Landesarbeitsgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.05.2020, Az.: 13 Sa 627/19

Auslegung eines Sozialplans; Ermittlung von Beschäftigungsjahren durch Auslegung der entsprechenden Rechtsgrundlagen; Vorrang der Auslegungsmethodik von Rechtsquellen vor Heranziehung einer schriftlichen Kommentierung der Betriebsparteien

Bibliographie

Gericht
LAG Niedersachsen
Datum
20.05.2020
Aktenzeichen
13 Sa 627/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 59650
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LAGNI:2020:0520.13Sa627.19.00

Verfahrensgang

vorgehend
ArbG Hannover - 10.07.2019 - AZ: 5 Ca 48/19

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Nr. 3 a) (1) des Sozialplans vom 24.08.2015 für den Standort Hannover sowie F. 1. a) der Rahmenvereinbarung zur Beendigung der Eigenproduktion an allen dezentralen deutschen Stationen vom 08.07.2015 zwischen der Deutschen Lufthansa AG und den jeweilig zuständigen örtlichen Betriebsräten sind dahin auszulegen, dass Stichtag für die Berechnung der Beschäftigungsjahre zur Ermittlung der Abfindungshöhe im Zusammenhang mit dem Abschluss sogenannter rentenferner Aufhebungsverträge der Zeitpunkt ist, zu dem das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet wird.

  2. 2.

    Die für die Deutsche Lufthansa und für die Betriebsräte unterzeichnete Kommentierung zur Rahmenvereinbarung sowie der jeweiligen Interessenausgleiche und Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche - u.a. Standort Hannover - vom 29.01.2016 stellt keine den örtlichen Sozialplan bzw. die Rahmenvereinbarung abändernde oder ergänzende Betriebsvereinbarung dar. Ihr hätte hinsichtlich der Auslegung allenfalls dann eine entscheidende Bedeutung zukommen können, wenn auch nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden zwischen mehreren möglichen Auslegungsergebnissen ein nicht behebbarer Zweifel verblieben wäre.

Redaktioneller Leitsatz

Die Auslegung einer Betriebsvereinbarung - ebenso die eines Interessenausgleichs und Sozialplans als Betriebsvereinbarungen eigener Art - richtet sich wegen ihrer normativen Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1, § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) nach den Grundsätzen der Tarifvertrags- und Gesetzesauslegung. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Bestimmung an. Darüber hinaus sind Sinn und Zweck der Regelung von besonderer Bedeutung. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt.

Tenor:

  1. 1.

    Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 10.07.2019 (5 Ca 48/19) abgeändert soweit die Beklagte zur Zahlung von mehr als 6.133,50 € brutto zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 verurteilt worden ist.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Die weitergehende Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

  1. 2.

    Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.

  2. 3.

    Die Revision wird für die Beklagte zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Höhe einer Sozialplanabfindung.

Die Klägerin trat 1988 als Arbeitnehmerin in die Dienste der Beklagten, die sie am Standort Hannover beschäftigte.

Bei der Beklagten ist in einer fortgeltenden Konzernbetriebsvereinbarung vom 20.11.1992 (Bl. 67 - 79 d. A.; im Folgenden kurz: KBV) aus Anlass geplanter Umstrukturierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen u.a. Folgendes geregelt:

"§ 6 Abfindung

(1) Anspruch auf eine Abfindung nach diesem Sozialplan haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die aus betriebsbedingten Gründen gekündigt werden.

(2) Als Abfindung wird ein Betrag gezahlt, der sich berechnet aus einer Bruttomonatsvergütung multipliziert mit der Anzahl der Vollendeten Beschäftigungsjahre, maximal 12 Bruttovergütungen.

Bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, werden abweichend von obiger Berechnungsformel das sechste bis zum vollendeten zwölften Beschäftigungsjahr mit dem Faktor 1,2 multipliziert. Die Obergrenze beträgt insgesamt 13,4 Bruttomonatsvergütungen.

Bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die das 50. Lebensjahr vollendet haben, werden abweichend von obiger Berechnungsformel das sechste bis zum vollendeten zwölften Beschäftigungsjahr mit dem Faktor 1,4 multipliziert. Die Obergrenze beträgt insgesamt 14,8 Bruttomonatsvergütungen.

(3) Stichtag für die Berechnung der Beschäftigungsjahre ist der Zeitpunkt, zu dem das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet wird; eine evtl. Freistellung bleibt unberücksichtigt.

(...)

(4) Die Bruttomonatsvergütung berechnet sich auf der Grundlage der arbeits- oder tarifvertraglichen Grundvergütung einschließlich der Zuschläge und Zulagen.

(...)

Am 08.07.2015 schloss die Beklagte mit mehreren örtlichen Betriebsräten, u.a. dem Betriebsrat des Standortes Hannover, eine Rahmenvereinbarung zur Beendigung der Eigenproduktion an allen dezentralen deutschen Stationen (Bl. 80 - 95 d.A.; im Folgenden kurz: Rahmenvereinbarung). Hierin verpflichteten sich die Betriebsparteien, bis zum 15.12.2015 je einen Interessenausgleich und Sozialplan pro betroffener Station zur Regelung der betrieblichen Umsetzung der bevorstehenden Betriebsänderungen abzuschließen. Zur Unterstützung der Fluktuation ist in der Rahmenvereinbarung auch der Abschluss "rentenferner Aufhebungsverträge" vorgesehen. Hierzu heißt es u.a.:

"(...)

a) Rentenferne Aufhebungsverträge:

Abweichend von den Regeln der Konzernbetriebsvereinbarung Interessenausgleich und Sozialplan vom 20.11.1992 in der Fassung vom 01.01.2001 werden freiwillige Abfindungen im Rahmen von Aufhebungsverträgen nach folgender Formel angeboten:

1 x Bruttomonatsvergütung pro vollendetem Beschäftigungsjahr.

Die so errechneten Abfindungsangebote erhöhen sich nach folgenden Prämissen ("Sprinterprämie"):

Sechs Monate ab Abschluss örtlicher Interessenausgleich/Sozialplan

Ende des "50%-Sprinterfensters 31.12.2017

01.01.2018 - 30.06.2018

01.07.2018 - 31.05.2021

Sprinterprämie

50 %

0 %

25%

0 %

Die Abfindung ist begrenzt auf die Höhe der Summe der fiktiven Bruttobezüge, die der Mitarbeiter vom Zeitpunkt der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen des frühestmöglichen gesetzlichen Rentenzugangs noch erhalten würde. (...)

(...)

d) Berechnung der Bruttomonatsvergütung

Soweit es nach dieser Vereinbarung auf die Höhe der Bruttomonatsvergütung ankommt, wird die aktuelle individuelle Bruttomonatsvergütung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zugrunde gelegt."

Am 24.08.2015 schloss die Beklagte einen Sozialplan mit dem Betriebsrat des Standortes Hannover ab (Bl. 5 - 12 d. A.). Darin heißt es:

"2. Geltung der Konzernbetriebsvereinbarung "Interessenausgleich und Sozialplan"

Die Konzernbetriebsvereinbarung "Interessenausgleich und Sozialplan" vom 20.11.1992 in der Fassung vom 01.01.2001 findet grundsätzlich Anwendung, soweit in diesem Sozialplan keine abweichenden Regelungen und Vereinbarungen getroffen wurden.

3. Sozialverträgliche HR-Maßnahmen zur Unterstützung der Fluktuation

(...)

a) HR-Maßnahmen

(...)

(1) Rentenferne Aufhebungsverträge

Abweichend von den Regeln der Konzernbetriebsvereinbarung Interessenausgleich und Sozialplan vom 20.11.1992 in der Fassung vom 01.01.2001 werden freiwillige Abfindungen im Rahmen von Aufhebungsverträgen nach folgender Formel angeboten:

1 x Bruttomonatsvergütung pro vollendetes Beschäftigungsjahr.

Die so errechneten Abfindungsangebote erhöhen sich nach folgenden Prämissen ("Sprinterprämie"):

bis zum 29.02.2016

01.03.2016 - 31.12.2017

01.01.2018 - 30.06.2018

01.07.2018 - 31.05.2021

Sprinterprämie

50 %

0 %

25%

0 %

Die Abfindung ist begrenzt auf die Höhe der Summe der fiktiven Bruttobezüge, die der Mitarbeiter vom Zeitpunkt der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses bis zum Erreichen des frühestmöglichen gesetzlichen Rentenzugangs noch erhalten würde. (...)

(...)

(4) Berechnung der Bruttomonatsvergütung

Soweit es nach dieser Vereinbarung auf die Höhe der Bruttomonatsvergütung ankommt, wird die aktuelle individuelle Bruttomonatsvergütung zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zugrunde gelegt."

Am 29.01.2016 unterzeichneten Vertreter der Beklagten und zwei Rechtsanwälte mit "i. V." unter dem Zusatz "für die Betriebsräte" eine Kommentierung zur Rahmenvereinbarung sowie der jeweiligen Interessenausgleiche und Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche - u.a. Standort Hannover - (Bl. 96 - 115 d.A.). Hierin ist u.a. ausgeführt:

"(...)

Geltung und Zweck der Kommentierung:

Die nachfolgende Kommentierung gilt sowohl für die Rahmenvereinbarung zur Beendigung der Eigenproduktion an allen dezentralen deutschen Stationen vom 08.07.2015 (Rahmenvereinbarung) als auch für die in der Folge geschlossenen örtlichen Interessenausgleiche/Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche BRE ST, CGN, DUS, ST, HAJ ST, NEU ST, STR ST und TXL/BER ST nebst Zusatzvereinbarungen (örtliche IA/SP).

Zum Zwecke der Kommentierung wird der Text der Rahmenvereinbarung genutzt. In der linken Spalte findet sich der Text der Rahmenvereinbarung und in der rechten Spalte die Kommentierung.

Die Kommentierung dient dazu, den Willen und das gemeinsame Verständnis der Betriebsparteien in Bezug auf die Rahmenvereinbarung und die örtlichen IA/SP zu dokumentieren. (...)"

Die Kommentierung zu Abschnitt F.1 a) rentenferne Aufhebungsverträge lautet:

"Vollendete Beschäftigungsjahre sind vollendete Beschäftigungsjahre bis zum Abschluss des Aufhebungsvertrages".

Die Parteien schlossen am 01.06.2018 einen Aufhebungsvertrag (Bl. 13 - 16 d.A.), der eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2018 und eine an die Klägerin zu zahlende Abfindung von 180.300,- € vorsieht. Mit der Abwicklung des Aufhebungsvertrages sollten vereinbarungsgemäß alle wechselseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und seiner Beendigung, gleich aus welchem Rechtsgrund, ob bekannt oder unbekannt erledigt sein.

Mit Schreiben vom 02.11.2018 machte die Klägerin erfolglos einen höheren Abfindungsanspruch geltend. Die im Aufhebungsvertrag vorgesehene Abfindung zahlte die Beklagte an die Klägerin aus.

Mit der am 12.09.2019 bei dem Arbeitsgericht eingegangenen Klage hat die Klägerin die Zahlung eines höheren Abfindungsbetrages weiterverfolgt.

Sie hat die Auffassung vertreten, die Berechnung der Abfindung nach dem Sozialplan vom 24.08.2015 hätte unter Zugrundelegung einer Bruttomonatsvergütung pro vollendetem Beschäftigungsjahr bezogen auf den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses erfolgen müssen. Hieraus errechne sich eine weitere Abfindung in Höhe eines Bruttomonatsgehalts von 4.971,56 € zuzüglich Sprinterprämie von 25 %, mithin 6.214,45 € brutto.

Sie habe nicht wirksam auf die aus der Betriebsvereinbarung folgenden Ansprüche verzichtet.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin eine Abfindung in Höhe von € 6.214,45 brutto zzgl. Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.01.2019 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat vorgetragen, der Sozialplan sehe für die Berechnung der Abfindungszahlung bei rentenfernen Aufhebungsverträgen vor, dass für die vollendeten Beschäftigungsjahre auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Aufhebungsvertrages abzustellen sei.

Diese Auslegung ergebe sich auch aus der von den Betriebsparteien verfassten Kommentierung. Diese sei für die Betriebsräte durch die von ihnen beauftragen Rechtsanwälte unterzeichnet worden.

Das Arbeitsgericht hat mit einem der Beklagten am 29.07.2019 zugestellten Urteil vom 10.07.2019 (Bl. 205 - 218 d.A.), auf das wegen der Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes sowie seiner Würdigung durch das Arbeitsgericht verwiesen wird, der Klage stattgegeben. Hiergegen richtet sich die am 14.08.2019 eingelegte und am 30.09.2019 innerhalb verlängerter Frist begründete Berufung der Beklagten.

Die Beklagte hat geltend gemacht, "vollendet" i.S.d. Sozialplans seien bei Unterzeichnung des Aufhebungsvertrages nur die in der Vergangenheit liegenden Beschäftigungsjahre gewesen.

Aus der Stichtagsregelung im Zusammenhang mit der Sprinterprämie ergebe sich, dass eine solche nach Auffassung der Betriebspartner auch hinsichtlich der Berechnung der vollendeten Beschäftigungsjahre gewollt gewesen sein müsse.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Hannover vom 10.07.2019 (5 Ca 48/19) abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft ihr erstinstanzliches Vorbringen unter Verteidigung des angefochtenen Urteils.

Wegen der Einzelheiten des zweitinstanzlichen Vorbringens wird auf die im Berufungsverfahren gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen und das Sitzungsprotokoll verwiesen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Berufung der Beklagten ist gemäß § 64 Abs. 1 und Abs. 2 ArbGG statthaft sowie form- und fristgerecht im Sinne der §§ 66, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO eingelegt worden. Sie ist auch im Übrigen zulässig, jedoch überwiegend unbegründet. Die Klägerin hat Anspruch auf eine weitere Abfindung in Höhe von 6.133,50 € brutto aus Nr. 3 a) (1) Sozialplans vom 24.08.2015. Nur in Höhe eines Betrages von 80,95 € ist die Klage unbegründet und die Berufung der beklagten erfolgreich.

1.

Die Klägerin hat im Sinne der in Nr. 3 a) (1) des Sozialplans angegebenen Formel 30 Beschäftigungsjahre vollendet. Das Arbeitsgericht hat die Betriebsnorm zutreffend dahin ausgelegt, dass vollendete Beschäftigungsjahre bis zu dem Zeitpunkt zu berücksichtigen sind, zu dem das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet wird.

a)

Die Auslegung einer Betriebsvereinbarung - ebenso die eines Interessenausgleichs und Sozialplans als Betriebsvereinbarungen eigener Art - richtet sich wegen ihrer normativen Wirkung (§ 77 Abs. 4 Satz 1, § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) nach den Grundsätzen der Tarifvertrags- und Gesetzesauslegung. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Bestimmung an. Darüber hinaus sind Sinn und Zweck der Regelung von besonderer Bedeutung. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt (BAG 15. Mai 2018 - 1 AZR 37/17 -, Rn. 15, juris).

b)

Danach kann im Streitfall allein dem Wortlaut von Nr. 3 a) (1) des Sozialplans nicht unmittelbar entnommen werden, auf welchen Zeitraum bezogen die Anzahl der vollendeten Beschäftigungsjahre zu ermitteln ist. Unter Einbeziehung von Nr. 2 des Sozialplans ist jedoch von dem in § 6 Abs. 3 KBV normierten Grundsatz auszugehen, dass Stichtag für die Berechnung der Beschäftigungsjahre der Zeitpunkt ist, zu dem das Arbeitsverhältnis rechtlich beendet wird.

aa)

Die Anwendbarkeit von § 6 KBV scheitert nicht daran, dass die Norm Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen regelt, während der streitgegenständliche Sozialplan lediglich kündigungsvermeidende HR-Maßnahmen regelt. Wenn die Betriebsparteien grundsätzlich die Anwendbarkeit der KBV regeln, obwohl der Sozialplan Abfindungsregelungen ausschließlich für Aufhebungsverträge vorsieht, kann dies nur so verstanden werden, dass sie im Grundsatz die Regelungen der KBV auch für die unter Nr. 3 des Sozialplans genannten Maßnahmen angewendet wissen wollen, soweit diese Abfindungsansprüche auslösen. Anderenfalls ergäbe die Vereinbarung der grundsätzlichen Geltung der KBV keinen Sinn. Die grundsätzliche Geltung der KBV wird auch dadurch nochmals bestätigt, dass die Betriebsparteien im Sozialplan unter Ziff. 3. a) (1) ausdrücklich geregelt haben, dass freiwillige Abfindungen im Rahmen von Aufhebungsverträgen "abweichend von den Regeln der Konzernbetriebsvereinbarung Interessenausgleich und Sozialplan vom 20.11.1992 in der Fassung vom 01.01.2001" angeboten werden.

bb)

Von § 6 Abs. 3 KBV abweichende Regelungen und Vereinbarungen im Sinne von Nr. 2 des Sozialplans sind nicht getroffen worden. Zwar wird nach dem Wortlaut des Eingangssatzes von Nr. 3 a) (1) des Sozialplans ausdrücklich von den Regeln der Konzernbetriebsvereinbarung Interessenausgleich und Sozialplan vom 20.11.1992 in der Fassung vom 01.01.2001 abgewichen, wobei die Stellung dieses Hinweises sogleich im Eingangssatz unmittelbar nach der Überschrift "Rentenferne Aufhebungsverträge" zunächst dafür sprechen könnte, dass hinsichtlich der gesamten Regelung zu rentenfernen Aufhebungsverträgen von der KBV abgewichen werden sollte. Die verlautbarte Abweichung von den Regeln der KBV im Eingangssatz von Nr. 3 a) (1) des Sozialplans wird jedoch durch die im selben Satz enthaltene Formulierung "nach folgender Formel" begrenzt. In den beiden folgenden Sätzen der Nr. 3 a) (1) des Sozialplans finden sich nur noch Abweichungen von der KBV bezüglich der Gewährung einer zusätzlichen Sprinterprämie sowie der Begrenzung der Abfindung. Dies spricht dafür, dass es im Übrigen bei dem Grundsatz des § 6 Abs. 3 KBV verbleibt.

Für die von der Beklagten vertretene Auffassung und eine lediglich punktuelle Rückausnahme in Bezug auf Fälle besonderer wirtschaftlicher und sozialer Härten spricht nicht der Hinweis auf § 22 KBV im weiteren Text der Nr. 3 a) (1) des Sozialplans. Der gesonderte Hinweis auf § 22 KBV ist auch bei der hier vertretenen Auslegung sinnvoll. § 22 KBV bezieht sich auf Meinungsverschiedenheiten und Härtefälle bei Anwendung der KBV. Nr. 3 a) (1) des Sozialplans enthält jedoch ausdrücklich auch Regelungen abweichend von der KBV. Auch ist das in § 22 Abs. 1 KBV genannte Gremium unter Beteiligung des Gesamtbetriebsrats nicht ohne weiteres für die Lösung von Härtefällen aus einer zwischen der Beklagten und dem örtlichen Betriebsrat getroffenen Regelung zuständig.

Für die hier vertretene Auffassung spricht ferner der Umstand, dass es mangels ausdrücklicher Regelung eines von § 6 Abs. 3 KBV abweichenden Stichtages unklar bliebe, welche Berechnung der vollendeten Beschäftigungsjahre für rentenferne Aufhebungsverträge sonst greifen sollte. Denn eine über die Aussagen der KBV hinausgehende Regelung bezüglich der Berechnungsgrundlagen für die Abfindung findet sich - nicht nur für rentenferne Aufhebungsverträge - nur noch in Nr. 3 a) (4) des Sozialplans zur maßgeblichen Bruttomonatsvergütung. Angesichts des in Nr. 2 des Sozialplans i.V.m. § 6 Abs. 3 KBV ausdrücklich normierten Grundsatzes wäre es jedoch zu erwarten gewesen, dass die Betriebsparteien eine abweichende Berechnung der vollendeten Beschäftigungsjahre ebenfalls ausdrücklich geregelt hätten. Allein die Verwendung des Adjektivs "vollendete" vor dem Begriff "Beschäftigungsjahre" im Rahmen der Berechnungsformel stellt eine solche abweichende Regelung nicht dar. Auch die Abfindung nach § 6 KBV wird ausweislich dessen Abs. 2 auf der Grundlage der "vollendeten Beschäftigungsjahre" berechnet. Dort bestimmt § 6 Abs. 3 KBV gerade, dass auf die rechtliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzustellen ist.

Ferner sprechen Sinn und Zweck der Regelung für das bisherige Auslegungsergebnis. Die Sozialplanabfindung stellt einen Ausgleich für den Verzicht auf das Arbeitsverhältnis dar. Der auszugleichende Verlust wird maßgeblich durch den zum Zeitpunkt des Ausscheidens erworbenen sozialen Besitzstand und dieser durch die Dauer des Bestehens des Arbeitsverhältnisses bestimmt. Dies kommt u.a. in § 1a Abs. 2 KSchG zum Ausdruck. Von diesem Grundsatz sind ausweislich Nr. 2 des Sozialplans i.V.m. § 6 Abs. 3 KBV auch die Betriebsparteien ausgegangen.

Auf eine Abweichung von diesem Grundsatz kann nicht aufgrund der Regelungen zur Sprinterprämie in Nr. 3 a) (1) des Sozialplans ausgegangen werden. Zwar ist die Sprinterprämie im Zusammenhang mit der Abfindung bei rentenfernen Aufhebungsverträgen geregelt und fließt in die Gesamtabfindung mit ein. Dies ändert aber nichts daran, dass Abfindung und Sprinterprämie unterschiedliche Zwecke verfolgen. Die Sprinterprämie dient der Schaffung eines zusätzlichen Anreizes zur Akzeptanz für den betroffenen Arbeitnehmer und von Planungssicherheit für die Beklagte. Allein für die Klärung der Frage, ob ein Anspruch auf die zusätzliche Sprinterprämie besteht, ist ein Abstellen auf den Abschluss des Aufhebungsvertrages sinnvoll.

Schließlich gebührt im Zweifel derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einer sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Regelung führt. Zutreffend hat das Arbeitsgericht ausgeführt, dass ein sogenannter "Gleichlauf" der Berechnungsfaktoren (Bruttovergütung und vollendete Beschäftigungsjahre) weder notwendig noch zwingend ist. Da die Parteien bei Abschluss des Aufhebungsvertrages zugleich den Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses festlegen und somit auch hierauf bezogen bereits die Anzahl der vollendeten Beschäftigungsjahre errechnen können, ist ein Rückgriff auf die bei Abschluss des Aufhebungsvertrages vollendeten Beschäftigungsjahre nicht erforderlich. Die von der Beklagten vertretene Auslegung würde zudem bei dem Abschluss rentenferner Aufhebungsverträge Mitarbeiter/innen mit langen Kündigungsfristen gegenüber solchen mit kürzeren Fristen benachteiligen, ohne dass ein hinreichender Sachgrund hierfür ersichtlich wäre. Auch ist nicht erkennbar, weshalb eine unterschiedliche Behandlung von Mitarbeitern hinsichtlich der maßgeblichen Beschäftigungsjahre durch die Art des Beendigungstatbestandes (etwa betriebsbedingte Kündigung oder Abschluss eines rentenfernen Aufhebungsvertrages zur Vermeidung einer betriebsbedingten Kündigung) gerechtfertigt sein könnte.

c)

Die Kommentierung zur Rahmenvereinbarung vermag kein anderes Auslegungsergebnis zu begründen. Der tatsächliche Regelungswille der Betriebsparteien ist nur zu berücksichtigen, soweit er im Wortlaut der Regelung selbst einen hinreichenden Niederschlag gefunden hat, was nach den vorstehenden Ausführungen in Bezug auf die in der Kommentierung vertretene Auffassung gerade nicht der Fall ist. Insoweit folgt die Berufungskammer den ausführlichen und zutreffenden Gründen unter (6) auf S. 8 und 9 der angefochtenen Entscheidung und sieht von einer lediglich wiederholenden Darstellung ab (§ 69 Abs. 2 ArbGG). Der Kommentierung hätte somit allenfalls dann eine entscheidende Bedeutung zukommen können, wenn auch nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden zwischen den beiden Auslegungsergebnissen ein nicht behebbarer Zweifel verblieben wäre.

Die Kommentierung zur Rahmenvereinbarung sowie der jeweiligen Interessenausgleiche und Sozialpläne zur Beendigung der Eigenproduktion der jeweiligen Stationsbereiche stellt ungeachtet des Erfordernisses der Unterschriften der Betriebsparteien und im Raum stehender Rückwirkungsfragen schon nach ihrer Bezeichnung sowie dem erklärten Sinn und Zweck auch keine den örtlichen Sozialplan abändernde oder ergänzende Betriebsvereinbarung dar. Anderes ergibt sich insbesondere nicht aus der von der Beklagten im Berufungsverfahren als Anlage BE1 vorgelegten E-Mail vom 17.02.2016 (Bl. 271 d. A.), wonach lediglich "einer aktuellen Version der Auslegungshilfe" die Zustimmung erteilt wurde. Insoweit folgt die Berufungskammer den zutreffenden Ausführungen des LAG B-Stadt auf S. 20f des klägerseitig vorgelegten Urteils vom 26.02.2020 - 7 Sa 124/19 -, (Bl. 332 - 354 d. A.).

2.

Der Klägerin steht danach auf der unstreitigen Basis eines Bruttomonatsgehaltes von 4.971,56 € unter Zugrundelegung einer Beschäftigungsdauer von 30 vollendeten Beschäftigungsjahren und einer "Sprinterprämie" von 25% ein Abfindungsbetrag von 186.433,50 € zu. Hierauf hat die Beklagte bereits 180.300,- € geleistet, mit der Folge, dass 6.133,50 € nachzuzahlen sind. Hinsichtlich des Mehrbetrages von 80,95 € ist die Klage unbegründet und die Berufung der Beklagten erfolgreich.

3.

Die Klageforderung ist nicht aufgrund der Erledigungsklausel gemäß Nr. 8 Abs. 1 des Aufhebungsvertrages vom 01.06.2018 dadurch ausgeschlossen, dass der Abfindungsbetrag in Nr. 2 des Aufhebungsvertrages mit 180.300,- € beziffert angegeben und zwischenzeitlich unstreitig bezahlt worden ist. Der angegebene Abfindungsbetrag ist nicht individuell ausgehandelt worden, sondern beruht nach dem Vortrag der Parteien auf einer Anwendung des Sozialplans, wie auch Nr. 1 Abs. 1 des Aufhebungsvertrages verdeutlicht. Soweit mit Nr. 8 Abs. 1 des nach dem äußeren Anschein arbeitgeberseitig vorformulierten Aufhebungsvertrages ein Ausschluss weitergehender Ansprüche aus dem Sozialplan beabsichtigt gewesen sein sollte, wäre dies gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG, § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG mangels dargelegter Zustimmung des Betriebsrats unwirksam.

4.

Der Zinsanspruch ergibt sich aus den §§ 286, 288 BGB.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

III.

Die Kammer hat für die Beklagte die Revision gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG wegen Abweichung von der Rechtsprechung des LAG C-Stadt (Urteile vom 25.11.2019 - 2 Sa 617/19 u.a.) zugelassen. Insoweit wird auf die beigefügte Rechtsmittelbelehrung verwiesen.

Gründe, die Revision für die Klägerin zuzulassen (§ 72 Abs. 2 ArbGG), bestanden nicht. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72 a ArbGG) wird hingewiesen.