

c) persönlich: (...)

(...)

§ 4 Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit

I. Begriffsbestimmungen

1. Schichtarbeit ist die regelmäßige tägliche vereinbarte Arbeitszeit, unabhängig von der zeitlichen Lage.

Wechselschicht liegt vor, wenn ein regelmäßiger Wechsel des Schichtbeginns und damit der zeitlichen Lage der Schicht erfolgt, wobei dieser Rhythmus zusammenhängend mindestens eine volle Arbeitswoche dauert.

2. Mehrarbeit ist die über die jeweils betrieblich festgelegte regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgehende Arbeit, soweit es sich nicht um einen zulässigen Ausgleich für ausgefallene Arbeitszeit an einzelnen Werktagen handelt.

(...)

Mehrarbeit ist, soweit es nur irgendwie angängig ist, zum Beispiel durch zusätzliche Einstellung von Arbeitnehmern oder durch Einlegung von Schichten nach Maßgabe der betrieblichen und betriebstechnischen Möglichkeiten zu vermeiden. Ist aber Mehrarbeit unvermeidlich, so kann sie über die festgelegte Arbeitszeit hinaus mit dem Betriebsrat vereinbart werden. (...)

3. Nachtzeit ist die Zeit zwischen 22 und 6 Uhr.

4. - 5. (...)

6. Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit ist ebenso wie Mehrarbeit nach Möglichkeit zu vermeiden. Sie ist - außer bei üblicher Schichtarbeit - im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nur vorübergehend in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit im Einverständnis mit dem Betriebsrat zulässig. Mehrarbeit und Mehrarbeitszuschläge können durch entsprechende Freizeit ausgeglichen werden.

(...)

7. (...)

II. Vergütung

1. Für Mehr-, Schicht-, Wechselschicht-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sind folgende Zuschläge zu zahlen:

a) für Mehrarbeit, die in die Tageszeit von

6 bis 22 Uhr fällt

25 v. H.

ab der 3. Mehrarbeitsstunde täglich

40 v. H.

b) für Nachtarbeit

Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fallen

15 v. H.

die regelmäßig länger als 14 Tage überwiegend in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fallen

20 v. H.

sonstige Nachtarbeit

60 v. H.

c) für Arbeiten an Sonntagen

60 v. H.

d) (...)

2. Die Zuschläge werden von dem effektiven Entgelt bzw. Leistungslohn berechnet.

Für die Errechnung von Zuschlägen je Arbeitsstunde ist der Teilungsfaktor 1/165 zugrunde zu legen. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur ein Zuschlag, und zwar jeweils der höchste, zu zahlen.

3. (...)

III. Wechselschichtarbeit

1. Arbeitnehmer in Wechselschichten haben Anspruch auf Schichtfreizeiten nach Maßgabe folgender Bestimmungen:

Bei Arbeit ab ... Schichten /in zweischichtigem Wechsel (Früh- und Nachmittagsschicht)

Freischicht von...Arbeitstagen

40

½

80

1

120

1 ½

160

2

200

2 ½

in dreischichtigem Wechsel (Früh-, Nachmittags- und Nachtschicht)

40

1

80

2

120

3

160

4

200

5

Wechselschicht liegt vor, wenn die Spätschicht über 18 Uhr hinausgeht. Als Schicht im Sinne dieser Bestimmung gilt jeweils die geleistete tägliche Schicht.

2. Unter Beachtung der Mitbestimmung des Betriebsrates können statt der Freizeiten Zuschläge gezahlt werden:

für Wechselschichtarbeit von 18 bis 22 Uhr (Nachmittagsschicht) und für Wechselschichtarbeit von 22 bis 6 Uhr (Nachtschicht)

Zuschlag von 5,0 %.

Die Zuschlagsregelung von Schicht- und Wechselschichtarbeit gem. II. 1. b bleibt von dieser Regelung unberührt.

3. - 7. (...)

§ 5 bis § 13

(...)

§ 14 Ausschlussfrist

Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Arbeitsverhältnis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten seit Fälligkeit schriftlich geltend zu machen. Der Lauf der Ausschlussfrist ist in Fällen der Erkrankung des Arbeitnehmers gehemmt bis zum Tage der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit."

Die Beklagte arbeitet im gewerblichen Bereich im 3-Schicht-Betrieb. Auch den Kläger beschäftigt sie regelmäßig im 3-Schicht-Betrieb. Von der in § 4 III Nr. 2 BMTV eingeräumten Möglichkeit, für Arbeitnehmer im Schichtbetrieb statt der Gewährung von Freischichten um 5% erhöhte Zuschläge zu zahlen, macht die Beklagte keinen Gebrauch. Den Arbeitnehmern ich Schichtbetrieb werden die sich aus § 4 III Nr. 1 BMTV ergebenden Freischichten gewährt.

Der Kläger leistete im Jahr 2019 im Rahmen der für ihn angeordneten Schichtarbeit während der Nachtschichten Arbeitsstunden wie folgt:

Monat

Anzahl Nachtarbeitsstunden

Gezahlte Zuschläge (Prozentsatz)

Februar

2,5

15

März

22

20

April

29

20

Juli

35

20

August

141,98

20

Die Gewerkschaft NGG machte für den Kläger mit Schreiben vom 00.00.2019 (Bl. 21 f. d.A.) gegenüber der Beklagten Ansprüche auf erhöhte Nachtarbeitszuschläge für die Monate Februar bis April 2019 geltend, da der Kläger der Ansicht ist, ihm seien für die von ihm geleisteten Nachtarbeitsstunden Zuschläge in Höhe von 60% zu zahlen, so dass er für die einzelnen Monate jeweils die sich errechnende Differenz zu den ihm gezahlten 15% bzw. 20% Nachtzuschlägen begehrt.

Der Kläger meint unter Hinweis auf das Urteil des BAG vom 21.03.2018 - 10 AZR 34/17 - BAGE 162, S. 230-246, dass er durch die Bemessung der Nachtzuschläge in § 4 II Nr. 1 BMTV ohne Sachgrund gegenüber denjenigen Arbeitnehmern benachteiligt werde, die ihre Nachtarbeit nicht als Schichtarbeit leisten und dann Nachtzuschläge nicht nur von 15% bzw. 20% erhalten, sondern von 60%. Diese Ungleichbehandlung verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG, an den auch die Tarifvertragsparteien gebunden seien. Die ihn diskriminierende Regelung in § 4 II Nr. 1 BMTV sei deshalb unwirksam. Die entstandene Regelungslücke sei dadurch zu füllen, dass auch für die Arbeitnehmer, die ihre Nachtarbeit im Rahmen des Schichtdienstes leisten, der Zuschlag von 60% zu zahlen sei.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für die Monate Februar bis August 2019 insgesamt weitere 1.704,80 EUR brutto nebst Zinsen zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie behauptet, dass - bezogen auf das Unternehmen der Beklagten, nicht auf die Süßwarenindustrie insgesamt -, nur durchschnittlich 0,24% aller Nachtarbeitsstunden Fälle der "sonstigen Nachtarbeit" i.S.v. § 4 II. Nr. 1 Buchst. b BMTV seien. Diese Fälle kämen in der Praxis also kaum vor und beträfen Arbeitnehmer, die in der Spätschicht arbeiten und im Anschluss an die Spätschicht zu Mehrarbeit herangezogen werden, wobei die Mehrarbeit sich dann für einen kurzen Zeitraum in den Nacht-Zeitraum hineinreicht.

Die Beklagte ist der Ansicht, dass sich aus der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Tarifautonomie ergebe, dass die Frage, ob eine von den Tarifvertragsparteien im Rahmen einer Gesamteinigung über diverse Streitpunkte zu einem einzelnen Regelungsthema gefundene Regelung einer Angemessenheitskontrolle durch die Gerichte entzogen seien. Jedenfalls ergebe sich aufgrund der Tarifautonomie für die Tarifvertragsparteien ein weiter Regelungsspielraum. Vorliegend sei zu beachten, dass in der Rechtsprechung des BAG zu § 6 Abs. 5 ArbZG anerkannt sei, dass ein Ausgleich für Nachtarbeit in einem Tarifvertrag an einem weiteren Angemessenheitsmaßstab gemessen werden könne und müsse als ein solcher, der in einem Individualvertrag vereinbart sei.

In § 4 BMTV sei für die Schichtarbeitnehmer, die in der Nachtschicht arbeiten, neben dem reinen Geldzuschlag (§ 4 II. BMTV) noch ein Freizeitausgleich vorgesehen (§ 4 III. BMTV). Zudem erhielten viele der im Schichtdienst beschäftigte Arbeitnehmer - allerdings auch solche, die keine Nachtschicht arbeiten - in bestimmtem Umfang bezahlte Pausenminuten nach § 7 Nr. 15 Abs. 2 BMTV. Die Differenz hinsichtlich der Entgeltzuschläge für Nachtarbeiter werde mithin im Ergebnis annähernd ausgeglichen.

Das Arbeitsgericht Hannover hat mit Urteil vom 5.12.2019 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zahlung zusätzlicher Nachtzuschläge für die in den Monaten Februar bis April, Juli und August 2019 im Rahmen seines Schichtdienstes geleisteten Nacharbeitsstunden über den von der Beklagten gezahlten Zuschlag von 15 % bzw. 20% hinaus.

Das Gericht teile die Ansicht, dass Tarifverträge ungeachtet der sich aus Srt. 9 Abs. 3 GG ergebenden Tarifautonomie der Rechtskontrolle durch die Gerichte für Arbeitssachen zugänglich seien. Dazu gehöre auch der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Die von der Beklagten behauptete Regelungsabsicht, mit dem höheren Zuschlag von 60% die Fälle erfassen zu wollen, in denen Arbeitnehmer der Spätschicht wegen Mehrarbeit länger bleiben müssten, so dass eine Kumulation aus Nacht- und Mehrarbeitszuschlag gezahlt werden solle, finde im Tarifwortlaut keine ausreichende Stütze. Zwar sei auffällig, dass § 4 II. Nr. 1 a BMTV Mehrarbeitszuschläge nur für Mehrarbeit vorsehe, die in den Zeitraum von 06.00 bis 22.00 Uhr fällt, während Mehrarbeit nach 22.00 Uhr danach gar nicht zu bezuschlagen sei. Jedenfalls deute nichts darauf hin, dass der Mehrarbeitszuschlag und der dann anfallende "gewöhnliche" Mehrarbeitszuschlag in der Summe gerade 60% ergeben hätten.

Es liege bei der Bildung der Fallgruppen in § 4 Abs. 2 Nr. 1 b BMTV aber kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor. Da es um eine Grundrechtsrelevanz gehe, komme es nicht auf eine Fallgruppenbildung an, sondern auf eine Gruppenbildung in Bezug auf Grundrechtsträger, d.h. Menschen. Es sei bereits nicht erkennbar, dass es im Geltungsbereich des BMTV Gruppen von Arbeitnehmern gebe, die ihre Arbeit in Form von Nachtarbeit erbringen, ohne in ein Schichtsystem eingebunden zu sein. Dem Gericht sei kein einziges Industrieunternehmen bekannt, in dem nicht irgendeine Form von Schichtsystemen durchgeführt werde. Dann wäre es aber an dem gewerkschaftlich vertretenen Kläger gewesen vorzutragen, dass die Fallgruppe mehr als nur theoretischer Natur sei und eine echt erfassbare Gruppe von Arbeitnehmern bilde. Dazu habe er nichts vorgetragen.

Vor allem aber liege keine erhebliche relevante Ungleichbehandlung vor. Bei der Beurteilung der Gemeinsamkeiten oder Unterschiede der zu ordnenden Lebensverhältnisse sei die Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien zu beachten.

Es sei nicht isoliert auf § 4 Abs. 2 Nr. 1 b BMTV abzustellen. Da es um Arbeitnehmergruppen gehe, sei der Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages in Betracht zu nehmen. Vollschichtig beschäftigte Schichtarbeiter erhielten aber 5 Tage = eine Woche zusätzlicher bezahlter Freizeit. Damit unterscheide sich der Sachverhalt ganz erheblich von dem der Entscheidung des BAG vom 21.3.2018 zugrunde liegenden.

Selbst wenn die Regelung des § 4 Abs. 2 Nr. 1 b BMTV unwirksam wäre, wäre es dem Gericht verwehrt, die entstandene Lücke im Wege der ergänzenden richterlichen Auslegung so auszufüllen, dass die Nachtschichtstunden des Klägers mit 60% bezuschlagt werden. Die Tarifvertragsparteien hätten die Zuschlagshöhe für die Arbeitnehmer in regelmäßiger Nachtarbeit ausdrücklich geregelt. Denkbar wäre auch, dass die Tarifvertragsparteien die Ungleichbehandlung etwa durch eine höhere Anzahl von Freischichten lösen würden.

Gegen dieses ihm am 00.00.2020 zugestellte Urteil hat der Kläger am 00.00.2020 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist fristgerecht am 00.00.2020 begründet.

Bei der Regelung des § 4 Abs. 2 Nr. 1 b BMTV handele es sich um eine gleichheitswidrige Schlechterstellung von Arbeitnehmern, welche im Rahmen der Wechselschichtarbeit Nachtarbeit leisteten, die gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoße. Die Tarifvertragsparteien seien bei der Normsetzung von einem biologischen Gewöhnungseffekt von Nachtschichtarbeitern ausgegangen. Sie seien damit einem Fehlverständnis über die gesicherten arbeitsmedizinischen Erkenntnisse unterlegen. Damit sei die Grenze der grundrechtlich durch Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumten Einschätzungsprärogative überschritten. Als Rechtsfolge sei eine Anpassung nach oben anzunehmen.

Bis in die Mitte der 90er Jahre sein man von einer Gewöhnung an Arbeit in der Nachtzeit ausgegangen. Diese These sei mittlerweile widerlegt. Auf die durch Nachschichtarbeit gestörten hormonellen und physiologischen Regulationsprozesse im Körper könne niemand bewussten Einfluss nehmen. Zusätzlich könne Schichtarbeit zu einer sozialen Desynchronisation führen. Die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben sowie am Familienleben sei gestört.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts bestimme sich die rechtliche Prüfungstiefe nach dem Zweck, welchen die Tarifvertragsparteien mit einer Regelung verfolgten. Unabhängig von den Tarifvertragsparteien habe sich der Staat europarechtlich verpflichtet, den Gesundheitsschutz vor den Belastungen der Nachtschichtarbeit sicherzustellen. Dieser Verpflichtungsstandard könne weder vollständig an die Tarifvertragsparteien delegiert noch durch sie unterschritten werden.

Die konkreten tarifvertraglichen Regelungen zum Ausgleich von Nachschichtarbeit müssten vor dem Hintergrund des Europarechts und des Arbeitszeitgesetzes den Gesundheitsschutz bezwecken. Sie seien damit an der Methodik der neueren verfassungsgerichtlichen Judikatur zu messen: ob die Unterscheidung einen legitimen Zweck verfolgt, ob die Unterscheidung zur Zweckerreichung geeignet ist und drittens, ob sie zur Zweckerreichung erforderlich ist.

Das Bundesarbeitsgericht habe bei der Prüfung einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG das Vorhandensein von konkreten Arbeitnehmern in einer Vergleichsgruppe nicht zur Voraussetzung der Bejahung einer Ungleichbehandlung gemacht (BAG 10 AZR 736/12). Dem Kläger sei es auch nicht möglich, konkret zu etwaigen Vergleichspersonen Stellung zu nehmen, da er keinen Zugang zu den Entgeltabrechnungen anderer Arbeitnehmer habe. Die Ansicht des Arbeitsgerichts, der Kläger hätte hierzu vortragen müssen, halte einer rechtlichen Überprüfung nicht Stand.

Dass unregelmäßige Nachtschichten solche seien, die nicht planbar und damit besonders sozial belastend sind, sei im Wortlaut der Regelung nicht angelegt. Auch dass in den Nachtzuschlagsregelungen Mehrarbeitszuschläge enthalten sein sollten, finde keinen Anhaltspunkt im Wortlaut des Tarifvertrages. Hier handele es sich um eine von der Beklagten frei erfundene These.

Auch ein Ausgleich durch Schichtfreizeiten genüge nicht den arbeitsmedizinischen Erkenntnissen. Wenn diese auch dem Ausgleich sonstiger Schichtarbeit dienten, sei schon offensichtlich, dass sie nicht die Belastung der Nacharbeit ausgleichen sollten. Sie böten auch keinen adäquaten Ausgleich, wenn sie nicht schon nach der ersten Schicht erworben würden. Das Arbeitsgericht habe nicht berücksichtigt, dass auch die Arbeitnehmer im 2-Schicht-Betrieb einen Ausgleich von 2, 5 Freischichttagen erhielten. Damit verblieben als Ausgleich für die Nachtarbeit allenfalls 2,5 Schichten. Umgerechnet auf den Geldwert stellten die 2,5 Freischichten bei weitem keinen adäquaten Ersatz zu einem Zuschlag in Höhe von 60 % dar.

Der Zuschlag von 15 % bzw. 20 % gleiche die Nachteile der Teilhabe am sozialen Leben nur unzureichend aus.

Rechtsfolge könne in diesem Fall nur die Anpassung nach oben sein. In der Regel werde in der Rechtsprechung des BAG nur die benachteiligende Bestimmung für unwirksam erklärt, so dass die Benachteiligten die Leistungen der anderen Gruppe erhalten. Weil der begünstigten Gruppe für die Vergangenheit aus Gründen des Vertrauensschutzes die höhere Zulage nicht genommen werden könne, bleibe damit im vergangenheitsorientierten Parteiprozess in der Regel nur dieser Weg.

Das Arbeitsgericht sei hinsichtlich einer ergänzenden richterlichen Auslegung auch von einer unzutreffenden Annahme ausgegangen. In § 4 Abs. 3 Nr. 2 b BMTV sei geregelt, dass unter Beachtung der Mitbestimmung des Betriebsrats statt Freizeiten auch Zuschläge gezahlt werden könnten, und zwar "für Wechselschichtarbeit von 22:00 bis 6:00 Uhr (Nachtschicht) Zuschlag von 5%."

Der Kläger legt ergänzend ein Gutachten von K. und L. (Bl. 125 ff.d.A.) vor.

Der Kläger und Berufungskläger beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 5.12.2019, 7 Ca 257/19 abzuändern und

1. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat Februar 2019 weitere 20,31 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.06.2019 zu zahlen,

2. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat März 2019 weitere 158,84 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.06.2019 zu zahlen,

3. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat April 2019 weitere 209,38 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13.06.2019 zu zahlen,

4. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat Juli 2019 weitere 260,40 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.08.2019 zu zahlen,

5. die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger für den Monat August 2019 weitere 1.056,33 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 01.09.2019 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts sei richtig.

Zur Zuschlagshöhe habe der Kläger nichts Substanzielles vorgetragen. Es fehle eine differenzierte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Nachtarbeitszeiträumen. (MTV ab 22:00 Uhr, ArbZG ab 23:00 Uhr). Daraus ergebe sich bei der Zuschlagsgewährung ein Unterschied von 12,5% je Schicht.

Die Schichtfreizeit von 5 Tagen stehe auch bei 2-Schicht-Systemen nur Arbeitnehmern zu, die Nachtarbeit leisteten.

Das Bundesarbeitsgericht habe in der Entscheidung vom 21.3.2018 - 10 AZR 34/17 das Gesamtgefüge der tariflichen Regelungen gewürdigt. Der vorliegend zu beurteilende Tarifvertrag unterscheide sich zudem in vielen Punkten wesentlich vom Manteltarifvertrag der Textilindustrie Nordrhein. Insbesondere sei dort vorgesehen, dass ein Zuschlag nur dann zu zahlen ist, wenn mindestens 6 Stunden der Arbeitszeit in die Nachtzeit fallen. Darunter sei ein Zuschlag überhaupt nicht vorgesehen gewesen.

Die Zuschläge für Nachtarbeit "außerhalb von Schichtarbeit" erhielten in der Regel Mitarbeiter, die einen nicht geplanten Bereitschaftseinsatz absolvierten und insoweit kurzfristig zur Nachtarbeit herangezogen würden. Demgegenüber sei die regelmäßige Nachtschichtarbeit vorhersehbar und planbar.

Demgegenüber sei der Kläger der ihm obliegenden Darlegungs- und Beweislast nicht nachgekommen. Er habe nicht zu den tatsächlichen Besonderheiten der Branche vorgetragen und auch nicht dargelegt, dass kein einziger sachlicher Grund bestehe, der die tarifliche Differenzierung rechtfertigen würde. Er habe sich darauf beschränkt, pauschal darauf zu verweisen, dass Nachtarbeit belastend sei.

Das Aushandeln der Tarifverträge bedinge den Kompromisscharakter von einzelnen Regelungen. Ungleichbehandlung und rechtfertigender Grund müssten dabei aber in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.

Im Übrigen liege auch der Argumentation des Klägers mit einer sozialen Desynchronisation ein antiquiertes Verständnis einer Arbeitszeit "9 to 5" zugrunde.

Sowohl die Berufungsbegründung als auch das klägerseits vorgelegte Gutachten setzten sich nicht ausreichend mit der unmittelbaren Anwendbarkeit der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG auseinander. Die Umsetzung gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV sei mit dem Arbeitszeitgesetz erfolgt.

Schließlich sei die vom Bundesarbeitsgericht in der Entscheidung 10 AZR 34/17 vorgenommene Anpassung nach oben verfassungsrechtlich bedenklich. Die Tarifvertragsparteien hätten einen weiteren Gestaltungsspielraum und damit eine weite Einschätzungsprärogative. Aus ihr folge, dass die Gerichte die vereinbarten Regelungen nur sehr begrenzt kontrollieren dürften. Eine Gleichbehandlung mit Beschäftigten, die unregelmäßige Nachtarbeit leisten, wäre deshalb nur mit einem erheblichen Eingriff in die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien möglich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie die Protokollerklärungen der Parteien Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung ist zulässig gem. §§ 519, 520 ZPO, §§ 64, 66 ArbGG.

Sie ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat die Klage zutreffend abgewiesen.

I.

Die tarifvertraglichen Regelungen verstoßen nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs.1 GG.

1. Die Kammer geht mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts davon aus, dass auch die Tarifvertragsparteien trotz der in Art. 9 Abs. 3 GG normierten Tarifautonomie bei der tariflichen Normsetzung an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind (etwa BAG 21.3.18, 10 AZR 34/17, BAGE 162, 230). Obwohl gegen diese Rechtsprechung auch immer wieder Kritik geäußert wird (vgl. etwa Jacobs/Frieling SR 19, 108; Kleinebrink NZA 19, 1458), sieht die Kammer keinen Anlass, die tragenden Gründen der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in Frage zu stellen.

Aus Art. 3 Abs. 1 GG folgt das Gebot, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Die aus dem Gleichheitssatz folgenden Grenzen sind überschritten, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solchem Gewicht bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigen können (vgl. BAG vom 21.03.2018, 10 AZR 34/17, BAGE 162, 230). Dabei besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem Maß der feststellbaren Ungleichbehandlung und den sachlichen Anforderungen für ihre Rechtfertigung. Differenzierungen bedürfen stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet nicht nur, dass die Ungleichbehandlung an ein der Art nach sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium anknüpft, sondern verlangt auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung, der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweist. Der Gleichheitssatz ist dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können (BVerfG 21.6.11,1 BvR 2035/07, BVerfGE 129, 49).

Bei der Beurteilung dieser sachlichen Rechtfertigung ist ferner der verfassungsrechtliche Grundsatz der Tarifautonomie des Art. 9 Abs. 3 GG zu berücksichtigen. Bei der Lösung tarif-politischer Konflikte sind die Tarifvertragsparteien nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Vereinbarung zu treffen. Es genügt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund besteht (BAG vom 21.03.2018 aaO.). Dabei ist nicht auf die Einzelfallgerechtigkeit abzustellen, sondern auf die generellen Auswirkungen der Regelung (BAG 11.12.13, 10 AZR 736/12, BAGE 147, 33; 19.12.19, 6 AZR 563/18, NZA 20, 734).

Die Kontrolldichte ist damit für tariflich bestimmte Nachtarbeitszuschläge deutlich geringer als in Arbeitsverhältnissen ohne Tarifgeltung; dort ist der unbestimmte Rechtsbegriff des angemessenen Ausgleichs von den Gerichten für Arbeitssachen selbst auszufüllen (BAG 9.12.15, 10 AZR 423/14, BAGE 153, 378).

2. In einem ersten Schritt sind die maßgeblichen zu vergleichenden Gruppen von Arbeitnehmern zu bestimmen. Maßgebliches Anknüpfungskriterium ist vorliegend die Erbringung von Arbeitsleistung in der Nachtzeit. Die tarifvertraglichen Bestimmungen dienen insoweit dazu, die gesetzliche Regelung in § 6 Abs. 5 ArbZG auszufüllen.

Hinsichtlich der Bemessung der Nachtzuschläge unterscheidet der im Betrieb der Beklagten geltende Bundes-Manteltarifvertrag (BMTV) in § 4 II.1.b) zwischen

- Schichtarbeit und Wechselschichtarbeit, die in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fällt (Zuschlag 15%),

- die regelmäßig länger als 14 Tage überwiegend in die Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr fällt (Zuschlag 20%)

- sonstige Nachtarbeit (Zuschlag 60%).

3. Um das Vorliegen einer sachlichen Rechtfertigung für eine festgestellte Ungleichbehandlung beurteilen zu können, bedarf es einer Beschreibung der Art und des Regelungszweckes der getroffenen Gruppenbildung.

a) Dies ist maßgeblich unter Anwendung der anerkannten Kriterien der Tarifauslegung zu ermitteln. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so der Sinn und der Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen (etwa BAG 17.10.07, 4 AZR 755/06, AP § 1 TVG Nr. 30 Tarifverträge: Deutsche Bahn).

Grundlegend ist festzustellen, dass für die Auslegung und die Rechtskontrolle des BMTV nicht die tatsächlichen Umstände im Betrieb - oder den Betrieben - der Beklagten maßgeblich sind. Der Tarifvertrag gilt als Branchentarifvertrag bundesweit für eine unbekannt große Zahl verschiedener Unternehmen.

Das Arbeitsgericht hat allerdings zutreffend darauf hingewiesen, dass der BMTV ausschließlich für Industriebetriebe (nicht: Handwerk) gilt und für Industriebetriebe generell seit vielen Jahrzehnten die Arbeit in Schichtmodellen unter - mehr oder weniger vollständiger - Einbeziehung der Nachtstunden eine übliche Form der Arbeitsorganisation darstellt.

b) Der "Grundtatbestand" mit einem Zuschlag von 15% liegt deutlich unter dem vom Bundearbeitsgericht (etwa BAG 9.12.15, 10 AZR 423/14, BAGE 153, 378 [BAG 09.12.2015 - 10 AZR 423/14]) bei individualrechtlicher Beurteilung nach § 6 Abs. 5 ArbZG seit einigen Jahren angenommenen Regelwert von 25%. Allerdings ist dieser Zuschlag bereits für Arbeitszeit ab 22.00 Uhr zu zahlen, so dass die Zahl der zuschlagpflichtigen Nachtstunden sich gegenüber dem Gesetz von 7 auf 8 Stunden erhöht. Konkret beim Kläger ist anhand der Abrechnung März 2019 etwa ersichtlich, dass bei einer Arbeitszeit von 20:20 Uhr bis 04:10 Uhr 5,5 zuschlagpflichtige Stunden anfallen, nach dem Gesetz wären es lediglich 4,5 Stunden.

c) Bei Schichtarbeit, die regelmäßig länger als 14 Tage in der Nachtzeit anfällt, steigt der Zuschlagssatz auf 20%(ebenfalls ab 22:00 Uhr). Diese Steigerung entspricht der Argumentation des Klägers, dass nach heutigen arbeitsmedizinischen Erkenntnissen eine Gewöhnung an Nachtarbeit nicht stattfindet und dementsprechend die biologische Belastung mit zunehmender Dauer der Nachtarbeit steigt.

Es ist nicht festzustellen, dass mit der Festsetzung dieser Zuschlaghöhen (15% bzw. 20%) auf Grundlage heutiger arbeitsmedizinischer Erkenntnisse die Tarifvertragsparteien ihre Einschätzungsprärogative bezüglich eines angemessenen Ausgleichs für Nachtarbeit überschritten haben. Weder der deutsche noch der europäische Gesetzgeber haben eine konkrete Untergrenze für einen angemessenen Zuschlag benannt. In § 6 Abs. 5 Eingangssatz ArbZG hat der Gesetzgeber ausdrücklich einen Vorrang tariflicher Regelungen normiert. Insofern bleibt es bei der grundlegenden Konzeption des Art. 9 Abs. 3 GG, wonach die Tarifvertragsparteien mit größter Sachnähe berufen sind, die "Angemessenheit" eines Ausgleichs zu konkretisieren. Der BMTV ist in der jetzigen Fassung im Jahr 2007 abgeschlossen worden. Zu diesem Zeitpunkt war ein Umbruch der arbeitsmedizinischen Beurteilung der Belastungen durch Nacharbeit bereits eingetreten. Es ist nicht vorgetragen, dass die tarifschließende Gewerkschaft damals oder auch in späteren Tarifrunden eine Erhöhung konkret dieser Zuschläge verlangt hat. Danach muss angenommen werden, dass im Jahr 2007 die Tarifvertragsparteien die Zuschlagsregelung als zumindest ausreichend angesehen haben. Insbesondere liegt ein rechtserheblicher Unterschied zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts 10 AZR 34/17 darin, dass nach dem dort zugrunde liegenden Tarifvertrag für die Textilindustrie Nordrhein Schichtarbeit, die mit weniger als 6 Stunden in die Nachtzeit fiel, völlig zuschlagfrei war.

d) Die Kategorie "sonstige Nachtarbeit" ist von beiden Parteien nicht näher erläutert worden. Die Beklagte hat vorgetragen, der Anteil dieser Kategorie habe in ihrem Betrieb in der Vergangenheit ca. 0,24 % aller Nachtarbeitsstunden betragen. Das Gutachten Dr.E./C. (Seite 45) nennt für den Tarifbereich insgesamt einen Wert von 0 - 1 %. Geht man von dem Befund industrietypischer regelmäßiger Organisation in Wechselschicht-Nachtarbeit aus, liegt der Schluss nahe, dass "sonstige Nachtarbeit" nur in besonderen Konstellationen anfällt. Dies kommt auch zum Ausdruck in § 4 I.6 BMTV, wo es bezüglich Nacht- und Feiertagsarbeit heißt:

"Sie ist - außer bei üblicher Schichtarbeit - im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen nur vorübergehend in Fällen einer dringenden betrieblichen Notwendigkeit im Einverständnis mit dem Betriebsrat zulässig."

Danach muss die Gruppe der sonstigen unregelmäßigen Nachtarbeit als Sammeltatbestand für alle eventuellen, nicht konkret vorhersehbaren Arbeitsbedarfe in den Nachtstunden angesehen werden, wobei es sich insoweit um nicht weiter systematisierbare und unregelmäßige Einzeltatbestände handelt.

Sowohl die Wortlautauslegung als auch die Heranziehung der Tarifgeschichte sprechen wesentlich dafür, dass in die Zuschlaghöhe von 60% auch ein evtl. anfallender Mehrarbeitszuschlag eingerechnet ist. Wie auch das Arbeitsgericht gesehen hat, ist ein Mehrarbeitszuschlag von 25% nur für die Zeit von 6 bis 22 Uhr vorgesehen. Das wirft zwingend die Frage nach der Behandlung von Mehrarbeit in der Nachtzeit von 22 bis 6 Uhr auf. In § 4 II. 2. Satz 3 BMTV ist geregelt, dass beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge nur ein Zuschlag, und zwar der jeweils höchste, zu zahlen ist. Ein Zusammentreffen von Mehrarbeitszuschlag (25%) und Nachtschichtzuschlag (15 bzw. 20%) würde dazu führen, dass im typischen Fall der Schichtarbeit auch in der Nacht im Ergebnis nur der - höhere - Mehrarbeitszuschlag zu zahlen wäre. Dieses Ergebnis war von den Tarifvertragsparteien offenbar nicht gewollt. Eine solche Auslegung würde wohl auch nicht mit den Vorgaben der EU-Arbeitszeitrichtlinie und § 6 Abs. 5 ArbZG vereinbar sein.

Dieses Verständnis wird auch bestätigt durch die Tarifgeschichte. Die Beklagte hat bereits erstinstanzlich zitiert aus dem BMTV vom 23.01.1979 (Schriftsatz vom 00.00.2019 Seite 14), wonach für Mehrarbeit, die in die Nachtzeit (damalige Spanne: 20.00 bis 06.00 Uhr) fiel, ein Zuschlag von 60% zu zahlen war. Ferner hat sie ein - internes - Protokoll zur Tarifverhandlung vom 00.00.1983 vorgelegt (nur im Parallelverfahren 11 Sa 112/20, dort Bl. 73), wonach unter II.2. und III.5 ausdrücklich die "Verschiebung" des Mehrarbeitszuschlages von 60% in die "sonstige Nachtarbeit" als Verhandlungsergebnis aufgenommen ist. Es wäre dem Kläger auch gem. § 138 Abs. 1 ZPO abzuverlangen gewesen, bezüglich seines Betriebes beim Betriebsrat oder branchenbezogen bei seiner Gewerkschaft weitere Informationen dazu einzuholen. Zwar braucht sich eine Prozesspartei im Grundsatz nach § 138 Abs. 1 und 4 ZPO nur zu Tatsachen zu erklären, die Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung gewesen sind. Allerdings ergibt sich aus der Verpflichtung zur substantiierten Erwiderung in § 138 Abs. 2 ZPO, dass eine Prozesspartei in besonderen Situationen auch verpflichtet ist, ihr zugängliche Informationen einzuholen (etwa BGH 10.10.94, NJW 95, 130 [BGH 10.10.1994 - II ZR 95/93]; 19.4.01, NJW-RR 02, 612 [BGH 19.04.2001 - I ZR 238/98]; Stein-Jonas ZPO 22. Aufl. § 138 Rn. 48). Da der Betriebsrat über die Anwendung der im Betrieb geltenden Tarifverträge zu wachen hat (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) und ferner insgesamt 11 Klägerinnen und Kläger für den Rechtsstreit Rechtsschutz durch die tarifschließende Gewerkschaft erhalten haben, war dem Kläger die Einholung von Auskünften zur Entwicklung des Tarifvertrages, auch für länger zurückliegende Zeiten, möglich und zumutbar.

Zwar hat das Arbeitsgericht zutreffend ausgeführt, dass nicht nachvollziehbar ist, dass ein Zusammenrechnen der jeweiligen Zuschläge genau 60% ausmachen würde. Tatsächlich ergäben sich mögliche Werte von 15 + 25 = 40%, 20 + 25 = 45%, 40 + 25 = 65 %. An dieser Stelle ist aber zu berücksichtigen, dass den Tarifvertragsparteien die Befugnis zusteht, auch pauschalierende Regelungen zu treffen, einerseits damit das Regelwerk nicht zu kompliziert wird, andererseits um Abrechnungsaufwand zu vermindern (etwa BAG 6.12.17, 5 AZR 118/17, BAGE 161, 132). Angesichts des Befundes, dass ein Zuschlagssatz von 60% für Mehrarbeit in der Nachtzeit zumindest seit 1979 tariflich geregelt war, ist eine Pauschalierung des Zuschlages auf einen Wert von 60% ausreichend sachlich nachvollziehbar.

e) Der höhere Zuschlagssatz von 60 % für den äußerst kleinen Anwendungsbereich der sonstigen unregelmäßigen Nachtarbeit ist ausreichend sachlich gerechtfertigt.

aa) Zwar ist es keine tarifliche Anforderung für die Zahlung des Zuschlages von 60%, dass im Einzelfall für den Arbeitnehmer tatsächlich Mehrarbeit vorliegt. Es sind real auch Fälle denkbar, in denen das nicht der Fall ist. Es ist aber gerade Sinn und Zweck einer Pauschalierung, dass derartige akribische Aufzeichnungen und Berechnungen entbehrlich werden sollen.

Ferner liegt auch unabhängig von der Frage einer Mehrarbeit eine tatsächliche zusätzliche Erschwernis darin, dass bei unregelmäßiger Nachtarbeit die Arbeitnehmer dies typischerweise zusätzlich zu der an dem betreffenden Tag bereits erbachten Normalarbeitszeit tun. Tatsächlich wird zusätzliche Nachtarbeit jedenfalls häufig an bereits erbrachte planmäßige Arbeitszeit anschließen. Bei derartiger, kurzfristig angesetzter zusätzlicher Nachtarbeit wird leicht eine nichtabwendbare Kollision bei der Gestaltung des Soziallebens stattfinden, während bei Schichtarbeit die Koppelung von Arbeit und Privatleben längerfristig planbar ist.

bb) Infolge verschiedener rechnerischer Faktoren reduziert sich der Abstand zwischen den unterschiedlichen Zuschlagshöhen in der realen Anwendung.

Der 60%-Zuschlag ist mangels anderer tariflicher Regelung erst für Arbeitsstunden ab 23.00 Uhr (§ 2 Abs. 3 ArbZG) zu zahlen, der Zuschlag von 15 bzw. 20% aber schon ab 22.00 Uhr (s.o I.3.b).

Angesichts der Begrenzung des § 3 ArbZG können im Anschluss an eine Spätschicht nur noch wenige zusätzliche Stunden geleistet werden. Der Gesamtbetrag des erreichbaren Zuschlags wird dann rechnerisch immer noch unter dem Zuschlag für eine vollständige Nachtschicht liegen.

Ferner zu berücksichtigen, dass gem. § 3 b EStG der 25% - für die Stunden von 0.00 bis 04.00 Uhr 40% - übersteigende Zuschlagsbetrag steuerpflichtig ist, sodass der an den Arbeitnehmer fließende Nettobetrag des Zuschlages einige Prozentpunkte unter 60 % liegt.

cc) Demgegenüber ist von rechnerisch geringerer Bedeutung, dass den Arbeitnehmern im 3-Schicht-Betrieb, der notwendig regelmäßige Nachtarbeit einschließt, zusätzliche Freizeittage gewährt werden. Da gem. § 4 III.1. BMTV auch Schichtarbeitnehmer im 2-Schicht-Betrieb (Früh-/Nachmittagsschicht) einen Anspruch auf bezahlte Schichtfreizeit haben, ist für den Ausgleich der Nachtarbeit lediglich die Differenz zu berücksichtigen, das sind 0,5 bis 2, 5 Tage im Jahr. Allerdings kommt unter arbeitsmedizinischen Gesichtspunkten zusätzlicher Freizeit ein höherer Wert zu. Das wird auch daran deutlich, dass bei einer möglichen Umwandlung des Freizeitanspruchs in Geld nach § 4 III.2. ein zusätzlicher Zuschlag von 5% angesetzt ist.

dd) Darüber hinaus ist die Kompensation für Belastung der Gesundheit und eingeschränkte Teilhabe am Sozialleben nicht der einzige gesetzlich legitime Regelungszweck von Nachtschichtzuschlägen. Zwar liegt zweifelsohne der Schwerpunkt sowohl der europäischen Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG als auch des § 6 Abs. 5 ArbZG auf diesem Aspekt. Es ist aber auch anerkannt, dass die Höhe von Nachtschichtzuschlägen eine Steuerungsfunktion in dem Sinn ausüben soll, dass ungeplante Nachtarbeit für den Arbeitgeber verteuert und in der Folge möglichst vermieden werden soll (etwa BAG 09.12.15, 10 AZR 423/14, BAGE 153, 378). Bei planmäßiger Schichtarbeit, die wie im vorliegenden Fall auch mitbestimmt unter Mitwirkung des Betriebsrates zustande gekommen ist, kommt eine Vermeidung durch verbesserte Steuerung aber typischerweise nicht in Betracht.

Unter Berücksichtigung aller dieser Aspekte ist nicht festzustellen, dass die Tarifvertragsparteien die ihnen in Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumte Einschätzungsprärogative in Bezug auf die tatsächlichen Gegebenheiten und betroffenen Interessen überschritten haben.

II.

Im Übrigen kann fraglich sein, ob in einem Fall wie dem vorliegenden ein Anspruch auf Anpassung "nach oben" gegeben wäre, wenn der Tarifvertrag für die ganz überwiegend große Zahl der Beschäftigten/Nachtarbeiter eine gesetzeskonforme Regelung enthält. Das kann aber im Ergebnis dahinstehen.

III.

Detailfragen zur Einhaltung der tariflichen Ausschlussfrist brauchen ebenfalls nicht entschieden zu werden.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Die Revision ist gem. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG zugelassen worden.