Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 30.11.2022, Az.: 1 ME 84/22

Bebauungsplan; Einstellplatz; Garage; Gebot der Rücksichtnahme; Ruhezone (rückwärtige); Rückwärtige Bebauung; Stellplatz; Stellplatzlärm; Vorbelastung; Wohnruhe

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
30.11.2022
Aktenzeichen
1 ME 84/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59714
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 12.07.2022 - AZ: 2 B 13/22

Fundstelle

  • NVwZ-RR 2023, 224-225

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ob das Gebot der Rücksichtnahme durch die Anordnung von Stellplätzen im rückwärtigen Grundstücksbereich verletzt ist, beurteilt sich in erster Linie nach den Festsetzungen eines für diesen Bereich geltenden Bebauungsplans (Fortführung der Senatsrechtsprechung, vgl. Senatsbeschl. v. 19.1.2021 - 1 ME 161/20 -, BauR 2021, 804 = ZfBR 2021, 451 = juris Rn. 9 m.w.N.; v. 24.2.2022 - 1 ME 186/21 -, BauR 2022, 743 = juris Rn. 6).

2. Erlaubt der Bebauungsplan ohne anderweitige Regelungen für den ruhenden Verkehr eine Bebauung bis an die rückwärtige Grundstücksgrenze heran, ist damit auch die Entstehung der notwendigen Stellplätze im rückwärtigen Bereich im Plan angelegt.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Beigeladenen wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Osnabrück - 2. Kammer - vom 12. Juli 2022 geändert.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen im Beschwerdeverfahren sind erstattungsfähig; im Übrigen sind sie nicht erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 12.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragsteller wenden sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit 4 Wohneinheiten und 6 Stellplätzen; sie fürchten insbesondere Lärm- und Geruchsbelästigungen durch die Anordnung der Stellplätze im rückwärtigen Grundstücksbereich.

Die Antragsteller sind Eigentümer der mit Wohnhäusern bebauten Grundstücke H. 11 und A-Straße im Stadtgebiet der Antragsgegnerin. Zwischen der Rückseite des Wohnhauses A-Straße, an der sich die nach Norden ausgerichtete Terrasse befindet, und der hinteren Grundstücksgrenze liegen etwa 5 m. Daran grenzt das 592 m² große Vorhabengrundstück der Beigeladenen (I.) an. Westlich des Vorhabengrundstücks liegt das Grundstück Bergstraße 11. Alle Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans Nr. 145 „Bergstraße“ der Antragsgegnerin vom 18. November 1971, der für sie ein allgemeines Wohngebiet festsetzt und eine Bebauung im hinteren Grundstücksbereich bis an die Grundstücksgrenzen heran erlaubt. Gemäß § 2 der textlichen Festsetzungen dürfen die mehrgeschossigen Bauteile eine Bautiefe von 13 m nicht überschreiten. Die Firstrichtung ist parallel zur Bergstraße festgesetzt, wobei nach § 6 der textlichen Festsetzungen für eine Drehung um 90 Grad im Einzelfall eine Ausnahme zugelassen werden kann.

Unter dem 24. Februar 2022 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen im vereinfachten Verfahren eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses bestehend aus Keller-, Erd- und Dachgeschoss mit einer Bautiefe von knapp 26 m; die Firstrichtung verläuft unter Erteilung einer Ausnahme nach § 31 Abs. 1 BauGB senkrecht zur Bergstraße. 5 der 6 genehmigten Stellplätze sollen an der rückwärtigen Grundstücksgrenze liegen und über eine etwa 32 m lange und 2 m breite Zufahrt entlang der östlichen Grundstücksgrenze erreicht werden. Zwischen dem Wohnhaus und den Stellplätzen ist eine etwa 13,60 x 5 m große Rangierfläche vorgesehen. Dagegen erhoben die Antragsteller einen bislang unbeschiedenen Widerspruch und beantragten beim Verwaltungsgericht die Anordnung dessen aufschiebender Wirkung.

Mit dem von der Beigeladenen angegriffenen Beschluss vom 12. Juli 2022 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragsteller gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung angeordnet. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, der gerichtliche Eilantrag sei auch ohne vorherigen Antrag bei der Antragsgegnerin auf Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung zulässig; er sei auch begründet. Dahinstehen könne, ob die bezüglich der Firstrichtung erteilte Ausnahme, die Berechnung der Grund- und Geschossflächenzahl und die Gebäudetiefe von knapp 26 m rechtmäßig seien, weil die diesbezüglichen Festsetzungen des Bebauungsplans nicht nachbarschützend seien. Das Vorhaben verletze aber mit den im rückwärtigen Bereich gelegenen 5 Stellplätzen das Gebot der Rücksichtnahme. Stellplätze seien möglichst aus dem hinteren Grundstücksbereich herauszuhalten. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz liege hier nicht vor. In der unmittelbaren Umgebung existiere keine faktische Vorbelastung. Auch die im Bebauungsplan großzügig festgesetzte überbaubare Grundstücksfläche biete keinen Freibrief für eine beliebige verkehrliche Nutzung rückwärtiger Grundstücksbereiche. Der Plangeber habe zwar in § 3 der textlichen Festsetzungen Garagen an den rückwärtigen Grundstücksgrenzen für zulässig erklärt, er habe sich aber keine konkreten Gedanken zur Verortung störintensiverer Stellplätze gemacht. Die Grenze des Zumutbaren sei hier aufgrund der konkreten Anordnung der 5 Stellplätze überschritten; insbesondere liege die Terrasse der Antragsteller im A-Straße voraussichtlich nur 1 bis 2 m vom nächstgelegenen Stellplatz entfernt. Aufgrund der langen und schmalen Zufahrt sei mit häufigen Rangiervorgängen zu rechnen. Die Antragsgegnerin habe keinerlei Erkundigungen zur Intensität der Lärmbelastung angestellt und Lärmschutzmaßnahmen nicht zum Gegenstand der Baugenehmigung gemacht.

II.

Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde der Beigeladenen hat aus den fristgerecht dargelegten Gründen, auf deren Überprüfung der Senat im Beschwerdeverfahren beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), Erfolg. Die der Beigeladenen unter dem 24. Februar 2022 erteilte Baugenehmigung verletzt die Antragsteller bei summarischer Prüfung nicht in ihren nachbarlichen Rechten.

1.

Die Beigeladene wendet sich mit Erfolg gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass durch die genehmigten 5 Stellplätze im rückwärtigen Grundstücksbereich das Gebot der Rücksichtnahme aus § 30 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO verletzt sei.

Zur Anordnung von Stellplätzen und Garagen abseits von öffentlichen Verkehrsflächen gelten nach ständiger Rechtsprechung des Senats die folgenden Grundsätze, die auch das Verwaltungsgericht im Ausgangspunkt zutreffend herangezogen hat: Stellplätze und Garagen sollen grundsätzlich möglichst nah an öffentliche Verkehrsflächen herangebaut werden, um kein Störpotenzial in Ruhezonen hineinzutragen, in denen bislang keine Fahrzeugbewegungen stattfanden. Dementsprechend sollen selbst nach § 47 NBauO erforderliche Garagen und Stellplätze in der Regel nicht im Hintergarten liegen oder in das Blockinnere eines Straßenkarrees vordringen. Das gilt jedoch nur, wenn dieses Karree durch Grünflächen bzw. durch relative Wohnruhe gekennzeichnet ist. Was danach bei Abwägung der konkurrierenden Nutzungsinteressen dem Bauherrn gestattet bzw. seinem Nachbarn zugemutet werden kann, richtet sich zum einen nach der Vorbelastung des geplanten Aufstellungsortes durch vergleichbare Anlagen, daneben und vor allem aber nach den Festsetzungen eines für diesen Bereich geltenden Bebauungsplans (Senatsbeschl. v. 19.1.2021 - 1 ME 161/20 -, BauR 2021, 804 = ZfBR 2021, 451 = juris Rn. 9 m.w.N.).

Rücksichtslos sind die Anzahl und die Anordnung der Stellplätze nach diesen Maßgaben nicht. Das Verwaltungsgericht hat die erhebliche planerische Vorbelastung, auf die - wie die Beigeladene mit ihrer Beschwerde zu Recht geltend macht - nach der Senatsrechtsprechung in erster Linie abzustellen ist (vgl. auch Senatsbeschl. v. 24.2.2022 - 1 ME 186/21 -, BauR 2022, 743 = juris Rn. 6), nicht mit dem gebotenen Gewicht in seine Betrachtung eingestellt. Der für das Vorhabengrundstück geltende Bebauungsplan Nr. 145 „Bergstraße“ der Antragsgegnerin vom 18. November 1971 erlaubt eine Bebauung im hinteren Grundstücksbereich bis an die Grundstücksgrenze heran; dies schließt ohne anderweitige Regelungen auch Stellplätze und Garagen ein. Der Plangeber hat straßenabgewandten Grundstücksverkehr in § 3 der textlichen Festsetzungen zudem ausdrücklich zugelassen. Dort heißt es: „Garagen sind nur auf den überbaubaren Grundstücksflächen zulässig. Innerhalb dieser Flächen sind sie auch auf den seitlichen und rückwärtigen Grundstücksgrenzen zulässig.“ Daraus kann auch nicht der Schluss gezogen werden, dass der Plangeber nur - nach Auffassung des Verwaltungsgerichts deutlich weniger störintensive - Garagen, nicht aber Stellplätze im hinteren Grundstücksbereich zulassen wollte. Eine solche Differenzierung ist weder in der Rechtsprechung des Senats zur Vermeidung von Verkehr im rückwärtigen Grundstücksbereich angelegt noch ergibt sie sich hier aus den Planunterlagen. Erlaubt der Bebauungsplan eine Bebauung bis an die rückwärtige Grundstücksgrenze heran, ist damit ohne anderweitige Regelungen für den ruhenden Verkehr auch die Entstehung der notwendigen Stellplätze gerade im rückwärtigen Bereich im Plan angelegt. Insoweit heißt es in der Planbegründung ohne weitere Unterscheidung, dass es die Art der Bebauung zulasse, auf allen Baugrundstücken die erforderlichen „Einstellplätze“ anzulegen. Nach alledem zielt der erkennbare planerische Wille hier darauf ab, in den rückwärtigen Grundstücksbereichen eine dichte Bebauung zu ermöglichen und nicht eine von Wohnruhe geprägte Grünfläche abzusichern. Nicht überbaubare Flächen liegen nur an den straßenseitigen Rändern der Baugrundstücke. Dass Stellplatzverkehr hier unmittelbar an der Grenze zum Grundstück der Antragsteller stattfindet, ist im Plan angelegt. Das Gebot der Rücksichtnahme ist kein Instrument zur Korrektur der Planungsabsichten der Gemeinde. Dass die nähere Umgebung zwar bereits mit rückwärtigen Grenzgaragen, nicht aber mit Stellplätzen im geplanten Umfang vorbelastet ist, tritt hinter diese erhebliche planerische Vorbelastung zurück.

Die Belastung der Antragsteller durch Auswirkungen des Stellplatzverkehrs geht auch nicht aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls über das der Nachbarschaft Zumutbare hinaus. Die Grenze des Zumutbaren (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 6.5.2019 - 1 ME 37/19 -, juris Rn. 7; v. 19.11.2021 - 1 ME 76/20 -, BauR 2022, 220 = juris Rn. 18) ist weder angesichts der Anzahl der Stellplätze noch aufgrund ihrer konkreten Anordnung auf dem Baugrundstück überschritten.

Die Anzahl von insgesamt 6 Stellplätzen bewegt sich noch im Rahmen dessen, was nach dem Bebauungsplan, dessen Ziel ausweislich seiner Begründung auch die Schaffung von Wohnraum ist, zu erwarten war. Zwar dürfte das Vorhaben in seiner genehmigten Dimension nach den Festsetzungen des Plans, der insbesondere für mehrgeschossige Bauteile nur eine Bautiefe von 13 m - statt der hier genehmigten knapp 26 m - vorsieht, nicht zu erwarten gewesen sein. Eine Ausnutzung des Vorhabengrundstücks mit vier Wohneinheiten und mithin vier bis sechs Einstellplätzen war aber bei Ausschöpfung der Maßfestsetzungen des Plans gleichwohl noch im Bereich des Möglichen; zumal die hier genehmigten vier Wohneinheiten mit 68 bis 90 m² nicht überdurchschnittlich klein sind.

Zwar ermöglicht die 32 m lange Zufahrt mit ihrer Breite von nur 2 m keinen Begegnungsverkehr, der diesbezügliche Rangierverkehr dürfte sich aber zu einem großen Teil bereits auf der Bergstraße und nicht in Grenznähe abspielen. Der von einer Wohnnutzung zugeordneten Stellplätzen zu erwartende Zu- und Abgangsverkehr ist zudem regelmäßig überschaubar; zumal bei nur 4 Wohneinheiten. Die Stellplätze sind mit einer Größe von jeweils 2,40 x 5,00 m und der davor befindlichen Rangierfläche von rund 68 m² auch ausreichend komfortabel, um ein Ein- und Ausparken ohne langwierige Rangiermanöver zu ermöglichen. Weil die Zufahrt an der Ostseite des Vorhabengrundstücks verläuft, sind auch für das Grundstück Bergstraße 11 keine unzumutbaren Beeinträchtigungen zu befürchten.

Bewegt sich damit die Anordnung der notwenigen Einstellplätze im Rahmen dessen, was der Bebauungsplan hier im allgemeinen Wohngebiet erlaubt, sind die von ihnen ausgehenden Immissionen als mit einer Wohnnutzung typischerweise verbunden grundsätzlich hinzunehmen (vgl. auch § 12 Abs. 2 BauNVO). Dies betrifft auch die von den Antragstellern im Beschwerdeverfahren befürchteten, mit der Nutzung von Parkplätzen typischerweise verbundenen Geräusche, wie das Schlagen von Autotüren, Radiomusik oder Gespräche vor dem Auto. Einer Schallimmissionsprognose bedurfte es nicht. Dass die Geräusche - insbesondere in der Nachtzeit - ein unerträgliches Ausmaß annehmen könnten, ist im Rahmen einer Wohnnutzung ebenfalls nicht zu erwarten. Die Antragsteller, die im Beschwerdeverfahren angegeben haben, dass ihr Schlafraum rückwärtig ausgerichtet sei, tragen insoweit auch keine substantiierten Befürchtungen vor. Dass sie mit ihrer Terrasse, mit der sie im Übrigen freiwillig unmittelbar an die rückwärtige Grundstücksgrenze heranrücken, derzeit an eine mit Fahrzeugbewegungen unvorbelastete Grün- und Gartenfläche grenzen, steht nicht in Frage; einen Anspruch auf Erhalt dieses status quo oder eine Gestaltung der Einstellplätze, die ähnlich vorteilhaft ist, haben sie indes nicht. Die Erwartung, der straßenabgewandte Bereich bleibe auf Dauer von emittierenden Nutzungen verschont, ist angesichts der Festsetzungen des Bebauungsplans nicht berechtigt und schließt einen Abwehranspruch der Antragsteller aus.

2.

Weitere Rechte der Antragsteller verletzt die Baugenehmigung aller Voraussicht nach nicht. Insbesondere ist das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass die Festsetzungen zur Gebäudetiefe, zur Grund- und Geschossflächenzahl sowie zur Firstrichtung hier nicht nachbarschützend sind. Insoweit nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO Bezug auf die entsprechenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts (BA S. 6 f.). Soweit die Antragsteller im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgetragen haben, die Stellfläche für Abfalleimer sei zu nah an ihr Grundstück geplant, kann der Senat schon nicht erkennen, dass der Standort durch die Baugenehmigung vorgegeben ist. Auch ihr weiterer erstinstanzlicher Vortrag, die Antragsgegnerin sei im Baugenehmigungsverfahren nicht auf ihre Einwendungen eingegangen, verhilft ihrem Eilantrag nicht zum Erfolg. Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die Bauvorlagen und zur Stellungnahme gegeben; einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Beteiligung im Baugenehmigungsverfahren hatten die Antragsteller nicht (vgl. § 68 NBauO).

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 GKG.