Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.11.2022, Az.: 14 LC 4/22

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
03.11.2022
Aktenzeichen
14 LC 4/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59719
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 24.10.2019 - AZ: 15 A 3810/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Das rechtskräftige Urteil kann nicht mit der Behauptung angegriffen werden, das Gericht habe entscheidungserhebliche Umstände übersehen oder falsch gewürdigt.
2. Die Festlegung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs ist zunächst Befugnis und Aufgabe des pharmazeutischen Unternehmers. Auch ein vom pharmazeutischen Unternehmer nicht ausdrücklich festgelegter Gebrauch kann bestimmungsgemäß sein, wenn er sich aus der Sicht der einschlägigen Verkehrskreise als ein solcher darstellt.
3. Missbrauch und Fehlgebrauch eines Arzneimittels gehören grundsätzlich nicht zum bestimmungsgemäßen Gebrauch. Hat sich in besonders gelagerten Ausnahmefällen ein Missbrauch oder Fehlgebrauch in der Praxis so stark verbreitet, dass er einem in bestimmten Verkehrskreisen üblichen Gebrauch entspricht, und kann aus den Umständen geschlossen werden, dass der pharmazeutische Unternehmer dies zumindest billigend in Kauf nimmt, ist die Wertung eines solchen Gebrauchs als bestimmungsgemäß zulässig.
4. Soweit § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG bei der Nutzen-Risiko-Abwägung nunmehr bestimmte Fehlanwendungen einbezieht, sind angesichts der durch die Rechtslagenänderung entstandenen erheblichen Weite der Eingriffsgrundlage bereits auf der Tatbestandsseite erhöhte Anforderungen an die Konkretheit der Anhaltspunkte für ein Risiko außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs liegender Fehlanwendungen zu stellen.
5. Weicht ein Arzt bewusst von den Vorgaben zum bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Medikaments ab, fällt dies unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verantwortungssphären der Ärzte einerseits und der pharmazeutischen Unternehmer bzw. Apotheker andererseits sowie der ärztlichen Therapiefreiheit in aller Regel ausschließlich in die Verantwortungssphäre des Arztes.

Tenor:

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 15. Kammer - vom 24. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann eine Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in der Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Untersagung, amygdalinhaltige Arzneimittel zur oralen Anwendung in den Verkehr zu bringen.

Der Kläger ist Inhaber der F. Apotheke in A-Stadt, die zuvor von seinem Vater und davor von seinem Großvater betrieben wurde. Seit den 1960er Jahren stellt die F. Apotheke amygdalinhaltige Arzneimittel zur oralen Anwendung - Amygdalin 0,5 g Kapseln und Amygdalin 5% Tropfen - her. Amygdalin ist eine natürlich vorkommende Substanz und ist u.a. in bitteren Mandel- und Aprikosenkernen enthalten. Es handelt sich um ein Glykosid, aus dem sich durch enzymatische Spaltung Blausäure (Cyanid) bilden kann. Cyanid ist ein Zellgift, das die Zellatmung blockiert. Geringe Mengen an Cyanid werden vom menschlichen Körper toleriert und abgebaut. Ab einer bestimmten Konzentration versagt die Energiegewinnung der Zelle und eine „innere Erstickung“ ist die Folge. Das äußert sich beim Menschen in Kopfschmerzen, Unwohlsein, Schwindel, Atemnot, Erbrechen, starken Krämpfen sowie Bewusstlosigkeit und führt schlimmstenfalls zum Tod.

Im Jahr 2003 untersagte die damals noch existente und zuständige Bezirksregierung A-Stadt dem Vater des Klägers als damaligem Inhaber der F. Apotheke, Rezepturarzneimittel mit den Bestandteilen Amygdalin, Mandelonitril und Mandelonitrilverbindungen in den Verkehr zu bringen, weil sie diese im Hinblick auf eine mögliche Cyanid-Vergiftung für bedenklich i.S.d. § 5 Abs. 2 Arzneimittelgesetz - AMG - hielt. Dieses Verbot hob der seinerzeit für das Arzneimittelrecht zuständige 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im vom Kläger nach dem Tode seines Vaters fortgeführten Berufungsverfahren mit Urteil vom 31. Mai 2007 - 11 LB 350/05 - (veröffentlicht in juris) auf, weil es aufgrund eines unzutreffenden Sachverhalts und damit ermessensfehlerhaft erlassen worden sei. Das Urteil stützte sich auf ein Gutachten des gerichtlich bestellten Sachverständigen G. vom 31. Januar 2007, das zur Qualität (Identität und Reinheit) sowie Stabilität des von dem Kläger verwendeten Amygdalins eingeholt worden war und auf einer infrarotspektroskopischen Analyse sowie einem in-vitro-Digestionsmodell basierte. Zur Begründung heißt es in dem Urteil, dass die von seinen Anhängern behauptete „selektive Wirksamkeit“ von Amygdalin zwar nicht belegt sei. Nach dem Gutachten könne eine Vergiftung durch Freisetzung von Cyanid-Ionen jedoch bei oraler Einnahme ausgeschlossen werden, sofern sichergestellt werde, dass nicht gleichzeitig im Magen-Darm-Trakt Amygdalin-spaltende Enzymaktivitäten vorhanden seien. Das Urteil ging davon aus, dass der Kläger hochgereinigtes Amygdalin in pharmazeutischer Qualität verwendet, bei der Abgabe auf Kontraindikationen hinweist und im Rahmen einer Beratung sonstige Verhaltensanweisungen gibt.

Ende des Jahres 2014 veröffentlichten das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte - BfArM - (Review vom 30. September 2014, in dem Amygdalin als bedenklich i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG eingestuft wurde) und die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft - AkdÄ - (vom 12. Dezember 2014, mit Fallbericht über die lebensbedrohliche Cyanid-Intoxikation eines mit Amygdalin behandelten 4-jährigen Jungen) Artikel über die Gefährlichkeit von amygdalinhaltigen Arzneimitteln.

Daraufhin hörte die Beklagte den Kläger mit Schreiben vom 18. Dezember 2014 zu einem Verbot des Inverkehrbringens von amygdalinhaltigen Arzneimitteln zur oralen Anwendung an.

Am 24. Februar 2015 veröffentlichte das Bundesamt für Risikobewertung - BfR - eine an zwölf Teilnehmern durchgeführte Humanstudie, die die Cyanidfreisetzung aus verschiedenen Lebensmitteln (bitteren Aprikosenkernen, Persipan, Leinsamen und Maniok) untersuchte. Nach dem Verzehr der Lebensmittel wurde der Cyanid-Spiegel im Blut bestimmt. Einer der Probanden (Testperson Nr. 5) nahm einmal 120 mg und ein anderes Mal 387 mg reines Amygdalin aus einer vom Kläger stammenden Kapsel ein. Im ersten Fall wurde ein Cyanid-Höchstwert von 3,4 μM (= μmol/l Blut), im zweiten Fall von 29,2 μM erreicht.

Mit Bescheid vom 22. Juni 2015 untersagte die Beklagte dem Kläger, amygdalinhaltige Arzneimittel zur oralen Anwendung in den Verkehr zu bringen, weil diese Arzneimittel bedenklich seien, da deren - nunmehr durch die Veröffentlichungen bzw. Stellungnahmen des BfArM, der AkdÄ sowie des BfR ausreichend belegte - Schädlichkeit ihren nicht vorhandenen Nutzen bei weitem überwiege. Das Verkehrsverbot erscheine auch verhältnismäßig.

Hiergegen hat der der Kläger am 24. Juli 2015 einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung (15 B 3811/15) seiner am selben Tag erhobenen Klage (15 A 3810/15) beim Verwaltungsgericht Hannover gestellt.

Mit Beschluss vom 25. November 2015 hat das Verwaltungsgericht den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Es hat angenommen, die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei ordnungsgemäß begründet worden und die Verbotsverfügung sei offensichtlich rechtmäßig. Das Urteil des 11. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 stehe ihrem Erlass nicht entgegen, da zwischenzeitlich relevante Änderungen der Sachlage (in Form neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Grad der Schädlichkeit von Amygdalin unter Berücksichtigung der Aktivität bestimmter Darmbakterien) und der Rechtslage (in Gestalt einer Anpassung des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG an Unionsrecht) eingetreten seien. Diese Änderungen führten hier zur Eröffnung von Untersagungsermessen, welches auch ordnungsgemäß - insbesondere verhältnismäßig - ausgeübt worden sei. In dem daraufhin von dem Kläger durchgeführten Beschwerdeverfahren hat der seinerzeit für das Arzneimittelrecht zuständige 13. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 25. November 2015 mit Beschluss vom 29. September 2016 (- 13 ME 210/15 -, veröffentlicht in juris) geändert und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederhergestellt. Er hat im Wesentlichen ausgeführt, die Tatbestandsvoraussetzungen der Untersagungsverfügung nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG seien nicht erfüllt, da die Rechtskraft des Urteils des 11. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 dem entgegenstünde (§ 121 Nr. 1 VwGO). Jedenfalls überschreite die Verfügung der Beklagten die rechtlichen Grenzen der Ermessensausübung auf der Rechtsfolgenseite der Norm. Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidung verwiesen.

Der Kläger hat im erstinstanzlichen Klageverfahren im Wesentlichen vorgetragen, der vorliegende Sachverhalt sei identisch mit demjenigen, den das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht im Jahr 2007 abschließend entschieden habe. Das Urteil sei rechtlich bindend. Die aktuelle Stellungnahme des BfArM und die Studie des BfR zu Amygdalin rechtfertigten keine neue Bewertung der Sachlage.

Der Kläger hat beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 2015 aufzuheben.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat den Bescheid verteidigt und im Wesentlichen vorgetragen, das BfArM halte es auf Grundlage wissenschaftlicher Daten für bewiesen, dass auch bei der Verwendung hochgereinigten Amygdalins wegen der Ausschüttung von ß-Glucosidase durch Darmbakterien das Risiko der Freisetzung von Cyanid bestehe. Dies stimme mit der BfR-Studie überein.

Mit Urteil vom 24. Oktober 2019 hat das Verwaltungsgericht Hannover den Bescheid der Beklagten vom 22. Juni 2015 aufgehoben. Zur Begründung hat es auf die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (Beschluss vom 29. September 2016) Bezug genommen. Das Vorbringen der Beklagten im Rahmen des Klageverfahrens habe keine neuen Aspekte ergeben. Das Verwaltungsgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

Zur Begründung ihrer Berufung führt die Beklagte aus, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Dessen ungeachtet rechtfertige sich die strittige Untersagungsverfügung auch bei Abstellen auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung. Aufgrund einer neuen Sachlage, aus der sich hinreichende Anhaltspunkte für eine Toxizität der vom Kläger hergestellten und vertriebenen amygdalinhaltigen Arzneimittel ergäben, sei die Rechtskraft der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 durchbrochen. Die Prämisse der Entscheidung, eine Vergiftung durch die Freisetzung von Cyanid-Ionen sei auszuschließen, sofern sichergestellt werde, dass nicht gleichzeitig im Magen-Darm-Trakt amygdalinspaltende Enzymaktivitäten vorhanden seien, sei mittlerweile unstrittig widerlegt. Im Gegenteil belege die am 6. November 2014 - gemeint wohl 24. Februar 2015 - veröffentlichte Studie des BfR exakt für das vom Kläger verwendete Amygdalin, dass bereits nach oraler Gabe vergleichsweise geringer Mengen (120 mg bzw. 387 mg Amygdalin) steigende Blutcyanidkonzentrationen gemessen würden. Der begründete Verdacht schädlicher Wirkungen sei bereits gegeben, wenn eine wissenschaftlich plausible Annahme eines Zusammenhangs zwischen der unerwünschten Begleiterscheinung und der Arzneimittelanwendung nicht ausgeräumt werden könne. Die Anforderungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für den Nachweis eines Mindestmaßes eines Schädlichkeitsrisikos seien vor dem Hintergrund, dass kein wissenschaftlich hinreichend belegter therapeutischer Nutzen des streitgegenständlichen Arzneimittels vorliege, zu hoch. Da es sich um ein nicht zugelassenes Rezepturarzneimittel handle, fehle es - im Gegensatz zu Fertigarzneimitteln - mit Blick auf das Toxizitätsprofil an klinischen Studien. Das Rezepturarzneimittel werde gewissermaßen unmittelbar durch seine Anwendung beim Menschen „getestet“. Es müssten letztlich zehn Millionen Patienten mit dem konkreten Rezepturarzneimittel versorgt werden, um eine gesicherte Aussage zu seltenen Nebenwirkungen und zum Risiko einer Schädigung von Patienten durch seltene Nebenwirkungen machen zu können. Der Frage, ob es negative Erfahrungsberichte von Patienten gebe, werde ein unangemessen hoher Stellenwert beigelegt. Dass der Kläger seiner auch nach dem Berufsrecht der Apotheker im Interesse der Arzneimittelsicherheit bestehenden Meldeverpflichtung nicht nachkomme, habe sie, die Beklagte, unter Hinweis auf die ausgebliebenen Meldungen unerwünschter Arzneimittelwirkungen zu jedwedem Arzneimittel innerhalb von 55 Jahren Apothekenbetrieb schon mehrfach aufgezeigt. Im klinischen Alltag sei die Diagnose einer Cyanidvergiftung einer Vielzahl an Hürden ausgesetzt, so dass das Argument in der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, dass über Dritte wie etwa Notärzte, Notfallaufnahmen in Krankenhäusern keine Fälle gesundheitlicher Schädigungen infolge der Einnahme amygdalinhaltiger Arzneimittel an die Öffentlichkeit gelangt seien, nicht überzeuge. Zudem handle es sich bei Amygdalin-Konsumenten meist um schwer erkrankte Krebspatienten, bei denen wegen der Grunderkrankung und der erfahrungsgemäßen Nebenwirkungen infolge parallel eingenommener Chemotherapeutika der aktuelle Befund schwer einzuordnen sei. Hinreichende Anhaltspunkte für schädliche Wirkungen der vom Kläger in den Verkehr gebrachten amygdalinhaltigen Arzneimittel zur oralen Anwendung ergäben sich vor allem aus der Studie des BfR, nach der bei der Testperson Nr. 5 nach der Einnahme von 387 mg (= 3/4 des Kapselinhalts) erhöhte Cyanidwerte im Blut (29,2 μM (= μmol/l Blut)) nachgewiesen worden seien. Soweit ihr, der Beklagten, in der Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorgehalten worden sei, sie sei falsch von kumulierten Cyanidwerten auf der Grundlage von drei Kapseln als Tagesdosis ausgegangen und habe dabei die körpereigene Entgiftung nicht berücksichtigt, sei diese Prämisse wissenschaftlich nicht haltbar, weil sie die Gesetzmäßigkeiten der Toxikologie und der Enzymkinetik ausblende, wie das BfArM in seiner Stellungnahme vom 29. August 2017 (S. 10 ff.) herausgearbeitet habe. Es könne zudem auch nicht davon ausgegangen werden, dass Patienten je nach Körpergewicht den notwendigen Einnahmeabstand für den Cyanidabbau einhielten. Das Vertriebsverbot fuße entgegen der Annahme des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts auch nicht auf der Annahme falscher Toxizitätswerte. Darüber gebe es keine wissenschaftliche Uneinigkeit. Vielmehr stimmten die vom BfArM benannten Grenzwerte mit denen des BfR und gleichermaßen mit denen der Europäischen Arzneimittel Agentur (EMA), des European Centre for Ecotoxicology of Chemicals (ECETOC) und der European Food Safety Authority (EFSA) und auch anderer wissenschaftlicher Institutionen überein. Die EU-weit gültigen Toxizitätsgrenzen seien verbindlich und könnten daher nicht einfach in Frage gestellt werden. Gemessen an diesen Werten setze sich ein Patient bei der Einnahme nur einer Kapsel 500 mg dem nicht vertretbaren Risiko einer Vergiftung aus. Auch wenn nicht jeder Amygdalin-Konsument die Nebenwirkungen einer Cyanidvergiftung erleide, sei für die Nutzen-Risiko-Bilanz bei der Bewertung des konkreten Rezepturarzneimittels entscheidend, dass es keinen Nutzen gebe und daher schon geringe Risiken zu einer negativen Bilanz führten. Die Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu erhöhten Anforderungen an die Konkretheit für ein Risiko von Fehlanwendungen und die Annahme, konkrete Risiken für Fehlanwendungen lägen nicht vor, überzeugten nicht. Die Begründung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts für die erhöhten Anforderungen bei Fehlanwendungen sei nicht schlüssig, weil es in dem Tatbestand immer noch um eine Nutzen-Risiko-Bilanz gehe, die für einschränkende Überwachungsmaßnahmen negativ ausfallen müsse. Das Risiko von Fehlanwendungen sei im konkreten Fall auch naheliegend, weil es keinen definierten bestimmungsgemäßen Gebrauch gebe. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht unterstelle eine klare Vorgabe an die Patienten, die 500 mg Amygdalin-Kapseln des Klägers dreimal täglich mit zeitlichem Abstand von mehreren Stunden einzunehmen. Sie, die Beklagte, habe konkrete Belege dafür, dass Ärzte, die ihr Amygdalin aus der Apotheke des Klägers bezögen, mehr als drei Kapseln Amygdalin 500 mg verordneten. Das Vertriebsverbot sei auch ermessensfehlerfrei verfügt worden. Die vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht erwogenen alternativen Mittel, wie Etikettierungs-, Warn- oder sonstige Informations- und Beratungsvorgaben kämen nicht in Betracht, weil sie nicht geeignet seien, die Gefährdung der Patienten auszuschließen. Dies zeige auch der mittlerweile vom Kläger eingeführte „Beipackzettel“, der im Übrigen auch noch fehlerhaft sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 15. Kammer - vom 24. Oktober 2019 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das erstinstanzliche Urteil und den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Er trägt ergänzend vor, auf den maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung komme es ohnehin nicht an, da alle vorgetragenen Fallstudien berücksichtigt worden seien. Es bestünden nach wie vor keine Anhaltspunkte, dass die bestimmungsgemäße Anwendung der Präparate mit dem begründeten Verdacht unvertretbar schädlicher Wirkungen verbunden sei. Es komme auch allein nur darauf an, ob unmittelbar bezogen auf das von ihm hergestellte Präparat solche Anhaltspunkte vorlägen. Die Erkenntnisse aus Studien, welche nicht mit seinem Präparat durchgeführt worden seien, seien nicht übertragbar. Es sei unbestritten, dass ein Nutzen der verfahrensgegenständlichen Arzneimittel nach den Maßstäben der evidenzbasierten Medizin noch nicht nachgewiesen sei. Dies sei bei Rezepturarzneimitteln auch nicht erforderlich, so dass bereits ein geringes Risiko für die Einstufung als bedenkliches Arzneimittel ausreiche. Allerdings müsse auch dieses geringe Risiko von der Beklagten nachgewiesen werden. Die Ausführungen der Beklagten, dass Befürworter alternativmedizinischer Behandlung mit Amygdalin negative Erfahrungen und Komplikationen nicht meldeten, sei rein spekulativ. Die Studie des BfR gebe keinen Aufschluss über das Ausmaß zu befürchtender schädlicher Wirkungen. Die von der Beklagten zugrunde gelegte Skala der ECETOC sei zudem kein offizielles Tabellenwerk. Schließlich sei die Verfügung auch nicht verhältnismäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die Beiakten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die nach Zulassung durch das Verwaltungsgericht statthafte und auch sonst zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Der Bescheid vom 22. Juni 2015 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

I. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts. Bei dem ausgesprochenen Verbot des Inverkehrbringens von amygdalinhaltigen Arzneimitteln zur oralen Anwendung handelt es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Ein Dauerverwaltungsakt ist in seinen Wirkungen auf Dauer angelegt und dadurch gekennzeichnet, dass er sich nicht in einem einmaligen Ge- oder Verbot oder in einer einmaligen Gestaltung der Rechtslage erschöpft, sondern ein auf Dauer berechnetes oder in seinem Bestand vom Verwaltungsakt abhängiges Rechtsverhältnis begründet oder inhaltlich verändert (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.2.1997 - 1 C 29.95 -, juris Rn. 23 u. Beschl. v. 9.7.2013 - 3 B 100.12 -, juris Rn. 4; NdsOVG, Urt. v. 29.11.2019 - 11 LB 462/18 -, juris Rn. 27). Auch wenn es - wie das Verwaltungsgericht zu Recht festgestellt hat - keine prozessrechtliche Norm gibt, wonach es bei einer Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt für die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung stets auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, jedoch bei einem Dauerverwaltungsakt stets auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ankommt, ist grundsätzlich von diesen Regeln auszugehen, es sei denn, das materielle Recht regelt etwas Abweichendes (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.8.2005 - 6 C 15.04 -, juris Rn. 20 m.w.N. u. Beschl. v. 23.11.1990 - 1 B 155.90 -, juris Rn. 3 m.w.N.). Eine solche abweichende Regelung ist dem hier anzuwendenden Arzneimittelgesetz nicht zu entnehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.10.2000 - 3 C 32.99 -, juris Rn. 10 zum maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtlage beim Versandverbot wegen festgestellter Verstöße i. S. d. § 69 Abs. 1 Satz 1 AMG). Anders als beispielsweise im Gewerberecht, in dem trotz des auf Dauer angelegten Gewerbeverbots (§ 35 Abs. 1 S. 1 GewO) angesichts des gesetzlich vorgesehenen Wiedergestattungsverfahrens (§ 35 Abs. 6 GewO) auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung abgestellt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.4.2015 - 8 C 6.14 -, juris Rn. 15) oder in der vom Verwaltungsgericht zitierten Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 20. April 2016 (11 LB 29/15, veröffentlicht in juris), in der auf eine abweichende materielle Regelung im Tierschutzgesetz abgestellt wird, gibt es eine solche vergleichbare Regelung im AMG nicht.

II. Der Bescheid vom 22. Juni 2015, mit dem dem Kläger das Inverkehrbringen von amygdalinhaltigen Arzneimitteln zur oralen Anwendung untersagt wird, ist rechtwidrig.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG in der Fassung vom 28. Januar 2022 (BGBl. I. S. 4530) kann die zuständige Behörde u.a. das Inverkehrbringen eines Arzneimittels untersagen, wenn der begründete Verdacht besteht, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen. Dabei setzt § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG hinsichtlich der schädlichen Wirkungen keinen naturwissenschaftlichen Kausalitätsnachweis voraus, andererseits reichen bloße Vermutungen über Besorgnisse aber auch nicht aus (vgl. NdsOVG, Urt. v. 31.5.2007 - 11 LB 350/05 -, juris Rn. 70 m.w.N.). Die Vertretbarkeit ist anhand einer Nutzen-Risiko-Abwägung zu bestimmen. Dabei sind bei einem nicht belegten (therapeutischen) Nutzen eines Arzneimittels geringere Anforderungen an das Mindestmaß der Schädlichkeitsrisiken zu stellen („je-desto“-Abwägung) und es kann in diesem Zusammenhang bei zu befürchtenden gravierenden Folgen ein geringes Ausmaß an Wahrscheinlichkeit ausreichen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 11 m.w.N. u. Urt. v. 31.5.2007 - 11 LB 350/05 -, juris Rn. 70).

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG sind nicht erfüllt. Dem steht die Rechtskraft des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 - 11 LB 350/05 - entgegen (§ 121 Nr. 1 VwGO). Mit dieser Entscheidung war ein zwischen den Beteiligten des vorliegenden Verfahrens streitiges Verkehrsverbot von amygdalinhaltigen Arzneimitteln des Klägers, das sich u.a. auch auf die hier streitgegenständliche orale Anwendung bezogen hatte, rechtskräftig aufgehoben worden. Das Vorliegen der Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG wurde verneint, da ein begründeter Verdacht, dass das Arzneimittel schädliche Wirkungen habe, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgingen, nicht bestehe.

Nach § 121 Nr. 1 VwGO binden rechtskräftige Urteile, soweit über den Streitgegenstand entschieden worden ist, die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Die Bindungswirkung schafft ein unabdingbares, von Amts wegen zu beachtendes Prozesshindernis für eine erneute gerichtliche Überprüfung des Anspruchs, über den bereits entschieden wurde. Sie erstreckt sich im Falle einer erfolgreichen Anfechtungsklage nicht nur auf den seinerzeit angefochtenen, sondern gleichfalls auf einen nachfolgenden Verwaltungsakt (vgl. OVG RP, Beschl. v. 8.9.2014 - 2 B 10327/14 -, juris Rn. 49 m.w.N.). Das Institut der Rechtskraft hätte nur geringen Wert, wenn die tatsächlichen und rechtlichen Grundlagen der gerichtlichen Entscheidung jederzeit in einem weiteren Verfahren in Frage gestellt werden könnten. Die tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Wertungen erwachsen zwar nicht selbstständig in Rechtskraft. Sie sind aber insoweit bestandsfest, als sie den Subsumtionsschluss des Gerichts tragen. Das rechtskräftige Urteil kann nicht mit der Behauptung angegriffen werden, das Gericht habe entscheidungserhebliche Umstände übersehen oder falsch gewürdigt. Insoweit präkludiert die Rechtskraft späteres Vorbringen der Beteiligten. Von dieser Präklusionswirkung erfasst sind alle Umstände, die zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt objektiv bereits vorlagen und bei natürlicher Betrachtungsweise dem von dem Streitgegenstand erfassten Lebenssachverhalt zuzurechnen sind. Unerheblich ist, worauf die Nichtberücksichtigung oder fehlerhafte Würdigung des Streitstoffs im Einzelfall beruht. Die Präklusionswirkung greift nicht nur ein, wenn das Gericht seiner Ermittlungsaufgabe oder die Beteiligten ihren Mitwirkungspflichten nur unzureichend nachgekommen sind, sondern grundsätzlich auch dann, wenn weitere entscheidungserhebliche Umstände erst nachträglich erkennbar geworden sind (vgl. zum Ganzen: Clausing/Kimmel, in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Februar 2022, § 121 Rn. 69).

Zweck der Vorschrift ist somit, es zu verhindern, dass die aus einem festgestellten Tatbestand hergeleitete Rechtsfolge, über die durch ein Urteil rechtskräftig entschieden wurde, erneut zum Gegenstand eines Verfahrens zwischen denselben Beteiligten gemacht wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.12.1992 - 1 C 12.92 -, juris Rn. 12). Die Rechtskraftwirkung dient dem Rechtsfrieden und der Rechtssicherheit, indem sie widerstreitende gerichtliche Entscheidungen über dieselbe Streitsache vermeidet (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.12.1992 - 1 C 12.92 -, juris Rn. 12,15). Dabei wird die Möglichkeit, dass infolge der Rechtskraft eine unrichtige Entscheidung maßgeblich bleibt, grundsätzlich geringer veranschlagt als die Rechtsunsicherheit, die ohne die Rechtskraft bestehen würde (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.12.1992 - 1 C 12.92 -, juris Rn. 15; OVG RP, Beschl. v. 8.9.2014 - 2 B 10327/14 -, juris Rn. 50 m.w.N.). Die im Erstprozess unterlegene Behörde darf den obsiegenden Kläger daher nicht erneut in eine Prozesssituation bringen, in der dieselben Sach- und Rechtsfragen zu beantworten sind. Die unterlegene Behörde hat zur Bewahrung des Rechtsfriedens die gegen sie ergangene gerichtliche Entscheidung loyal zu beachten (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.3.2010 - 4 B 13.10 -, juris Rn. 5).

Die Rechtskraftbindung eines Urteils entfällt jedoch, wenn sich nach Erlass des rechtskräftigen Urteils die Sach- und Rechtslage entscheidungserheblich ändert (vgl. BVerwG, Urt. v. 8.12.1992 - 1 C 12.92 -, juris Rn. 13; OVG LSA, Beschl. v. 8.6.2021 - 2 L 127/19 -, juris Rn. 42; Wöckel, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 45).

Zwar hat sich die Rechtslage im Vergleich zu derjenigen, die dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 zugrunde lag, mit der Neufassung des Arzneimittelgesetzes am 26. Oktober 2012 geändert. Im Zuge dieser Rechtsänderung wurde der einschränkende Zusatz in § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG „bei bestimmungsgemäßem Gebrauch“ gestrichen. Während nach der alten Rechtslage eine Maßnahme gemäß § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG voraussetzte, dass das betroffene Arzneimittel bedenklich i. S. v. § 5 Abs. 2 AMG war, ist dies nach der neuen Rechtslage nicht mehr erforderlich. Daraus folgt, dass anders als in der damals geltenden Fassung des AMG bei der Abwägung zwischen Nutzen und Risiken eines Arzneimittels im Rahmen der Vertretbarkeitsprüfung nicht mehr nur Schädlichkeitsrisiken in den Blick zu nehmen sind, die bei bestimmungsgemäßer Anwendung des Medikaments bestehen, sondern jedenfalls auch solche schädlichen Wirkungen einzubeziehen sind, die bei bestimmten Fehlanwendungen - nämlich bei einer Überdosierung, einem Fehlgebrauch, einem Missbrauch oder bei Medikationsfehlern - drohen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 25.11.2015 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 16).

Diese Änderung wirkt sich hier allerdings nicht in entscheidungserheblicher Weise aus.

Soweit sich die alte und neue Rechtlage - Risiken schädlicher Wirkungen bei bestimmungsgemäßen Gebrauch - decken, ist eine entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage nicht anzunehmen (dazu unter 1). Soweit nach der neuen Rechtslage auch Risiken schädlicher Wirkungen bei bestimmten Fehlanwendungen zu berücksichtigen sind, liegen die Tatbestandsvoraussetzungen hierfür bereits nicht vor (dazu unter 2.a)). Selbst wenn diese vorlägen, wäre die Untersagungsverfügung jedenfalls ermessensfehlerhaft (dazu unter 2.b)).

 1. Eine entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage ist nach dem rechtskräftigen Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 31. Mai 2007 - 11 LB 350/05 - nicht eingetreten. Die Beklagte hat weder im Verwaltungsverfahren noch im gerichtlichen Verfahren nach der zuvor genannten Entscheidung bekanntgewordene wissenschaftliche Erkenntnisse beigebracht, die die Annahme rechtfertigen, bei bestimmungsgemäßem Gebrauch der streitgegenständlichen Arzneimittel bestehe der begründete Verdacht, dass diese schädliche Wirkungen haben, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgehen.
Als bestimmungsgemäßen Gebrauch legt der Senat die vom Kläger in seiner Packungsbeilage vorgesehene Einnahme von „Tropfen: 3x30 Tr. in etwas Wasser oder Saft kurz vor einer Mahlzeit“ sowie „Kapseln: 3x1 Kps. tgl. zu einer Mahlzeit bei empfindlichen Magen, ansonsten etwa 10-15 min vorweg“ zugrunde. Der Sichtweise der Beklagten, ein bestimmungsgemäßer Gebrauch sei insbesondere aufgrund der Verordnungspraxis bestimmter Ärzte abweichend hiervon zu bestimmen bzw. lasse sich nicht ermitteln, folgt der Senat nicht.
Die Festlegung des bestimmungsgemäßen Gebrauchs ist zunächst Befugnis und Aufgabe des pharmazeutischen Unternehmers (vgl. Hofmann, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 21). Diese Festlegung erfolgt regelmäßig über die Angaben in der Packungsbeilage, in der Fachinformation an den Arzt und Apotheker und durch Einbeziehung in das unternehmerische Marketing (vgl. Weber, in Weber/Kornbrobst/Maier, BTMG, 6. Aufl. 2021, § 5 AMG Rn. 32). Einerseits wird vertreten, damit sei der bestimmungsgemäße Gebrauch abschließend beschrieben. Andererseits - das entspricht wohl auch der herrschenden Meinung - wird der Gebrauch eines Arzneimittels, der nicht in der Packungsbeilage beschrieben ist, jedoch dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Medizin entspricht, ebenfalls als bestimmungsgemäßer Gebrauch gewertet (vgl. Hofmann, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 21). Hiervon ausgehend ist auch ein vom pharmazeutischen Unternehmer nicht ausdrücklich festgelegter Gebrauch bestimmungsgemäß, wenn er sich aus der Sicht der einschlägigen Verkehrskreise (sog. „Verkehrsauffassung“) als ein solcher darstellt (vgl. Weber, in Weber/Kornbrobst/Maier, BTMG, 6. Aufl. 2021, § 5 AMG Rn. 34; Freund, in MüKo zum StGB, 4. Aufl. 2022, § 5 AMG Rn. 9; Phohl, in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtl. Nebengesetze, 241. EL Mai 2022, § 5 AMG Rn. 8; Fuhrmann, in Kloesel/Cyran, AMG, 135 AL 2019, § 5 Anm. 21).
Missbrauch und Fehlgebrauch eines Arzneimittels gehören grundsätzlich nicht zum bestimmungsgemäßen Gebrauch. Ausnahmen davon werden allerdings in Rechtsprechung und Literatur in Sonderfällen angenommen.Wenn der Missbrauch oder Fehlgebrauch einen so großen Umfang einnähme, dass von einem weit verbreiteten Gebrauch zu sprechen sei, und wenn demzufolge von einer Kenntnis und auch Billigung in den Verkehrskreisen auszugehen sei, könne auch der Fehlgebrauch dem bestimmungsgemäßen Gebrauch zugerechnet werden. Diese Auslegung trifft jedoch im Wortlaut des Gesetzes auf Grenzen, weil sie den Fehlgebrauch oder gar den missbräuchlichen Gebrauch entgegen dem üblichen Sprachgebrauch als bestimmungsgemäß wertet. Zudem verschiebt sie die typisierte Abgrenzung der Risikosphären zu Lasten des pharmazeutischen Unternehmers und zugunsten des Anwenders, der beim Missbrauch stets und beim sonstigen Fehlgebrauch in der Regel bewusst die durch die Packungsbeilage festgelegten Indikationen oder sonstigen Anwendungsbeschränkungen missachtet. Die Wertung eines solchen Gebrauchs als bestimmungsgemäß dürfte tatsächlich nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen zulässig sein, in denen sich ein Fehlgebrauch in der Praxis so stark verbreitet hat, dass er einem in bestimmten Verkehrskreisen üblichen Gebrauch entspricht, und in denen aus den Umständen geschlossen werden kann, dass der pharmazeutische Unternehmer dies zumindest billigend in Kauf nimmt (vgl. zum Ganzen: Hofmann, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 21 m.w.N.).
Dies zugrunde gelegt, richtet sich der bestimmungsgemäße Gebrauch - auch unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung - nach der Packungsbeilage des Klägers. Insbesondere liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass sich nach der allgemeinen Verkehrsauffassung ein bestimmter Fehl- oder Missbrauch so nachhaltig festgesetzt hat, dass er als bestimmungsgemäßer Gebrauch anzusehen wäre.
Keine andere Einschätzung rechtfertigt der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des BGH vom 27. November 2019 (3 StR 233/19, veröffentlicht in juris). Der BGH hat in diesem Urteil im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens im Zusammenhang mit Doping-Missbrauchstatbeständen (nur) für die für Dopingzwecke im Sport hergestellten Präparate festgestellt, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch sich nach dem üblichen Gebrauch der Konsumenten richte (BGH, Urt. v. 27.11.2019 - 3 StR 233/19 -, juris Rn. 36). Da diese Präparate (ausschließlich) hochdosiert zum Muskelaufbau verwendet würden, sei der bestimmungsgemäße Gebrauch der Präparate mit dem auf diesem Markt vorgesehenen Missbrauch gleichzusetzen (vgl. BGH, Urt. v. 19.9.17 - 1 StR 72/17 -, juris Rn. 17). Ein damit vergleichbarer Fall ist für die streitgegenständlichen Präparate jedoch nicht anzunehmen. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten, die ärztlichen Rezepte, auf deren Vorlage der Kläger die streitgegenständlichen Präparate abgebe, zeugten von einem beliebigen Verordnungsverhalten der Therapeuten und begründeten den Schluss, der bestimmungsgemäße Gebrauch liege nicht nur bei „3x1 Kps. tägl.“. Die von der Beklagten vorgelegten Rezepte (Bl. 754 ff. d. GA Bd. V), denen keine oder höhere Dosierungsangaben zu entnehmen sind, rechtfertigen hier (noch) nicht die Annahme einer nachhaltigen Festsetzung eines bestimmten Fehl- und Missbrauchs wie im oben genannten Dopingfall. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass zwar grundsätzlich derjenige, der ein Arzneimittel in den Verkehr bringt - hier der Kläger als Apotheker -, dafür verantwortlich ist, dass das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch keine (unvertretbaren) schädlichen Wirkungen hat. Weichen aber der Arzt oder der wirksam aufgeklärte Konsument von dem festgelegten bestimmungsgemäßen Gebrauch ab, so fallen die schädlichen Wirkungen zuvorderst in ihren Verantwortungsbereich (vgl. Freund, in MüKo zum StGB, 4. Aufl. 2022, § 5 AMG Rn. 7). Es fällt mithin in aller Regel nicht in den Verantwortungsbereich des Apothekers, sondern in den des behandelnden Arztes, wenn dieser eine höhere Dosis verschreibt, als der bestimmungsgemäße Gebrauch vorgibt. Es ist auch nicht unüblich, dass die Dosierung bestimmter Arzneimittel auf den Patienten angepasst wird und diese Dosis gegebenenfalls von der in der Packungsbeilage angegebenen Dosis abweicht. Da die ärztliche Therapie in der Verantwortung des Arztes erfolgt, kann der Apotheker die Erforderlichkeit, Zweckmäßigkeit oder Vertretbarkeit einer Arzneimitteltherapie im konkreten Einzelfall auch nicht beurteilen (vgl. Hofmann, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 10). Der bloße Umstand einer abweichenden ärztlichen Verordnungspraxis allein begründet auch deshalb keinen besonders gelagerten Ausnahmefall, in denen sich ein Fehlgebrauch in der Praxis so stark verbreitet hat, dass er einem in bestimmten Verkehrskreisen üblichen Gebrauch entspricht.
Etwas anderes gilt auch nicht mit Blick auf das Verordnungsverhalten der beiden Ärzte H. und I.. Diese Ärzte empfehlen bzw. verschreiben nach dem Vorbringen der Beklagten willkürlich und pauschal - ohne vorheriges Arzt-Patientengespräch - mehr als die Einnahme von drei Kapseln täglich. Zwar hat der BGH in einer Entscheidung vom 11. August 1999 (2 StR 44/99, juris) im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens im Zusammenhang mit Schlankheitspillen den bestimmungsgemäßen Gebrauch nach Maßgabe der von zwei Ärzten ausgestellten Atteste festgelegt. Diese beiden Ärzte hatten massenweise und undifferenziert Kapseln an abnehmwillige Patienten (auch Normalgewichtige und Kinder) ohne zureichende Untersuchung und Überwachung und unter Vernachlässigung von Kontraindikationen verschrieben. Anders als im vorliegenden Fall bezog sich die von den angeklagten Apothekern getroffene Gebrauchsbestimmung jedoch speziell auf die Einnahme der Kapseln durch Patienten nur dieser zwei Ärzte. Die mit Wissen und Wollen der angeklagten Apotheker geübte Verordnungspraxis wurde daher als Teil der Gebrauchsbestimmung gesehen (vgl. zum Ganzen: BGH, Beschl. v. 11.8.1999 - 2 StR 44/99 -, juris Rn. 4). Dies ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Der Kläger gibt zwar auch an die Patienten der Ärzte H. und I. die streitgegenständlichen Präparate auf Vorlage eines Rezepts ab, allerdings - und das ist der ausschlaggebende Unterschied - nicht ausschließlich an diese. Er hat zahlreiche weitere Abnehmer, die Rezepte von Ärzten vorlegen, denen ein massenweises und undifferenziertes Verschreiben der streitgegenständlichen Präparate nicht unterstellt werden kann und auch nicht von der Beklagten unterstellt wird. Die Verschreibungspraxis der beiden Ärzte (H. und I.) ist daher keine Verordnungspraxis, die als Teil der Gebrauchsbestimmung anzusehen ist.
Schließlich liegt hier auch keine Konstellation vor, in der aufgrund der Komplexität der Angaben zu Anwendungsgebieten und Gegenanzeigen, die ein pharmazeutischer Unternehmer macht, für den Anwender ein bestimmungsgemäßer Gebrauch kaum zu ermitteln und damit das Auftreten von Fehlern geradezu unvermeidbar ist (vgl. dazu Fuhrmann, in Kloesel/Cyran, AMG, 135 AL 2019, § 5 Anm. 21). In der Packungsbeilage des Klägers wird der bestimmungsgemäße Gebrauch klar definiert, auf Wechselwirkungen hingewiesen und festgestellt, dass es keine Gegenanzeigen gibt. Dass einige Ärzte eine höhere Dosis als die in der Packungsbeilage genannte Höchstdosis verordnen, führt jedenfalls nicht zu der Annahme, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch kaum zu ermitteln ist.
Eine von der Rechtskraftbindung des früheren Urteils befreiende entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage liegt nicht vor. Dies wäre dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 8.6.2021 - 2 L 127/19 -, juris Rn. 42; BVerwG, Urt. v. 18.9.2001 - 1 C 7.01 -, juris Rn. 11). Nicht ausreichend ist, wenn nur Erkenntnislücken, die bereits berücksichtigt wurden, geschlossen werden (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 Rn. 116), sich nachträglich neue Erkenntnisse über zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorhandene Tatsachen oder im rechtskräftigen Urteil nicht berücksichtigte Beweismittel finden, oder wenn der Beteiligte sein Vorbringen aufgrund neuer Beweismittel „besser“ beweisen kann. Die Beibringung dieser Beweismittel lässt die Rechtskraft grundsätzlich unberührt, sofern nicht der Betroffene erst nach Prozessende die Möglichkeit hatte, diese beizubringen (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 Rn. 117; Wöckel, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 47).
Eine - von der Beklagten allein geltend gemachte - Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse dürfte regelmäßig als Änderung der Sachlage zu werten sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.12.2001 - 4 C 2.00 -, juris Rn. 22 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG; Lindner, in BeckOK, VwGO, 62. Ed. 1.7.2022, § 121, Rn. 54). Damit wird der als objektiv angesehene Wissensstand im Nachhinein verändert (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.12.2001 - 4 C 2.00 -, juris Rn. 22 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG). Inwieweit die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse als Änderung der Sachlage zu werten ist, ist anhand des Einzelfalls zu ermitteln (vgl. Clausing/Kimmel, in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Febr. 2022, § 121, Rn. 72).

a) Eine entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage ist durch die gewonnenen (wissenschaftlichen) Erkenntnisse aus der am 24. Februar 2015 veröffentlichten Humanstudie des BfR („Bioavailibility of cyanide after consumption of a single meal of foods containing high levels of cyanogenic glycosides: a crossover study in humans“ v. Abraham/Buhrke/Lampen) nicht eingetreten. Dieser Studie sind keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu entnehmen, die die Schlussfolgerung der rechtskräftigen Entscheidung, die streitgegenständlichen Präparate des Klägers seien nicht schädlich, durchgreifend in Frage stellen.

In der durchgeführten Studie des BfR nahm die Testperson (Nr. 5) u.a. einmal 120 mg und ein anderes Mal 387 mg Amygdalin (sowie ein weiteres Mal 120 mg Amygdalin zusammen mit 10 Gramm Süßmandeln) - ohne gleichzeitige Gabe von exogener β-Glucosidase - ein. Das dabei verwendete reine Amygdalin stammte aus der Apotheke des Klägers (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 565; Bl. 186 d. BA 001). Bei der Einnahme von 120 mg Amygdalin wurde ein Cyanid-Höchstwert von 3,4 μM (= μmol/l Blut) und bei 387 mg ein Cyanid-Höchstwert von 29,2 μM bei der Testperson (Nr.5) erreicht (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 568 Tabelle 2, S. 569 Grafik 5; Bl. 189, 190 d. BA 001).

Diese Feststellungen zugrunde gelegt, ist die Prämisse der rechtskräftigen Entscheidung vom 31. Mai 2007 (11 LB 350/05), dass eine Vergiftung durch die Freisetzung von Cyanid-Ionen nahezu ausgeschlossen werden könne, wenn auf die gleichzeitige Einnahme β-Glucosidase-haltiger Lebensmittel und Präparate verzichtet werde, zwar nicht (mehr) erfüllbar, da offensichtlich auch durch endogene Faktoren eine Abspaltung von Cyanid im menschlichen Körper erfolgen kann (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 35). Allerdings sind die aus der Studie gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse weder neu noch aussagekräftig genug, um eine neue entscheidungserhebliche Sachlage anzunehmen.

Anders als die Beklagte meint, stellen die Vermutung einer darmbakteriellen Aktivität bzw. der Umstand, dass allein durch endogene Faktoren eine Abspaltung von Cyanid im menschlichen Körper erfolgen kann, für sich genommen schon keine neuen Erkenntnisse dar. Denn dieses Phänomen (Abspaltung von Cyanid durch endogene Faktoren, ggf. durch Darmbakterien) war bereits vor der rechtskräftigen Entscheidung vom 31. Mai 2007 in Wissenschaftskreisen bekannt und wurde dort diskutiert (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 37; BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 561; Bl. 182 BA 001). Zwar blendet das Gutachten von G. aus dem Jahre 2007, das der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde gelegt wurde, dieses Phänomen aus und befasst sich nicht weiter mit der Frage, unter welchen Bedingungen diese damals schon bekannte Enzymaktivität im Magen-Darm-Trakt vorkommen und welche Wirkungen sie entfalten kann. Das BfArM hat in seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 204 der GA Bd. II) dementsprechend eingehend dargelegt, dass G. in seinem Gutachten zu Unrecht diesen Gesichtspunkt nicht berücksichtigt und stattdessen die beobachteten Toxizitäten ausnahmslos Verunreinigungen oder der Einnahme exogener ß-Glucosidase zugeschrieben habe. Im Kern macht die Beklagte damit aber lediglich geltend, der damalige Gutachter - und damit zugleich der 11. Senat, der seiner Entscheidung dessen Feststellungen zugrunde gelegt hat - habe entscheidungserhebliche Umstände übersehen oder falsch gewürdigt. Mit einer solchen Argumentation kann ein rechtskräftiges Urteil - wie bereits ausgeführt - gerade nicht erfolgreich angegriffen werden (vgl. Clausing/Kimmel, in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Febr. 2022, § 121, Rn. 69; Wöckel, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 47).

Auch im Übrigen ergeben sich aus der am 24. Februar 2015 veröffentliche BfR-Studie keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Schädlichkeit des Amygdalins des Klägers. Bei dieser Beurteilung ist in Rechnung zu stellen, dass die die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse eine Durchbrechung der Rechtskraft nur rechtfertigen können, wenn sie ein solches Gewicht haben, dass sie die der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen nachhaltig erschüttern (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 28.7.1989 - 7 C 78.88 -, juris Rn. 12 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG). Fachliche Meinungen, wissenschaftliche Ansichten und bloße Folgerungen sachkundiger Personen genügen für sich gesehen nicht, um von einer neuen wissenschaftlichen Erkenntnis auszugehen, die eine Sachlagenänderung begründen kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 28.7.1989 - 7 C 78.88 -, juris Rn. 12 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG). Ebenso wenig kann ein nachträglich erstattetes Sachverständigengutachten ohne Weiteres als Änderung der Sachlage gewertet werden (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.5.1981 - 8 B 89.80 u. 8 B 93/80 -, juris Rn. 1 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG). Vielmehr müssen die neuen Tatsachen geeignet sein, die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu widerlegen (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 Rn. 116). Dabei ist es nach Auffassung des Senats zwar nicht erforderlich, dass wissenschaftlicher Konsens über die neue Tatsache besteht, es muss sich allerdings in Ansehung des mit einer rechtskräftigen Entscheidung geschaffenen Rechtsfriedens und des damit verbundenen Vertrauens in die Beständigkeit des Rechts um einen erkennbaren wissenschaftlichen „Umbruch“ bzw. Erkenntnisfortschritt handeln.

Diese Voraussetzungen werden durch die am 24. Februar 2015 veröffentliche BfR- Studie nicht erfüllt. Es lassen sich aus der Studie keine neuen belastbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse bzw. Belege für ein entscheidungserheblich höheres Schädlichkeitsrisiko des streitgegenständlichen Präparats bei bestimmungsgemäßer Anwendung ableiten. Das gilt sowohl hinsichtlich der Kapseln mit einer Füllmenge von jeweils 500 mg Amygdalin (hierzu unter aa)) als auch hinsichtlich der Tropfen, die 5 g Amygdalin je 100 ml Lösung enthalten (hierzu unter bb)).

aa) Nachdem die Testperson Nr. 5 eine Menge von 387 mg reinen Amygdalins (= weniger als ein Kapselinhalt) eingenommen hatte, wurden bei ihr Blutcyanidwerte von maximal 29,2 µM gemessen, ohne dass körperliche Anzeichen einer Cyanid-Intoxikation beobachtet werden konnten. Die Beklagte geht bei einem ganzen Kapselinhalt (500 mg) und einer zugunsten des Klägers angenommenen linearen Funktion von einem hochgerechneten Blutcyanidhöchstwert von 37,7 µM aus. Unter Hinweis auf die von der Europäischen Arzneimittel Agentur (EMA), dem European Centre for Ecotoxicology of Chemical (ECETOC) und der European Food Safety Authority (EFSA) zugrunde gelegten Tabellenwerte, ordnet sie - wie auch das BfArM in seiner Stellungnahme vom 12. Mai 2015 (Bl. 175 d. GA Bd. II) - dem hochgerechneten Wert von 37,7 µM das Stadium des Übergangs von einer „milden“ Cyanidvergiftung (mit veränderten Vitalparametern) zu einer „moderaten“ Vergiftung (mit Bewusstseinsveränderungen) zu. Bei der Einnahme der Tagesdosis (3 x 500 mg Amygdalin) nimmt sie einen Blutcyanidhöchstwert von 113,2 µM (3x 37,7 µM) an und ordnet diesen in den Bereich „schwerer“ Vergiftungen ein (vgl. BfArM Stn. v. 12.5.2015, Bl. 175 d. GA Bd. II).

Der Senat hält diese Berechnung und die daraus gezogene Schlussfolgerung auf die Schädlichkeit des Amygdalins für nicht hinreichend belastbar. Der nur an einer Testperson durchgeführten Studie mit weniger als einem Kapselinhalt Amygdalin des Klägers fehlt für einen solchen Rückschluss bereits die wissenschaftliche Validität. Es entspricht nicht wissenschaftlichen Standards, ein aussagekräftiges wissenschaftliches Ergebnis aus einem Versuch mit nur einer Testperson zu folgern. Hinzu kommt, dass diese eine Testperson keine Tagesdosis von 3 x 500 mg Amygdalin bzw. noch nicht einmal eine Einzeldosis von 1 x 500 mg Amygdalin eingenommen hat, was zumindest hinsichtlich ihrer Person eine Aussage über die damit verbundenen Blutcyanidwerte hätte geben können. Dementsprechend zweifeln die Urheber der BfR-Studie selbst an der Generalisierbarkeit ihrer Studie. Hierzu hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren (13 ME 210/15, juris Rn. 45) bereits zutreffend Folgendes ausgeführt:

„[…] zweifeln sowohl die Urheber der BfR-Humanstudie als auch das Verwaltungsgericht selbst an der Generalisierbarkeit der bei lediglich einer Testperson erzielten Studienergebnisse (z.B. wegen der genetisch bedingt oder krankheitsbedingt von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Darmflora, S. 571) und geben zu bedenken, dass die Ausschläge im Hinblick auf die Cyanid-Höchstwerte bei zusätzlicher β-Glucosidase-Aufnahme höher ausfielen als bei der Einnahme reinen Amygdalins und bloßem endogenem β-Glucosidase-Vorkommen (S. 573). Ferner machen sie auf große Unterschiede zwischen den bei den einzelnen Teilnehmern der Studie beobachteten Messwerten aufmerksam und wollen im Übrigen dem Einfluss des körpereigenen Enzyms Rhodanase und dem damit einhergehenden Entgiftungsprozess im menschlichen Körper - der sich u.a. an den binnen drei Stunden absinkenden Blutcyanidwerten in Grafik 5 auf S. 569 nachvollziehen lässt - weitere nicht näher quantifizierte konzentrationsmindernde Bedeutung beimessen.“

Der Senat verkennt nicht, dass - wie bereits in der rechtskräftigen Entscheidung des 11. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (Urt. v. 31.5.2007 - 11 LB 350/05 -, juris Rn. 71) zugrunde gelegt - der Nutzen des streitgegenständlichen Amygdalins nicht erwiesen ist und im Rahmen der Nutzen-Risiko-Abwägung auch nur geringe Risiken umso eher die Annahme einer Bedenklichkeit rechtfertigen können, je weniger wirksam ein Arzneimittel ist. Allerdings ist dieser Gesichtspunkt unter Berücksichtigung des hier maßgeblichen, für die Durchbrechung der Rechtskraft geltenden Prüfungsmaßstabes zu vernachlässigen. Denn der Senat hat keine Vollprüfung der Voraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG vorzunehmen, sondern sich in einem vorgelagerten Schritt allein mit der Frage zu befassen, ob im Vergleich zum damaligen Zeitpunkt neue wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die - wie bereits ausgeführt - geeignet sein müssen, die der rechtskräftigen Entscheidung zugrunde gelegten Tatsachen nachhaltig zu erschüttern. Es muss sich um einen erkennbareren wissenschaftlichen „Umbruch“ bzw. Erkenntnisfortschritt handeln, was bei der durchgeführten Ein-Mann-Studie zum streitgegenständlichen Präparat des Klägers bereits aus den zuvor genannten Gründen nicht der Fall ist. Allerdings hätten die erzielten Ergebnisse der durchgeführten Studie, und zwar messbare Blutcyanidwerte bei der Testperson Nr. 5 nach der Einnahme von Amygdalin ohne Zugabe von exogener ß-Glucosidase, durchaus einen Anstoß geben können, weiter zu ermitteln. Derartige weitere Ermittlungen sind jedoch nicht durch das Gericht anzustellen, da der Beklagten die Darlegungs- und Beweispflicht obliegt, die - für eine Durchbrechung der Rechtskraft erforderlichen - neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse beizubringen, welche konkrete Risiken aufzeigen, die aus der Anwendung des Arzneimittels folgen (vgl. dazu auch OVG NRW, Urt. v. 29.1.2014 - 13 A 2730/12 -, juris Rn. 36 zur Zulassungsverlängerung für homöopathisches Arzneimittel; BVerwG, Urt. v. 1.12.2016 - 3 C 14.15 -, juris Rn. 39).

Die von der Beklagten aus der BfR Humanstudie (v. 24.2.2015, S. 561; Bl. 182 d. BA 001) gezogenen Schlussfolgerungen begegnen aus Sicht des Senats unabhängig von den vorhergehenden Ausführungen weiteren Bedenken.

Zunächst ist die von der Beklagten berechnete Kumulation der Cyanid-Höchstwerte nach der Einnahme einer Tagesdosis (3 Kapseln à 500 mg) wegen der körpereigenen Entgiftung infolge der Rhodanase-Aktivität nicht nachvollziehbar. Nach der BfR-Studie, auf die sich auch das BfArM unter den Punkten 1.3 und 2 in seiner Stellungnahme vom 29. August 2017 (Bl. 737 u. Bl. 740 der GA Bd. V) bezieht, beträgt die Rate der spontanen Entgiftung (= Detoxifikationsrate) für Cyanid bei Menschen etwa 1 μg/kg Körpergewicht pro Minute. Bei einem Körpergewicht von 60 kg bedeutet das etwa 3,6 mg Cyanid pro Stunde (1 μg (=0,001 mg) x 60 kg x 60 Min). Nach den Ergebnissen der BfR- Studie hat die Testperson (Nr. 5) den maximalen Blutcyanidspiegel schon 70 Minuten nach der Einnahme von 387 mg Amygdalin erreicht (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 568 Tabelle 2; Bl. 189 d. BA 001); drei Stunden nach der Einnahme des Amygdalins war der Blutcyanidspiegel der Testperson (Nr. 5) im Vergleich zum Maximalpegel wieder erheblich gesunken (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, Grafik 5, S. 569; Bl. 190 d. BA 001). Die Beklagte lässt in ihrer Hochrechnung - entgegen der gewonnenen Erkenntnisse aus der BfR-Studie - den Abbau des Amygdalins unberücksichtigt. Vielmehr kumuliert sie die Werte von einer Tablette mit der Tagesdosis von drei und ignoriert die Abbauwerte gänzlich (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 561; Bl. 182 d. BA 001: „Therefore, the rate of absorption plays an important role in cyanide toxicity, and even an acute lethal dose is tolerated without symptoms if it is split into even parts ingested, for example, hourly over the day“).

Die Beklagte macht unabhängig davon geltend, es könne nicht davon ausgegangen werden, dass Patienten je nach Körpergewicht den notwendigen Einnahmeabstand für den Cyanidabbau einhielten. Lege man 28,4 mg Cyanid pro Kapselinhalt zugrunde (vgl. Schriftsatz v. 10.10.2019; Bl. 973 der GA Bd. VI), wäre bei einem Körpergewicht von 60 kg eine Detoxifikationszeit von 7,8 Stunden (28,4 mg : 3,6 mg) und bei höherem Körpergewicht (z.B. 80 kg) von 5,9 Stunden erforderlich.

Festzuhalten ist zunächst, dass bei einer hier zugrunde zu legenden Tagesdosis von drei Kapseln im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs davon auszugehen ist, dass die Patienten die Tabletten in einem mehrstündigen Abstand über den Tag verteilt einnehmen. Ein mehrstündiger zeitlicher Abstand ist damit sichergestellt. Hinzu kommt, dass die in der BfR-Studie genannte Detoxifikationszeit nicht pauschal anhand der von der Beklagten vorgenommenen Berechnung auf die Anwendung des Amygdalins des Klägers übertragbar ist. Es ist anhand der Daten dieser Studie schon nicht hinreichend sicher abschätzbar, welche Cyanidkonzentration bei der Einnahme einer ganzen Kapsel (500 mg) überhaupt erreicht würde, so dass sich schwerlich eine Aussage darüber treffen lässt, wieviel der Körper in welcher Zeit an Cyanid abbauen muss, um eine schädliche Wirkung zu verhindern. Es bleibt insbesondere unklar, wieviel Cyanid sich bei der Einnahme einer Kapsel überhaupt im menschlichen Körper anreichert. In den Kapseln ist 28,5 mg gebundenes Cyanid enthalten; es ist nicht nachzuvollziehen, warum ohne weiteres davon ausgegangen werden sollte, dass auch der Abspaltungswert 28,5 mg Cyanid pro Kapselinhalt beträgt. Valide Aussagen dazu, wieviel Cyanid durch die Abspaltung tatsächlich entsteht, gibt es nicht. Die Freisetzung von Cyanid aus Amygdalin hängt vielmehr von vielen Faktoren ab, wie z.B. individuelle Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmflora (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 559, 571; Bl. 180,192 d. BA 001). Aus dem Versuch mit der Testperson (Nr.5) ergibt sich nichts anderes. Sie erreichte bei der einmaligen Einnahme von 120 mg Amygdalin einen Cyanid-Höchstwert von 3,4 μM und bei der einmaligen Einnahme von 387 mg einen Cyanid-Höchstwert von 29,2 μM. Dafür, dass bei der Einnahme von 500 mg - nach Vorbringen der Beklagten zugunsten des Klägers linear steigend betrachtet - der Cyanid-Höchstwert bei 37,7 µM läge, gibt es keine belastbaren Erkenntnisse.

Unklar ist auch, wann welche körperlichen Reaktionen bei einer bestimmten Cyanidkonzentration im Blut voraussichtlich eintreten (sog. Toxizitätswerte). Nachdem körperliche Reaktionen bei der Testperson (Nr. 5) nach der Einnahme von 387 mg Amygdalin gänzlich ausgeblieben sind, kann nicht darauf geschlossen werden, dass diese bei einer höheren Dosis (500 mg Amygdalin) einträten. Aus der Abwesenheit körperlicher Reaktionen bei einer geringeren Dosis kann nicht überzeugend auf deren Auftreten bei einer höheren Dosis geschlossen werden (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 44). Gegen eine solche Schlussfolgerung spricht auch, dass die Testperson (Nr. 5) selbst bei einem höheren maximalen Blutcyanidwert als dem von der Beklagten für eine Kapsel Amygdalin hochgerechneten, nämlich bei 42,3 µM nach der Einnahme von 100 g Leinsamen, keine klinischen Symptome einer Cyanid-Vergiftung aufgewiesen hat (vgl. BfR-Humanstudie v. 24.2.2015, S. 572; Bl. 193 d. BA 001). Aufgrund dieses - wenngleich aufgrund der Einnahme eines anderen cyanogenen Glykosids - erreichten Wertes kann jedenfalls nicht ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass ein auf Amygdalin zurückgehender Peak von 37,7 µM schädliche Körperreaktionen verursachen wird (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 43). Die Feststellung der Beklagten, dass bei Amygdalin-Patienten, die in der Regel schwer an Krebs erkrankt seien, mindestens mit der gleichen Blutcyanidkonzentration wie bei der Testperson (Nr. 5) zu rechnen sei, da die Testperson (Nr. 5) ein gesunder Proband ohne besondere Risikofaktoren gewesen sei (vgl. BfArM Stn. v. 29.8.2017, Punkt 1.5 Bl. 742 d. GA Bd. V) gründet unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen ebenfalls nicht auf einer hinreichend belastbaren Erkenntnislage. Dies gilt auch für das Vorbringen der Beklagten, die Detoxifikationszeit sei bei der betroffenen Patientengruppe länger. Auch für diese Patientengruppe ist zudem ungeklärt, ab welchem Cyanidwert überhaupt körperliche Anzeichen einer Cyanid-Intoxikation vorlägen.

Soweit die Beklagte auf ein Tabellenwerk der European Centre for Ecotoxicology of Chemical (ECETOC) verweist und vorträgt, dass dieses auch von der Europäischen Arzneimittel Agentur (EMA), der European Food Safety Authority (EFSA) und weiteren anderen wissenschaftlichen Institutionen und Behörden zugrunde gelegt werde, mag die Annahme zwar naheliegen, dass es sich dabei um ein aussagekräftiges Tabellenwerk handelt. Allerdings führt dies zu keiner anderen Beurteilung, da - wie bereits ausgeführt - es an der Repräsentativität der Studie zum Amygdalin des Klägers fehlt. Hinzu kommt, dass bei der Testperson Nr. 5 jegliche Symptome ausgeblieben sind. Nach dem Tabellenwerk liegen bei 19 - 38 μM = 0,5 - 1,0 mg/l eine milde Vergiftung (veränderte Vitalparameter), bei 38 - 96 μM = 1,0 - 2,5 mg/l eine moderate Vergiftung (Bewusstseinsveränderungen) und bei 96 - 115 μM = 2,5 - 3,0 mg/l schwere Vergiftung (Koma) und > 115 μM = > 3,0 mg/l gewöhnlich letal, vor. Bei der Testperson Nr. 5 sind bei dem gemessenen Cyanid-Höchstwert von 29,2 μM (nach der Einnahme von 387 mg Amygdalin) und 42,3 µM (nach der Einnahme von 100 g Leinsamen) jegliche Symptome ausgeblieben, obwohl nach der zugrunde gelegten Tabelle bei diesen Werten veränderte Vitalparameter bzw. Bewusstseinsveränderungen zu erwarten gewesen wären. Auch wenn sich die körperliche Reaktion von Mensch zu Mensch unterscheidet, reichen die gewonnen Erkenntnisse aus der BfR-Humanstudie nicht aus, um ein Mindestmaß an Schädlichkeitsrisiko wissenschaftlich zu belegen.

bb) Hinsichtlich der streitgegenständlichen Tropfen verhält es sich nicht anders. Es kann der BfR-Humanstudie nichts zu schädlichen Wirkungen bei der Einnahme der streitgegenständlichen Tropfen entnommen werden (hierzu im Einzelnen: NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 49). Die Beklagte hat im Berufungsverfahren hierzu auch nichts vorgetragen.

b) Eine neue entscheidungserhebliche Sachlage ergibt sich auch nicht durch (neue) negative Erfahrungsberichte. Ob der Vorlage negativer Erfahrungsberichte durch Patienten, so wie die Beklagte vorbringt, in den vorhergehenden Entscheidungen ein unangemessen hoher Stellenwert beigemessen worden ist, kann dahingestellt bleiben. Da es für den Entfall der Rechtskraftbindung einer neuen entscheidungserheblichen Sachlage bedarf, ist hier nur zu berücksichtigen, ob (neue) Erfahrungsberichte vorliegen, und nicht, aus welchem Grund negative Erfahrungsberichte nicht an die Öffentlichkeit gelangt sind. Neue (negative) Erfahrungsberichte zu dem Amygdalin des Klägers liegen hier aber gerade nicht vor.

Obgleich es nicht darauf ankommt, hält auch der Senat es für eher wahrscheinlich, dass bei einem seit 50 Jahren auf dem Markt befindlichen Präparat wie dem des Klägers, negative Erfahrungsberichte - über welchen Informationskanal auch immer (Betroffene, Familie/Freunde des Betroffenen, Krankenhaus, Arzt usw.) - an die Öffentlichkeit gelangt wären.

c) Auch die weiteren von der Beklagten angeführten Studien, Reviews und Fallbeispiele führen zu keiner neuen (entscheidungserheblichen) Sachlage. Diese genannten Erkenntnisse sind nicht neu bzw. nicht repräsentativ. Hierzu im Einzelnen:

aa) Soweit die Beklagte auf die Veröffentlichung des BfArM vom 30. September 2014 von Lilienthal, „Amygdalin - fehlende Wirksamkeit und schädliche Nebenwirkungen“ (BfArM-/PEI-Bulletin, Anlage K2, Bd. 002) Bezug nimmt, mit der Amygdalin als „bedenklich“ i.S.d. § 5 Abs. 2 AMG eingestuft wird, handelt es sich - wie das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht bereits im Beschwerdeverfahren zu Recht ausgeführt hat - um einen bloßen Review, d.h. um eine Zusammenstellung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Fallbeispielen, die zum größten Teil aus der Zeit bis zum 31. Mai 2007 stammen und daher keine neue Sachlage darstellen (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 55). Dies gilt auch für die sog. Moertel-Studie von 1981/1982. Eine „Neubewertung“ der Ergebnisse der Studie, wie das BfArM in seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 193 f. der GA Bd. I) fordert, ist hinsichtlich der bereits vor der rechtskräftigen Entscheidung vorliegenden Veröffentlichungen und Fallbeispiele nicht eröffnet, da diese Tatsachen damals jedenfalls hätten bekannt sein können und daher keine neue Sachlage darstellen. Ob diese im Rahmen der rechtskräftigen Entscheidung richtig berücksichtigt wurden, ist keiner gerichtlichen Prüfung zugänglich, da - wie bereits ausgeführt - rechtskräftige Urteile nicht mit der Behauptung angegriffen werden können, das Gericht habe entscheidungserhebliche Umstände übersehen oder falsch gewürdigt (vgl. Clausing/Kimmel, in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Febr. 2022, § 121, Rn. 69; Wöckel, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 47).

Es sind lediglich drei Fallbeispiele in dem BfArM-Review vom 30. September 2014 aufgeführt, die aus der Zeit nach der rechtskräftigen Entscheidung im Jahr 2007, und zwar aus den Jahren 2008, 2009 und 2011, stammen (vgl. S. 11, Tabelle 2; Anlage K2, Bd. 002). Diese erweisen sich jedoch nicht als repräsentativ (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris, Rn. 56). Dem Fall aus dem Jahre 2008 ist schon keine Dosis und Darreichungsform des Amygdalins zu entnehmen. Angaben zur Dauer der Anwendung sowie zur Blutcyanidkonzentrationen fehlen ebenfalls. Zudem wird als Begleittherapie die Gabe hochdosierten Vitamins C beschrieben. In dem Fall aus dem Jahre 2009 ging es um eine intravenöse Gabe, so dass eine Vergleichbarkeit bereits an der Darreichungsform scheitert. In dem Fall aus dem Jahre 2011 wird die Einnahme von 0,5 g Amygdalin und als Begleittherapie die Gabe von Rosuvastatin (Medikament gegen Fettstoffwechselstörungen) beschrieben, so dass die gezeigten - milden - Nebenwirkungen (verminderter Bewusstseinsstatus, flache Atmung) nicht eindeutig der Amygdalinbehandlung zugeordnet werden können. Auch hier fehlen Angaben zur Dauer der Anwendung und Blutcyanidkonzentration.

bb) Die weiteren von der Beklagten benannten wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die zeitlich nach der rechtskräftigen Entscheidung erfolgten, führen zu keinen neuen Erkenntnissen. Insoweit hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren (13 ME 210/15, juris Rn. 58ff.) ausgeführt:

„[…] Der von der Antragsgegnerin zitierte Cochrane-Review von Milazzo u.a., “Laetrile treatment for cancer“, Cochrane Database of Systematic Reviews 2015, Issue 4, Art. No. CD005476, bezieht sich zwar entgegen der Auffassung des Antragstellers nicht nur auf Laetrile, sondern auch auf Amygdalin, zeitigt jedoch keine neuen Erkenntnisse, etwa auf der Basis von Studien; er beschränkt sich vielmehr darauf zu betonen, für eine Wirksamkeit dieser Wirkstoffe gegen Krebs gebe es keinen Beweis, und wegen des Risikos einer Cyanid-Vergiftung sei von ihrer Anwendung abzuraten (a.a.O., S. 5).

Der von Lilienthal/BfArM (a.a.O.) zitierte Kurzaufsatz von Ginter/Simko, “False claims about so called vitamin B 17“, vom 20. Januar 2013, Bratisl Lek Listy 2013: 114(4), S. 241, räumt ein, zu Vitamin B 17 (Amygdalin) als alternatives Krebsmedikament bislang keine Studien und Veröffentlichungen herausgebracht zu haben, und gibt im Ergebnis nur eine Kurzzusammenfassung älterer, vor dem 31. Mai 2007 erschienener Aufsätze anderer Autoren zu diesem Thema.

Die ebenfalls von Lilienthal/BfArM (a.a.O.) zitierte Veröffentlichung von Shim u.a., “Metabolites of amygdalin under simulated human digestive fluids“ aus Dezember 2010, Int J Food Sci Nutr. 2010; 61(8):770-779, vollzieht anhand eines in-vitro-Digestionsmodells die Phasen der Umwandlung von Amygdalin in seine Metaboliten (insbesondere Prunasin, Mandelonitril und Hydroxy-Mandelonitril) sowie deren Spaltung bzw. Zerfall in verschiedenen oberen Abschnitten eines (simulierten) menschlichen Magen-Darm-Trakts nach. Dabei habe sich erwiesen, dass bereits bestimmte im oberen Verdauungstrakt ausgeschüttete Verdauungsenzyme „wie“ β-Glucosidase wirkten und Amygdalin in Glucose und Prunasin hydrolysierten (a.a.O., S. 773). Aufgrund der im Versuch gemachten Beobachtungen wird von den Autoren vermutet, dass das aus letzterem Stoff nach weiterer Glucose-Abspaltung im Dünndarm schließlich gebildete Hydroxy-Mandelonitril zunächst ungespalten von der Dünndarmschleimhaut aufgenommen wird und eine weitere Spaltung bzw. ein Zerfall in Benzaldehyd und Cyanid erst in tieferen Darmabschnitten, bedingt durch Aktivitäten der Darmflora, auftreten kann (a.a.O., S. 776). Dies alles stellt, wie oben angesichts der Veröffentlichungen von Carter und Newton aus den 1980er Jahren (jeweils a.a.O.) bereits ausgeführt, keine wesentlich neue Erkenntnis dar; allenfalls ist hierbei die Vermutung zum Einfluss einer darmbakteriellen Aktivität etwas detaillierter oder deutlicher lokalisiert beschrieben worden.“

Diesem Vorbringen schließt sich der Senat nach Prüfung der Sach- und Rechtslage an. Die Beklagte hat zudem keine weiteren durchgreifenden Einwendungen hiergegen geltend gemacht.

cc) Das von der Beklagten weiter aufgeführte Fallbeispiel eines vierjährigen, an Krebs erkrankten Jungen vom 12. Dezember 2014 („Cyanid-Intoxikation nach oraler Amygdalin-Behandlung“) erweist sich ebenfalls nicht als repräsentativ. Insoweit verweist der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren (13 ME 210/15, juris Rn. 61f.), denen er sich anschließt:

„Aus diesem Vorfall lassen sich keine neuen Erkenntnisse i.S.e. allgemeinen Schädlichkeit des vom Antragsteller hergestellten Amygdalins bei bestimmungsgemäßer Anwendung ableiten.

Der Junge hatte einmalig 500 mg eines Amygdalin-Präparates eingenommen und 15 min später die Symptome einer Cyanid-Intoxikation gezeigt, die nach Gabe des Antidots Natriumthiosulfat abklangen. Wie das BfArM für die Antragsgegnerin in Punkt 3.4 seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 179 der GA Bd. I) erläutert hat, handelte es sich bei dem angewendeten Präparat um Novodalin, das zu 99,5% Amygdalin enthält. Vieles spricht dafür, dass die beschriebene Behandlung nicht den bestimmungsgemäßen Gebrauch wiedergibt; denn dieser hätte zwingend erfordert, auf eine zusätzliche Gabe der (neben weiterem Amygdalin) auch das Spaltenzym β-Glucosidase enthaltenden bitteren Aprikosenkerne zu verzichten. Das entspricht den Erkenntnissen, die bereits der Sachverständige G. in seinem im Berufungsverfahren 11 LB 350/05 erstatteten Gutachten vom 31. Januar 2007 gewonnen und niedergelegt hatte. Zwar hatte das BfArM in seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (a.a.O.) eine derartige Gleichzeitigkeit der Einnahmen noch bezweifelt. In ihrer Beschwerdeerwiderung vom 9. Februar 2016 (Bl. 407 f. der GA Bd. II) hat die Antragsgegnerin jedoch ausdrücklich eingeräumt, dass sie die Fallbeschreibung im Deutschen Ärzteblatt 2014 - wie der Senat - dahin deutet, dass der Junge während der Einnahme von Amygdalin (ab dem 5. Tag der Behandlung) weiterhin - wie an den ersten vier Tagen seiner Behandlung - täglich ca. zehn bittere Aprikosenkerne gekaut habe. Die gleichzeitige Gabe bitterer Aprikosenkerne unter oraler Einnahme von Amygdalin lässt die Behandlung bei summarischer Prüfung nach alledem als fehlerhaft erscheinen und erklärt die in dem Bericht wiedergegebene Symptomatik wie auch die Besserung nach Gabe von Natriumthiosulfat und Bindung des Cyanids in Thiocyanat ohne Weiteres. Für eine alleinige Behandlung mit reinem Amygdalin des Antragstellers folgt daraus nichts. Das weitere streitige Vorbringen der Beteiligten zu diesem Vorfall (etwa der Versuch des Antragstellers, die Symptome lediglich auf eine auch mitgeteilte bakterielle Infektion des Jungen zurückzuführen, und der dagegen erhobene Einwand der Antragsgegnerin, die Wirksamkeit des Antidots Natriumthiosulfat in dem betreffenden Fall lasse sich bei dieser Deutung nicht erklären) kann mangels Erheblichkeit dahinstehen.“

Die Beklagte hat im Berufungsverfahren nichts vorgetragen, was eine andere Beurteilung rechtfertigen könnte.

dd) Der weitere veröffentlichte Fall vom 6. Juli 2017 von Konstantos A. („An unusual presentation of chronic cyanide toxicity from self-prescribed apricot kernel extract“; Bl. 978 ff. d. GA Bd. VI) betrifft einen äußerlich gesunden 67-jährigen Mann aus Australien, der über einen Zeitraum von fünf Jahren täglich drei Tabletten Novodalin (2g/Tablette) einnahm und zwei Teelöffel (5g/Teelöffel) eines eigens zubereiteten Aprikosenextraktes. Im Rahmen einer präoperativen Kontrolluntersuchung für eine routinemäßige Blasenspiegelung wurde festgestellt, dass er eine verminderte Sauerstoffsättigung von 89 % hatte. Symptome wies er keine auf. Die Blutanalytik zeigte einen Thiocynat-Spiegel von 521 μM (Referenzintervall für Nichtraucher 20-80 μM) und einen Gesamtcyanidwert von 1,6 mg/L (Referenzintervall für Nichtraucher <0,025 mg/L). Die Analyse des Novodalins ergab einen Cyanidgehalt von 220 mg/kg und des selbst hergestellten Extraktes von 1600 mg/kg Cyanid. Der Patient hat in einem Zeitraum von fünf Jahren täglich etwa 17,32 mg Cyanid oral aufgenommen.

Auch dieses Fallbeispiel erweist sich als nicht repräsentativ. Nach dem Vorbringen des BfArM unter Punkt 3.4 seiner Stellungnahme vom 13. Oktober 2015 (Bl. 179 d. GA Bd. I) im Zusammenhang mit dem Fall des 4-jährigen Jungen (s.o.) enthalte das Produkt Novodalin Amygdalin in einer Reinheit von 99,5 % und sei somit mit dem Amygdalin des Klägers vergleichbar. Im vorliegenden Fall kann eine solche Vergleichbarkeit schon deswegen nicht angenommen werden, da der Reinheitsgrad und die Herkunft des im Ausland - hier Australien - verwendeten Novodalins nicht bekannt sind. Im Übrigen scheitert eine Vergleichbarkeit auch daran, dass der Patient in der beschriebenen Fallstudie neben drei Tabletten Novodalin (2g/Tablette) täglich noch zwei Teelöffel (5g/Teelöffel) eines eigens zubereiteten Aprikosenextraktes eingenommen hat. Ergänzend ist anzumerken, dass trotz der festgestellten verminderten Sauerstoffsättigung (89 %) der Patient nach eigenen Angaben keinerlei Symptome aufwies und angab, 70 km pro Woche Fahrrad zu fahren.

ee) Soweit die Beklagte auf einen weiteren Fall einer 73-jährigen Patienten mit Pankreaskarziom und metastatischer Erkrankung der Leber und Lunge hinweist, die nach der gleichzeitigen Einnahme von drei Tabletten Amygdalin 500 mg mit schweren Nebenwirkungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde (veröffentlich am 26.7.2017 v. Papdopoulos „Physician Beware: Severe Cyanide Toxicity from Amygdalin Tablets Ingestion“; Bl. 981 d. GA Bd. VI), weist dieses Fallbespiel ebenfalls keine vergleichbare Grundlage auf, da die Qualität des hier im Ausland verwendeten Amygdalins nicht bekannt ist und die Patientin drei Tabletten gleichzeitig eingenommen hat, wodurch es zu einer Überdosis kam. Sofern die Beklagte in diesem Zusammenhang auf mögliche Fehlanwendungen und dessen Folgen hinweist, wird auf die Ausführungen unter 2. a) verwiesen.

2. Nachdem die Rechtslage sich insoweit geändert hat, dass § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG bei der Nutzen-Risiko-Abwägung nunmehr auch bestimmte Fehlanwendungen (Überdosierung, Fehlgebrauch, Missbrauch und Medikationsfehler, vgl. BT-Drs. 17/9341, S. 47, 65 zum Begriff der Fehlanwendungen im AMG)einbezieht (vgl. Kloesel/Cyran, AMG, 136. AL Juni 2020, § 69 Rn. 31), liegen die Tatbestandsvoraussetzungen hierfür bereits nicht vor (hierzu unter a)). Im Übrigen wäre die Unterlassungsverfügung auch ermessensfehlerhaft (hierzu unter b)).

a) Die Tatbestandsvoraussetzungen für eine drohende Fehlanwendung sind nicht erfüllt.

Dabei sind angesichts der durch die Rechtslagenänderung entstandenen erheblichen Weite der Eingriffsgrundlage bereits auf der Tatbestandsseite erhöhte Anforderungen an die Konkretheit der Anhaltspunkte für ein Risiko außerhalb des bestimmungsgemäßen Gebrauchs liegender Fehlanwendungen zu stellen, da sich sonst bei einer derart weitgefassten Eingriffsnorm letztlich das Inverkehrbringen aller Arzneimittel verbieten ließe. Es kann jedoch nicht in allen Fällen einer befürchteten Fehlanwendung des Arzneimittels bereits ein Verkehrsverbot zu rechtfertigen sein, da dies sinnwidrig wäre (hierzu im Einzelnen: NdsOVG, Beschl. v. 25.11.2015 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 17 ff.). Soweit die Beklagte dem entgegenhält, dass diese erhöhten Anforderungen nicht nachvollziehbar seien, da es im Tatbestand immer noch um eine Nutzen-Risiko-Bilanz gehe, die für einschränkende Überwachungsmaßnahmen negativ ausfallen müsse, greift dieses Vorbringen nicht durch. Bei der nunmehr so weit gefassten Eingriffsgrundlage des § 69 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AMG könnten insbesondere solche Arzneimittel, die einen geringen bzw. keinen nachgewiesenen Nutzen - wie hier - haben, immer ohne Weiteres im Rahmen einer negativen Nutzen-Risiko-Abwägung verboten werden. Um gerade ein solches sinnwidriges und wohl auch unverhältnismäßiges Ergebnis zu vermeiden, sind konkrete Anhaltspunkte für die Fehlanwendung erforderlich. Denn erst, wenn der konkrete Verdacht von Fehlanwendungen besteht, ist im zweiten Schritt festzustellen, ob die Risiken gegenüber dem therapeutischen Nutzen überwiegen. Ziel der gesetzlichen Änderung war es im Übrigen nicht, Arzneimittel schneller aus dem Verkehr ziehen zu können, sondern schädliche Wirkungen von Arzneimitteln zum Schutz der öffentlichen Gesundheit umfassend aufklären zu können, was nur dann möglich ist, wenn nicht nur die Nebenwirkungen bei bestimmungsgemäßen Gebrauch, sondern auch bei Fehlanwendungen erfasst werden.

Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte für Fehlanwendungen (Überdosierung, Fehlgebrauch, Missbrauch und Medikationsfehler) der streitgegenständlichen Kapseln, auf die die Beklagte allein abstellt, vor. Dabei kommt es vorliegend nur auf solche in Bezug auf das konkrete Präparat des Klägers an. Wie auch beim bestimmungsgemäßen Gebrauch reichen reine Vermutungen in Bezug auf die befürchtete Fehlanwendung nicht aus (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 25.11.2015 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 65).

Konkrete Anhaltspunkte für eine drohende Überdosierung der streitgegenständlichen Kapseln liegen nicht vor. Eine Überdosierung läge vor, wenn die eingenommene Menge des Medikaments die empfohlene Einzel- und/oder Tagesdosis - 3 x 1 Kapsel zu jeder Mahlzeit - überschreitet (vgl. GVP-Modul VI. A.2.1.2 (Stand: 22.11.2017); Schickert, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 4 Rn. 98). Es ist nicht ersichtlich, dass den Patienten des Klägers eine solche Gefahr droht. Soweit die Beklagte auf den Fall einer 73-jährigen Patientin hinweist, die nach der gleichzeitigen Einnahme von drei Tabletten Amygdalin 500 mg mit schweren Nebenwirkungen ins Krankenhaus eingeliefert wurde (veröffentlich am 26.7.2017 v. Papdopoulos „Physician Beware: Severe Cyanide Toxicity from Amygdalin Tablets Ingestion“; Bl. 981 d. GA Bd. VI), können aus diesem Fallbeispiel keine Rückschlüsse auf eine drohende Fehlanwendung der streitgegenständlichen Präparate gezogen werden. Insbesondere sind die genauen Umstände der sich im Ausland zugetragenen Überdosierung nicht bekannt. Der Kläger wirkt einer solchen Überdosierung auch durch seinen Hinweis in dem zwischenzeitlich gefertigten Beipackzettel entgegen, wonach als Standarddosierung „3 x 1 Kps. zu jeder Mahlzeit“ aufgeführt wird. Weiter wird unter dem Punkt „Überdosierung/unterlassene Einnahme“ u.a. aufgeführt, keinesfalls eigenmächtig die Dosierung nach einer ausgelassenen Einnahme zu erhöhen, sondern den Arzt oder Therapeuten zu fragen.

Für die Annahme eines Fehlgebrauchs fehlt es ebenfalls an konkreten Anhaltspunkten. Zu Recht weist das BfArM in seiner Stellungnahme vom 29. August 2017 unter Punkt 1.8 (Bl. 746 d. GA Bd. V) darauf hin, dass der Fehlgebrauch solche Situationen umfasst, in denen das Arzneimittel absichtlich und in unangemessener/ungeeigneter Weise entgegen der zugelassenen Indikation angewendet wird (vgl. GVP-Modul VI. A.2.1.2 (Stand: 22.11.2017); Schickert, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 4 Rn. 98). Davon kann dann ausgegangen werden, wenn die zur oralen Einnahme vorgesehenen streitgegenständlichen Tabletten und Tropfen anders als vorgesehen (z.B. intravenös oder in andere Körperteile) eingenommen werden oder z.B. ein Beruhigungsmittel als Schlankheitsmittel verwendet wird. Dass eine solche Gefährdung bei den Patienten des Klägers droht, ist nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden.

Dass eine konkrete Gefahr für den Missbrauch des streitgegenständlichen Präparats bei den Patienten des Klägers bestehen könnte, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Ein Missbrauch ist dann anzunehmen, wenn das Arzneimittel dauerhaft, zeitweise oder absichtlich so verwendet wird, dass damit physische oder psychische Schäden verbunden sind (vgl. GVP-Modul VI. A.2.1.2 (Stand: 22.11.2017); Schickert, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 4 Rn. 98). Hierfür sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Die Vermutung, dass die Patienten in suizidaler Absicht etwa mehrere Kapseln auf einmal zu sich nehmen, ist lediglich theoretisch-abstrakter Natur und wird nicht näher dargelegt.

Auch der Vortrag der Beklagten, es komme zu Medikationsfehlern durch die verschreibenden Ärzte oder Verbraucher, führt nicht zu der Annahme eines drohenden Fehlgebrauchs. Ein Medikationsfehler ist jeder unbeabsichtigte Fehler in der Verschreibung, der Abgabe oder Verabreichung eines Arzneimittels, sowohl unter der Kontrolle des medizinischen Fachpersonals als auch unter der des Verbrauchers. Dazu gehört jedes vermeidbare Ereignis, das zu einem ungeeigneten Arzneimittelgebrauch führt (vgl. GVP-Modul VI. A.2.1.2 (Stand: 22.11.2017); Schickert, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 4 Rn. 98).

Die von der Beklagten genannten Fälle, in denen Ärzte (vor allem H. und I.) ihren Patienten mehr als die Einnahme von drei Kapseln täglich empfohlen haben (dokumentiert durch die vorgelegten Rezepte (Bl. 754 ff. d. GA Bd. V), denen keine oder höhere Dosierungsangaben zu entnehmen sind), bieten keine Grundlage für die Annahme von Medikationsfehlern. Von einem Medikationsfehler sind nur unbeabsichtigte Fehler in der Verschreibung umfasst. Wenn diese behandelnden Ärzte eine höhere Dosis als den bestimmungsgemäßen Gebrauch verordnet haben, erfolgte dies - mangels jeglicher anderer Anhaltspunkte - jedoch nicht unabsichtlich, sondern bewusst. Eine solche bewusste Abweichung fällt aber unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Verantwortungssphären der Ärzte einerseits und der pharmazeutischen Unternehmer bzw. (hier) Apotheker andererseits sowie der ärztlichen Therapiefreiheit in aller Regel ausschließlich in die Verantwortungssphäre des Arztes. Es geht dann nicht mehr um schädliche Wirkungen „des Medikaments“, weil den entscheidenden Verursachungsbeitrag für eine potentielle schädliche Auswirkung der Arzt setzt. Einer solchen ärztlichen „Fehlanwendung“ kommt in Bezug auf das Medikament nur dann Relevanz zu, wenn sie gleichsam im Medikament angelegt oder auf sonstige Weise durch den pharmazeutischen Unternehmer bzw. (hier) den Apotheker mit verursacht ist. Dafür fehlt es im hier zu entscheidenden Fall aber an hinreichenden Anhaltspunkten. Unbeschadet dessen dürfte unter solchen Umständen ohnehin vielfach bereits der Ausnahmefall begründet sein, dass die Fehlanwendung des Arzneimittels als bestimmungsgemäßer Gebrauch anzusehen ist (vgl. im Einzelnen unter I. 1.).

Die Gefahr eines Medikationsfehlers durch die Verbraucher ist ebenfalls nicht hinreichend plausibel. Die hierfür von der Beklagten genannten Fallbeispiele, in denen es durch die Kombination der Amygdalin-Behandlung mit dem Kauen bitterer Aprikosenkerne und Bittermandeln (Fallbeispiel 4-jähriger intoxikierter Junge) bzw. die Einnahme eines Aprikosenextraktes (Fallbeispiel des 67-jährigen Mannes aus Australien) sowie die Kombination mit anderen ß-Glocosidase-haltigen Lebensmitteln zu negativen körperlichen Auswirkungen gekommen ist, begründen nicht die Annahme eines drohenden Medikationsfehlers. Es ist bereits unklar, welche weiteren Umstände und Hintergründe vorlagen, als es zu diesen fehlerhaften Kombinationen kam.Im Übrigen wirkt der Kläger einer derartigen Fehlanwendung auch aktiv entgegen, in dem er in seinem seit November 2016 gefertigten Beipackzettel unter dem Punkt „Wechselwirkungen“ darauf hinweist, während der Behandlung keine bitteren Aprikosenkerne, bitteren Mandelkerne, Maniok, Leinsamen oder andere Lebensmittel, in denen amygdalin-spaltendes Enzym (Emulsin/Betaglucosidasen) enthalten ist, zu essen, ohne den Arzt darüber zu informieren. Damit werden die Patienten über die Wechselwirkungen ausdrücklich informiert. Der Kläger hat zudem in der mündlichen Verhandlung versichert, das Amygdalin nur auf Vorlage eines ärztlichen Rezepts abzugeben. Wenn sich Patienten unmittelbar nach dem Amygdalin bei ihm erkundigten, gebe er eine kurze Information, allerdings verkürzt, weil er darauf hinweise, dass die Verschreibung durch einen Arzt erforderlich sei. Soweit die Beklagte einen E-Mail-Verkehr zwischen dem Kläger und einem vermeintlichen Patienten im Mai 2017 beschreibt (vgl. Bl. 744, 923 d. GA Bd. V) und vorträgt, es habe keine Aufklärung stattgefunden, greift dieses Vorbringen nicht durch. Der vermeintliche Patient ist nur an Versandinformationen interessiert gewesen. Diese hat der Kläger erteilt und auf die Notwendigkeit zur Vorlage eines ärztlichen Rezepts hingewiesen. Zu einer Bestellung ist es nicht gekommen. Im Übrigen hatte der Kläger zu diesem Zeitpunkt bereits den Beipackzettel eingeführt, der einer Bestellung sicherlich beigefügt worden wäre. Jedenfalls liegen keine Anhaltspunkte für eine gegenteilige Annahme vor.

Anhaltspunkte für eine Fehlanwendung der streitgegenständlichen Tropfen sind nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden.

b) Im Übrigen wäre bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 69 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AMG im Hinblick auf drohende Fehlanwendungen die Unterlassungsverfügung vom 22. Juni 2015 ermessensfehlerhaft (§ 114 VwGO). Es läge nämlich jedenfalls ein Fall der Ermessensüberschreitung vor. Die Untersagungsverfügung wäre nicht erforderlich, da als milderes und gleichwirksames Mittel (weiterhin) die Auferlegung von Etikettierungs-, Warn- oder sonstigen Informations- und Beratungspflichten in Betracht käme (vgl. NdsOVG, Beschl. v. 29.9.2016 - 13 ME 210/15 -, juris Rn. 75). Dadurch ließe sich eine fundierte Aufklärung der Patienten über mögliche befürchtete Fehlanwendungen insbesondere im Hinblick auf Überdosierungen oder Wechselwirkungen mit anderen Lebensmitteln oder Präparaten sicherstellen. Dies hat der Kläger zwischenzeitlich ohne Aufforderung mit dem eingeführten Beipackzettel auch jedenfalls im Ansatz umgesetzt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.