Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.08.2023, Az.: 13 ME 143/23

Abschiebungsandrohung; Ausweisung; Beschwerde; anderer Mitgliedstaat; subsidiärer Schutz; vorläufiger Rechtsschutz; Berücksichtigung der Zuerkennung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat bei Erlass einer aufenthaltsrechtlichen Abschiebungsandrohung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.08.2023
Aktenzeichen
13 ME 143/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 32491
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:2023:0830.13ME143.23.00

Verfahrensgang

vorgehend
VG Oldenburg - 06.07.2023 - AZ: 11 B 3314/22

Fundstellen

  • AUAS 2023, 218-221
  • InfAuslR 2024, 156-158

Tenor:

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 6. Juli 2023 teilweise geändert und wie folgt neu gefasst:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Juli 2022 (VG Oldenburg, 11 A 2128/22) gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Antragsgegners vom 7. Juli 2022 wird angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen werden dem Antragsteller zu 3/4 und dem Antragsgegner zu 1/4 auferlegt.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - 11. Kammer - vom 6. Juli 2023 hat nur in dem im Tenor bezeichneten Umfang Erfolg und führt insoweit zur teilweisen Änderung der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung. Im Übrigen ist die zulässige Beschwerde unbegründet.

1. Das Verwaltungsgericht hat es zu Recht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Juli 2022 (VG Oldenburg, 11 A 2128/22) gegen die für sofort vollziehbar erklärte Ausweisung im Bescheid des Antragsgegners vom 7. Juli 2022 (Blatt 611 ff. der Beiakte 1/III) wiederherzustellen.

Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage ganz oder teilweise wiederherstellen. Ist - wie hier - die sofortige Vollziehung von der Behörde den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügend angeordnet worden, so setzt die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO über die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das vorrangig öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 16.3.2004 - 8 ME 164/03 -, NJW 2004, 1750 - juris Rn. 16 m.w.N.). Dem öffentlichen Vollzugsinteresse kann dabei überhaupt nur dann Vorrang eingeräumt werden, wenn der angefochtene Verwaltungsakt voraussichtlich auch im Hauptsacheverfahren Bestand haben, mithin sich als rechtmäßig erweisen wird. Darüber hinaus muss das von der Behörde geltend gemachte besondere, also über das allgemeine Interesse am Vollzug eines Verwaltungsaktes hinausgehende Vollzugsinteresse tatsächlich vorliegen. Schließlich sind in einer Folgenabwägung gegenüberzustellen die konkreten Nachteile für die gefährdeten Rechtsgüter bei einem Aufschub des Vollzugs, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt nachträglich als rechtmäßig erweist, den konkreten Folgen des Sofortvollzugs für den Antragsteller, wenn sich der angefochtene Verwaltungsakt nachträglich als rechtswidrig erweisen sollte (vgl. Senatsbeschl. v. 17.10.2018 - 13 ME 107/18 -, GewArch 2019, 45 - juris Rn. 9; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 964 ff. m.w.N.).

Nach diesen Maßstäben fällt die Abwägung zu Lasten des Antragstellers aus.

a) Bei der im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die Ausweisung als voraussichtlich rechtmäßig. Das Verwaltungsgericht hat auf den Seiten 7 bis 13 des angefochtenen Beschlusses die auf Grundlage des § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vom Antragsgegner getroffene Abwägungsentscheidung im Ergebnis zutreffend nachvollzogen. Die dagegen in der Beschwerdebegründung dargelegten Gründe, auf deren Prüfung sich der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu beschränken hat, rechtfertigen keine andere Entscheidung.

Der Antragsteller trägt insoweit vor, das Verwaltungsgericht sei davon ausgegangen, dass, nachdem er - der Antragsteller - den Strafvollzug erfolgreich absolviert und in der Jugendanstalt alle Vollzugsziele erreicht habe, eine Ausweisungsentscheidung nur noch generalpräventiv begründbar sei. Eine generalpräventive Ausweisungsentscheidung sei jedoch nur gerechtfertigt, wenn die Straftaten besonders schwer wögen, woran es im vorliegenden Fall fehle. Darüber hinaus sei eine generalpräventive Ausweisung nicht gerechtfertigt, wenn es sich bei den Anlasstaten um Straftaten handele, die nach dem Jugendstrafrecht abgeurteilt worden seien.

Diese Gesichtspunkte sind schon vom Ansatz her verfehlt und greifen auch im Ergebnis nicht durch.

aa) Das Verwaltungsgericht hat im vorliegenden Fall keineswegs die Voraussetzungen einer spezialpräventiven Ausweisung verneint. So stellt das Verwaltungsgericht auf S. 8 f. des angefochtenen Beschlusses ausdrücklich fest, von dem Antragsteller gehe weiterhin eine hinreichende Gefahr der Begehung qualifizierter Eigentumsdelikte aus, und begründet dies sodann. Unter Berücksichtigung seiner familiären und beruflichen Situation sowie seines Verhaltens in der Haft gelangt das Verwaltungsgericht beanstandungsfrei zu der Einschätzung, dass der Antragsteller nach seiner Haftentlassung aus einer günstigen Gelegenheit heraus erneut straffällig werden könne, sei in der Gesamtschau nicht nur eine entfernte Möglichkeit, sondern mindestens ernsthaft in Betracht zu ziehen, wenn nicht sogar erheblich wahrscheinlich. Die sich daran anschließenden Ausführungen zur Möglichkeit einer generalpräventiven Ausweisung stellen lediglich eine zusätzliche Begründung dar, für die das Fehlen spezialpräventiver Gründe nur unterstellt wird.

Unabhängig davon dürfte auch eine (allein) generalpräventiv begründete Ausweisung im vorliegenden Fall rechtmäßig sein. Wie der Senat in seinem Urteil vom 9. November 2022 (- 13 LB 148/22 -, juris Rn. 41 ff.) festgestellt hat, ist die Rechtmäßigkeit einer allein generalpräventiv motivierten Ausweisung anhand des Regelungssystems der §§ 53 ff. AufenthG zu überprüfen. Die den Ausweisungsanlass bildende Verfehlung des Ausländers muss eines der Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 1 oder 2 AufenthG verwirklichen, aber nicht von besonderem Gewicht sein, um eine allein generalpräventive Ausweisung zu rechtfertigen. Die Tatbestandsvoraussetzung des § 53 Abs. 1 Halbsatz 1 AufenthG ist nur erfüllt, wenn die Ausweisung, also die Beendigung des "Aufenthalts" des Betroffenen, andere Ausländer von einem Fehlverhalten ähnlicher Art und Schwere überhaupt abzuhalten vermag, ihr also die für eine Generalprävention erforderliche allgemeine verhaltenssteuernde Wirkung im Hinblick auf andere Ausländer zukommen kann. Dies wird ausnahmsweise bei einem allein singulären Fehlverhalten mit maßgeblich individueller Prägung zu verneinen sein. Die im vorliegenden Fall vom Antragsteller u.a. begangenen Eigentums- und BTM-Delikte sind hingegen einer Verhaltenssteuerung durch ausländerrechtliche Sanktionen zugänglich. Das gilt auch hinsichtlich Straftaten, die nach dem Jugendstrafrecht abgeurteilt worden sind. Gerade das Jugendstrafrecht baut auf dem Erziehungsgedanken auf. Legt man dies zugrunde, so dürften andere Jugendliche und Heranwachsende für die abschreckende Wirkung der gegen Dritte verhängten ausländerrechtlichen Sanktionen besonders empfänglich sein.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass der Antragsteller durch seine Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren wegen diverser Straftaten zumindest ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und nicht lediglich ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG erfüllt. "Eine" Verurteilung im Sinne des § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG liegt auch vor, wenn nach § 31 Abs. 1 und 2 JGG eine einheitliche Jugendstrafe (Einheitsjugendstrafe) gebildet worden ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.2.2018 - 3 B 11.16 -, juris Rn. 31; Bayerischer VGH, Urt. v. 28.6.2016 - 10 B 15.1854 -, juris Rn. 35; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 13.4.2016 - 18 E 1318/14 -, juris Rn. 3). Denn in Anbetracht der Tatsache, dass nach § 31 JGG eine stets einheitliche Jugendstrafe - ohne gesonderte Ausurteilung der einzelnen Strafmaße - gebildet wird, ist ein Abstellen auf die Einzelverurteilungen von vorneherein nicht möglich. Gemäß § 31 Abs. 1 und 2 JGG setzt das Gericht, wenn ein Jugendlicher mehrere Straftaten begangen hat, nur einheitlich Erziehungsmaßregeln, Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe fest. Ist gegen den Jugendlichen wegen eines Teils der Straftaten bereits rechtskräftig die Schuld festgestellt oder eine Erziehungsmaßregel, ein Zuchtmittel oder eine Jugendstrafe festgesetzt worden, aber noch nicht vollständig ausgeführt, verbüßt oder sonst erledigt, so wird unter Einbeziehung des Urteils in gleicher Weise nur einheitlich auf Maßnahmen oder Jugendstrafe erkannt. "Eine" Jugendstrafe im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist daher die letzte - einheitliche - Verurteilung (vgl. Senatsbeschl. v. 15.3.2019 - 13 LA 539/18 -, V.n.b., Umdruck S. 5; Hessischer VGH, Beschl. v. 15.7.2013 - 3 B 1429/13 -, juris Rn. 3; GK-AufenthG, § 53 Rn. 103 (Stand: Juni 2007)).

bb) Die Ausweisung bleibt durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes an den Antragsteller durch die ungarischen Behörden am 22. Dezember 2009 (vgl. den Bescheid des BAMF v. 17.2.2015, Blatt 17 ff. der Beiakte 1/I) unberührt. Insbesondere ist die Ausweisung nicht am besonderen Maßstab des § 53 Abs. 3a AufenthG in der zuletzt mit Wirkung vom 31. Dezember 2022 durch Art. 1 Nr. 10 Buchst. a des Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 21. Dezember 2022 (BGBl. I S. 2847) geänderten Fassung zu messen. Diese Vorschrift setzt voraus, dass der Antragsteller "im Bundesgebiet die Rechtsstellung ... eines subsidiär Schutzberechtigen" im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG genießt. Das ist hier nicht der Fall. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entfaltet die Zuerkennung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union auch keine umfassende Bindungswirkung, sondern führt lediglich zu einem Verbot der Abschiebung in den Herkunftsstaat (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.6.2014 - BVerwG 10 C 7.13 -, juris Rn. 28 ff.; so auch BVerfG, Kammerbeschl. v. 13.9.2020 - 2 BvR 2082/18 -, juris Rn. 28 m.w.N.; vgl. zur näheren Begründung bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes: VG München, Urt. v. 9.7.2021 - M 11 K 18.31931 -, juris Rn. 48; a.A. offenbar VG Düsseldorf, Urt. v. 4.8.2021 - 16 K 1148/21.A -, juris Rn. 101).

b) Bedenken gegen das Bestehen eines besonderen Vollzugsinteresses oder das Ergebnis der Folgenabwägung hinsichtlich der Ausweisung sind mit der Beschwerdebegründung nicht vorgetragen worden.

2. Gesichtspunkte, die die Festsetzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots von fünf Jahren betreffen, enthält die Beschwerdebegründung ebenfalls nicht.

3. Das Verwaltungsgericht hat es allerdings zu Unrecht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Juli 2022 gegen die kraft Gesetzes sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung im Bescheid des Antragsgegners vom 7. Juli 2022 anzuordnen.

Dem steht nicht entgegen, dass die Abschiebungsandrohung durch das nachfolgende Asylverfahren gegenstandslos geworden wäre, denn auch das Verwaltungsgericht geht zu Recht von einer weiterhin belastenden Wirkung dieser Verfügung aus. Jedenfalls bei Aufhebung des noch nicht bestandskräftigen ablehnenden Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Februar 2023 (vgl. Blatt 34 der Gerichtsakte VG Oldenburg, 7 B 566/23) im derzeit noch laufenden Asylklageverfahren (VG Oldenburg, ) käme der Abschiebungsandrohung im hier angefochtenen Bescheid des Antragsgegners fraglos eine eigenständige Bedeutung zu.

Die gerichtliche Entscheidung über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO setzt eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung voraus. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass ihr Rechtsbehelf offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet (vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.5.2004 - 2 BvR 821/04 -, NJW 2004, 2297, 2298 - juris Rn. 20; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl. 2017, Rn. 970 ff. m.w.N.). Dagegen überwiegt das Interesse an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (vgl. BVerwG, Beschl. v. 20.10.1995 - BVerwG 1 VR 1.95 -, juris Rn. 3). Bleibt der Ausgang des Verfahrens in der Hauptsache bei der in dem Aussetzungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 11.9.1998 - BVerwG 11 VR 6.98 -, juris Rn. 4) jedoch offen, kommt es auf eine reine Abwägung der widerstreitenden Interessen an (vgl. BVerwG, Beschl. v. 25.6.2019 - BVerwG 1 VR 1.19 -, NVwZ-RR 2019, 971 - juris Rn. 6; Senatsbeschl. v. 10.3.2020 - 13 ME 30/20 -, juris Rn. 7).

Der Ausgang des Klageverfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist insoweit offen, als sich die Klage gegen den in der Abschiebungsandrohung allein genannten Abschiebezielstaat Libanon richtet (a)). Die danach gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt in dem hier zu beurteilenden Einzelfall zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers (b)).

a) Ausweislich der Feststellung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 17. Februar 2015 (Blatt 17 ff. der Beiakte 1/I) hat der Antragsteller bereits am 22. Dezember 2009 in Ungarn subsidiären Schutz erhalten. Für eine zwischenzeitliche Aufhebung dieses Schutzstatus durch die ungarischen Behörden ist nichts ersichtlich. Der auf den Antrag des Antragstellers ergangene neuerliche (ablehnende) Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Februar 2023 (Blatt 34 der Gerichtsakte VG Oldenburg, 7 B 566/23) enthält ebenfalls keine ausdrückliche Aufhebung des durch die ungarischen Behörden zuerkannten subsidiären Schutzes. Dort wird lediglich auf S. 5 f. unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 19. März 2019 (Rs. C-297/17 u.a.) - und wohl auch die weitere Entscheidung vom 13. November 2019 (Rs. C-540/17 u.a.) - die Bindungswirkung der Schutzgewährung durch die ungarischen Behörden verneint, weil durch rechtskräftig gewordenes Urteil des Verwaltungsgerichts Oldenburg in dem Verfahren 12 A 2555/15 festgestellt worden sei, dass dem Antragsteller in Ungarn eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC drohe.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entfaltet die Zuerkennung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zwar keine umfassende Bindungswirkung, führt aber zu einem Verbot der Abschiebung in den Herkunftsstaat (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.6.2014 - BVerwG 10 C 7.13 -, juris Rn. 28 ff.; so auch BVerfG, Beschl. v. 13.9.2020 - 2 BvR 2082/18 -, juris Rn. 28 m.w.N.; vgl. zur näheren Begründung bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes: VG München, Urt. v. 9.7.2021 - M 11 K 18.31931 -, juris Rn. 48; a.A. offenbar VG Düsseldorf, Urt. v. 4.8.2021 - 16 K 1148/21.A -, juris Rn. 101), hier den Libanon, das arg. e contrario § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eine gerade und nur auf diesen Staat bezogene Abschiebungsandrohung ausschließt. Die Frage, ob bei Bestehen einer Gefahr im Sinne des Art. 4 GRC in dem anderen Mitgliedstaat auf Antrag nicht nur ein erneutes Asylverfahren im Bundesgebiet durchzuführen, sondern die Frage internationalen Schutzes durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ergebnisoffen zu prüfen ist, sieht das Bundesverwaltungsgericht durch den Beschluss des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 13. November 2019 (C-540/17 u.a.) offensichtlich noch nicht als hinreichend geklärt an und hat diese Frage zum Gegenstand einer weiteren Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gemacht (vgl. Beschl. v. 7.9.2022 - BVerwG 1 C 26.21 -, juris). Bis zur Klärung dieser Frage muss es daher als offen angesehen werden, ob die Zuerkennung subsidiären Schutzes durch einen Mitgliedstaat, hier Ungarn, hinsichtlich eines bestimmten Abschiebezielstaats, hier Libanon, für die deutschen Behörden Bindungswirkung entfaltet oder durch einen die Zuerkennung subsidiären Schutzes ablehnenden Bescheid deutscher Behörden, hier des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Februar 2023, untergegangen oder obsolet geworden ist.

b) Die danach gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen führt im vorliegenden konkreten Einzelfall zu einem Überwiegen des Aussetzungsinteresses des Antragstellers. Die öffentlichen Interessen an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens haben hinter die widerstreitenden privaten Interessen des Antragstellers am vorläufig weiteren Verbleib im Bundesgebiet zurückzutreten. Denn die Folgen und erheblichen Nachteile für den Antragsteller im Falle einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung und Abschiebung in den Libanon sind deutlich gravierender als die derzeit auch aufgrund seiner Inhaftierung als reduziert anzusehende Gefahr erneuter strafrechtlicher Verfehlungen des Antragstellers im Bundesgebiet.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO.

III. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG sowie Nrn. 8.2 und 1.5 Satz 1 Halbsatz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).