Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 09.04.2020, Az.: 13 PA 9/20

Keine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung durch Vollzug von Untersuchungshaft; Untersuchungshaftvollzug kein Duldungsgrund; Versagung von Prozesskostenhilfe im Eilrechtsschutz

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
09.04.2020
Aktenzeichen
13 PA 9/20
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2020, 22779
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG Braunschweig - 06.01.2020

Amtlicher Leitsatz

Der Vollzug von Untersuchungshaft begründet keine tatsächliche oder rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig - 4. Kammer - vom 6. Januar 2020 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

I. Über die vorliegende Beschwerde in Prozesskostenhilfesachen hat gemäß § 9 Abs. 3 Satz 1, 2. HS. VwGO in Verbindung mit § 76 Abs. 2 Satz 1 NJG ungeachtet der Erledigung des Eilrechtsstreits 4 B 420/19 // 13 ME 27/20 in der Hauptsache der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern zu entscheiden (vgl. Senatsbeschl. v. 13.3.2018 - 13 PA 39/18 -, juris Rn. 1 ff. m.w.N.).

II. Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe für das Eilverfahren 4 B 420/19 vor dem Verwaltungsgericht Braunschweig bleibt ohne Erfolg.

1. Das Verwaltungsgericht hat eine für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht des erstinstanzlich verfolgten Eilrechtsschutzbegehrens des Antragstellers (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) zu Recht verneint.

a) Weder der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 4 A 338/19 des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 3. Juli 2019 gerichtete Hauptantrag noch der auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Aussetzung der Abschiebung des Antragstellers nach § 60a Abs. 2 AufenthG abzielende Hilfsantrag (vgl. Antragsschrift v. 9.10.2019, Bl. 65 der GA) besaßen in der Phase bis zum Abschluss der ersten Instanz des Eilrechtsstreits durch Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 6. Januar 2020 Erfolgsaussichten. Teilweise waren diese Anträge bereits unzulässig, teilweise zulässig, aber unbegründet. Zur Vermeidung von Wiederholungen macht sich der Senat wegen der Einzelheiten die zutreffenden Erwägungen des angefochtenen Beschlusses zu Eigen und verweist deshalb auf sie (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO).

b) Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine andere Entscheidung.

Insbesondere führt der Vollzug des Untersuchungshaftbefehls des Amtsgerichts C. - 5 Gs 114/19 - vom 15. Dezember 2019 in dem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft D. 210 Js 68786/19 (vgl. Bl. 208 R, 211 und 213 der BA 002) entgegen dem Vorbringen im Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers vom 7. April 2020 (Bl. 188 R der GA) nicht etwa dazu, dass der auf vorläufige Duldung gerichtete Hilfsantrag gemessen an § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO - anders als durch das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 6. Januar 2020 entschieden - noch vor Abschluss des erstinstanzlichen Eilverfahrens "(unerkannt) erfolgreich geworden" wäre.

aa) Zum einen ist entgegen diesen Vorschriften ein Anordnungsgrund nicht glaubhaft gemacht, weil ein gerichtlicher Schutz vor Abschiebung nicht besonders dringlich erlangt werden müsste, wenn es so wäre, wie der Antragsteller vorträgt, nämlich dass der Untersuchungshaftbefehl und dessen Vollzug in jedem Fall auch die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin tatsächlich und rechtlich daran hinderten, seine Abschiebung aus der Untersuchungshaft heraus überhaupt vorzunehmen. Denn dann stünde eine im Wege vorläufigen Rechtsschutzes zu verhindernde Abschiebung nicht unmittelbar bevor (vgl. VG München, Beschl. v. 29.1.2008 - M 10 E 07.5793 -, juris Rn. 20).

bb) Zum anderen fehlt es in jedem Fall an der Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs des Antragstellers auf Aussetzung seiner Abschiebung aus § 60a Abs. 2 AufenthG.

(1) Darauf, dass der Antragsteller während des Untersuchungshaftvollzugs (ebenso wie in den Fällen eines Straf- und Maßregelvollzugs) ersichtlich daran gehindert war und ist, freiwillig nach Marokko auszureisen (vgl. hierzu Bayerischer VGH, Beschl. v. 14.2.2018 - 10 CS 18.350, 10 C 18.351 -, juris Rn. 22), kommt es bei der Prüfung von Duldungsgründen nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht an (vgl. Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 60a Rn. 22).

(2) Soweit strafvollstreckungsrechtliche Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, der Strafprozessordnung oder des Niedersächsischen Justizvollzugsgesetzes, die der Antragsteller im Übrigen nicht benannt hat, aus verfahrensrechtlichen Gründen allgemein Entscheidungen, Einvernehmen oder Zustimmungen der Strafgerichte, Strafverfolgungs- oder Strafvollstreckungsbehörden erfordern, um die erzwungene Rückführung (Abschiebung) "aus der Untersuchungshaft heraus", deren grundsätzliche Zulässigkeit etwa von § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vorausgesetzt wird (vgl. Dollinger, a.a.O., § 58 Rn. 28), betreiben zu können, dienen diese allein der Sicherstellung des staatlichen Strafanspruchs und wirkten sich im Falle einer Verweigerung der erforderlichen gerichtlichen oder behördlichen Entscheidungen allenfalls als ein den abzuschiebenden Ausländer begünstigender Reflex aus, ohne jedoch diesem ein subjektiv-öffentliches Recht zu verleihen. Ein Duldungsanspruch des Antragstellers wegen einer tatsächlichen oder rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG lässt sich daraus nicht herleiten. Das gilt insbesondere für das damals schon erreichte Stadium des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens bzw. der Erhebung der öffentlichen Klage (hier: wegen des Vorwurfs eines besonders schweren Falls des Diebstahls, vgl. Bl. 213 der BA 002), in dem vor einer Abschiebung gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft einzuholen ist, worauf sich der abzuschiebende Ausländer für Zwecke des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG angesichts der dargelegten anderweitigen Zielrichtung der Norm jedoch nicht berufen kann (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 28.9.2017 - 13 ME 244/17 -, juris Rn. 13; zu ähnlichen Erfordernissen aus § 456a Abs. 1 StPO in den Fällen der Vollstreckung von Strafhaft und des Maßregelvollzugs vgl. Senatsbeschl. v. 9.8.2019 - 13 ME 168/19 -, V.n.b., S. 5 des Beschlussabdrucks, und v. 13.10.2017 - 13 ME 285/17 -, V.n.b., S. 4 des Beschlussabdrucks).

(3) Dass die Abschiebung des Antragstellers schließlich nach § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG deshalb auszusetzen (gewesen) wäre, weil dessen vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet würde, weil ohne dessen Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre, ist weder vorgetragen noch sonst für den Senat ersichtlich.

2. Vor diesem Hintergrund ist für die vom Antragsteller auch begehrte Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten für das erstinstanzliche Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 121 Abs. 2 (und ggf. Abs. 3) ZPO ebenfalls kein Raum.

III. Die Kostenentscheidung im Beschwerdeverfahren beruht auf §§ 154 Abs. 2, 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

IV. Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht. Für die Höhe der Gerichtskosten des Beschwerdeverfahrens gilt der streitwertunabhängige Gebührentatbestand aus Ziffer 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG (Kostenverzeichnis).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).