Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 08.01.2013, Az.: 2 ME 451/12

Pflicht der Schule nach § 55 Abs. 2 NSchG zum Führen eines Dialogs mit den Erziehungsberechtigten von Schülerinnen und Schüler bei Vorliegen von entwicklungspezifischen Problemstellungen und Auffälligkeiten

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
08.01.2013
Aktenzeichen
2 ME 451/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2013, 10434
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2013:0108.2ME451.12.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 05.12.2012 - AZ: 5 B 4989/12
nachfolgend
OVG Niedersachsen - 28.01.2013 - AZ: 2 ME 41/13
OVG Niedersachsen - 30.01.2013 - AZ: 2 ME 41/13 (2 ME 451/12)
BVerfG - 04.03.2013 - AZ: 1 BvR 428/13

Fundstellen

  • DVBl 2013, 263-264
  • DÖV 2013, 320-321
  • NdsVBl 2013, 170-172
  • NordÖR 2013, 183
  • NordÖR 2013, 220-221
  • SchuR 2013, 79
  • SchuR 2013, 99-100
  • SchuR 2016, 123

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Die Pflicht der Schule nach § 55 Abs. 2 NSchG zum Führen eines Dialogs mit den Erziehungsberechtigten von Schülerinnen und Schüler greift nur, wenn sich bei diesen entwicklungspezifische Problemstellungen und Auffälligkeiten zeigen.

  2. 2.

    Die Erziehungsberechtigten von Schülerinnen und Schülern können nicht unter Hinweis auf die Pflicht der Schule nach § 55 Abs. 2 NSchG zum Führen eines Dialogs und zur Unterrichtung über die Bewertung von Leistungen und anderen wesentlichen Vorgängen nach § 55 Abs. 3 NSchG eine ins Einzelne gehende Auseinandersetzung über die Art und Weise sowie die Inhalte der Wissensvermittlung und der Leistungsbewertung seitens der Lehrkräfte einfordern.

Gründe

1

Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 5. Dezember 2012, mit dem dieses den Antrag der Antragsteller, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zur Beantwortung mehrerer näher ausgeführter Fragen in der e-mail vom 15. September 2012 zur Lernzielkontrolle vom 5. Juni 2012 im Fach Sachkundeunterricht ihrer Tochter F. (seinerzeit 3. Schuljahrgang) sowie zur Bewertung des Sozialverhaltens mit "C- entspricht den Erwartungen" ihrer Tochter G. im Zeugnis des Schuljahres 2011/2012 (seinerzeit 2. Schuljahrgang) zu verpflichten, abgelehnt hat, hat keinen Erfolg.

2

Der Senat verweist zunächst auf die zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts, die er sich zu Eigen macht (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Das Beschwerdevorbringen der Antragsteller, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Prüfungsumfang des Beschwerdegerichts bestimmt, rechtfertigt im Ergebnis keine abweichende Entscheidung.

3

Entgegen der Ansicht der Antragsteller fehlt es sowohl an einem Anordnungsgrund (dazu 2.) als auch an einem Anordnungsanspruch (dazu 1.).

4

1.

Die Antragsteller können ihr geltend gemachtes Begehren auf die Beantwortung von ihnen in ihrer an die Antragsgegnerin gerichteten e-mail vom 15. September 2012 formulierten Fragen und Einwendungen nicht mit Erfolg auf die - hier als Anspruchsgrundlage allein in Betracht kommenden - Vorschriften des § 55 Abs. 2 und 3 in Verbindung mit § 6 Abs. 5 Satz 2 NSchG stützen. Nach § 55 Abs. 2 NSchG führt die Schule den Dialog mit den Erziehungsberechtigten sowohl bezüglich der schulischen Entwicklung als auch des Leistungsstandes der Schülerinnen und Schüler, um entwicklungsspezifische Problemstellungen frühzeitig zu erkennen und gemeinsam mit dem Erziehungsberechtigten zu bewältigen. Gemäß § 55 Abs. 3 NSchG hat die Schule die Erziehungsberechtigten über die Bewertung von erbrachten Leistungen und andere wesentliche, deren Kinder betreffende Vorgänge in geeigneter Weise zu unterrichten. Nach § 6 Abs. 5 Satz 2 NSchG schließlich führt die Schule im 4. Schuljahrgang einen Dialog mit den Erziehungsberechtigten, damit diese eine am Kindeswohl orientierte Entscheidung über die geeignete weiterführende Schulform der Sekundarstufe I treffen können. Der Senat schließt sich der Einschätzung des Verwaltungsgerichts an, dass die Lehrkräfte, die die beiden Töchter der Antragsteller in dem Schuljahr 2011/2012 unterrichtet und deren Leistungen bewertet haben und im laufenden Schuljahr gegenwärtig unterrichten, ihren sich aus den genannten Vorschriften ergebenden Verpflichtungen in hinreichender Weise nachgekommen sind.

5

a)

Die in § 55 Abs. 2 NSchG niedergelegte Pflicht der Schule zum Führen eines Dialogs mit den Erziehungsberechtigten der Schülerinnen und Schüler dient der frühzeitigen Erkennung und gemeinsamen Bewältigung entwicklungsspezifischer Problemstellungen. Diese so umrissene Pflicht der Schule gilt daher nicht ausnahmslos und generell, sondern nur für den Fall eines Kindes, in dessen schulischer Entwicklung sich Auffälligkeiten zeigen (Littmann, in: Brockmann/Littmann/Schippmann, NSchG, Stand: April 2012, § 55 Anm. 6.1). Hieran fehlt es - soweit ersichtlich - bei beiden Töchtern der Antragsteller. Wie diese in ihrer Beschwerdebegründung selbst vortragen und wie aus dem Verwaltungsvorgang ersichtlich ist, handelt es sich bei beiden um gute Schülerinnen, die keine nennenswerten schulischen Probleme haben und bei denen sich keine gravierenden Auffälligkeiten in ihrem Leistungsstand sowie in ihrer sonstigen sozialen Entwicklung zeigen. Bestätigt wird diese Einschätzung für die ältere Tochter F. durch die Bewertung der Lernzielkontrolle vom 5. Juni 2012 im Fach Sachkundeunterricht mit der Note "2+" und der Zeugnisnote "2" in diesem Fach und die Bewertung des Sozialverhaltens der jüngeren Tochter G. mit der Kopfnote "C" im durchschnittlichen Bereich.

6

Ungeachtet dessen sind die Lehrkräfte der Antragsgegnerin ihrer sich aus dieser Vorschrift ergebenden Verpflichtung zum Führen eines Dialogs in ausreichendem Umfang nachgekommen. In welcher Form und Intensität sowie mit welchen Inhalten das Gespräch mit den Eltern geführt wird, entscheiden in erster Linie die Lehrkräfte nach § 50 Abs. 1 NSchG in eigener pädagogischer Verantwortung (Littmann, in: Brockmann u.a., a.a.O.). Die Antragsteller demgegenüber fordern nur vordergründig einen weiteren "Dialog" mit der Antragsgegnerin über den schulischen Leistungs- und Entwicklungsstand ihrer Kinder ein, sondern wenden sich - wie aus der Formulierung ihrer Fragen in ihrer e-mail vom 15. September 2012 und auch in der Begründung ihrer Beschwerde, ihre Kinder hätten ein "Recht auf wissenschaftlich fundierte Aufgabestellungen", deutlich wird - gegen die Art und die Weise sowie die Inhalte der Wissensvermittlung seitens der Lehrkräfte, die sie für ungeeignet halten. Derartige Einwände können die Erziehungsberechtigten nicht auf der Grundlage der Verpflichtung der Schule zum Dialog nach § 55 Abs. 2 NSchG zum Gegenstand eines "Zwiegesprächs" mit den Lehrkräften machen.

7

b)

Gleiches gilt im Ergebnis für die Pflicht der Antragsgegnerin nach § 55 Abs. 3 NSchG, die Antragsteller als Erziehungsberechtigte über die Bewertung von erbrachten Leistungen und andere wesentliche, deren Kinder betreffende Vorgänge in geeigneter Weise zu unterrichten. Diese Vorschrift beschränkt die Informationspflicht der Schule zwar nicht auf Vorgänge, die Probleme in der schulischen Entwicklung eines Kindes erkennen lassen, sondern richtet ihren Fokus auf "wesentliche Vorgänge", wobei die Bewertung von erbrachten Leistungen als ein (hauptsächlicher) Beispielsfall hervorgehoben wird. Die Lehrkräfte der Antragsgegnerin sind ihrer sich aus dieser Vorschrift ergebenden Verpflichtung, ihre Bewertungen der Leistungen der Töchter der Antragsteller nachvollziehbar zu begründen, sowohl vom Inhalt als auch der Art und Weise ihrer Mitteilungspflicht in hinreichendem Umfang nachgekommen.

8

Die Klassenlehrerin H. hat der Antragstellerin zu 2. in einem im Juni 2012 geführten Telefonat ihre Einschätzung des Sozialverhaltens von G. im Einzelnen erläutert und zudem haben die Antragsteller den ihre Tochter betreffenden Beobachtungsbogen zum Arbeits- und Sozialverhalten erhalten, in dem in den einzelnen Spalten die Fachlehrer ihre Bewertungen wiedergegeben haben. Für das Fach Sachkundeunterricht hat der Fachlehrer I. in Reaktion auf die e-mail der Antragsteller vom 15. September 2012 die mündlichen und schriftlichen Leistungen von F. und seine Bewertungen im Einzelnen in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 2. Oktober 2012 erläutert. Hierdurch ist der Informationspflicht der Antragsgegnerin aus § 55 Abs. 3 NSchG inhaltlich in ausreichendem Umfang genügt. Die Antragsteller demgegenüber kritisieren in ihrer e-mail vom 15. September 2012 (zum Teil in Frageform) diese ihnen offengelegte Bewertungen und sind mit diesen nicht einverstanden. Diese Kritik steht ihnen frei: weder § 55 Abs. 2 noch Abs. 3 NSchG gibt ihnen jedoch einen Anspruch darauf, dass sich die Schule oder einzelne Lehrkräfte nach sehr ins Einzelne gehenden Vorgaben der Antragsteller rechtfertigen. Damit wären die Begriffe des Dialogs und der Unterrichtung überspannt.

9

Ohne Erfolg wenden die Antragsteller schließlich ein, die Antragsgegnerin und ihre Lehrkräfte verweigerten sich einem "wirklichen Dialog" im persönlichen Gespräch. Die Schule und die Lehrkräfte sind nach § 55 Abs. 3 NSchG gehalten, ihren Informationspflichten "in geeigneter Weise" zu genügen. Bei der Einschätzung der Art und Weise der Erfüllung dieser Informationspflicht steht ihnen ein pädagogischer Gestaltungsspielraum zu, der gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. Es kann offen bleiben, wo die Grenzen dieses Gestaltungsspielraums zu ziehen sind, zumal sich eine derartige Grenzziehung oftmals abstrakten Definitionsbestimmungen entziehen wird, sondern vor allem von den Verhältnissen im Einzelfall abhängt. Jedenfalls im vorliegenden Fall der Antragsteller ist die Art und Weise der Informationsvermittlung seitens der Antragsgegnerin und ihrer Lehrkräfte im schriftlichen Weg von ihrem Gestaltungsspielraum abgedeckt, zumal die Antragsteller die Angebote der Antragsgegnerin zu persönlichen Gesprächen mit den Lehrkräften im Rahmen der Elternsprechtage wahrnehmen können und tatsächlich - zuletzt am 22. November 2012 - auch wahrnehmen. Die Antragsgegnerin ist mit Blick auf die sich aus den Verwaltungsvorgängen ersichtlichen unangemessenen Verhaltensweisen der Antragsteller nicht verpflichtet, über den bereits geleisteten zumutbaren Umfang hinaus weitere direkte persönliche Gespräche mit den Antragstellern zu führen, die nicht zielführend sind. Bezeichnenderweise haben sich die seinerzeitigen Elternvertreter der Klasse 2b in einer gegenüber der Niedersächsischen Landesschulbehörde abgegebenen Erklärung vom 2. Juli 2012 veranlasst gesehen, sich von den Äußerungen und Verhaltensweisen insbesondere des Antragstellers zu 1., die ausweislich des Inhalts der Verwaltungsvorgänge oftmals mit Drohungen und Beleidigungen verbunden sind, zu distanzieren.

10

c)

Dass die Antragsgegnerin und die Lehrkräfte sich einem Dialog über die anstehende Schulformentscheidung und die damit einhergehende Empfehlung der Grundschule gemäß § 6 Abs. 5 Sätze 1 und 2 NSchG mit den Antragstellern als Erziehungsberechtigte ihrer Tochter F., die sich gegenwärtig im 4. Schuljahrgang befindet, verweigern, ist nach dem oben Gesagten weder hinreichend dargelegt noch sonst ersichtlich.

11

2.

Ungeachtet des - wie ausgeführt - fehlenden Anordnungsanspruchs mangelt es dem Antrag der Antragsteller an einem Anordnungsgrund, d.h. der Eilbedürftigkeit der Sache. Es ist weder hinreichend vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sowohl die Bewertung des Sozialverhaltens von G. im 2. Schuljahr mit einer durchschnittlichen Note als auch die Bewertung der zweiten Lernzielkontrolle von F. im Fach Sachkundeunterricht im 3. Schuljahr mit einer guten Note auf die weitere schulische Laufbahn der beiden Kinder maßgeblichen negativen Einfluss haben. Die Leistungen von F. etwa in den Fächern Deutsch, Sachkundeunterricht und Religion liegen ausweislich der Stellungnahme der Fachlehrerin J. vom 29. November 2012 auch im aktuellen 4. Schuljahrgang im guten bis sehr guten Bereich.